Zur Rolle jüdischer Frauen in der Entwicklung Sozialer Arbeit als (Frauen-) Beruf

verfasst von
  • Prof. Dr. Sabine Toppe
veröffentlicht
Jüdische Frauen spielten Ende des 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts eine zentrale Rolle innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung und bei der Gründung wie dem Aufbau professioneller Sozialer Arbeit als Frauenberuf. Wohltätigkeit hat in der jüdischen Religion einen hohen Stellenwert.

Wohltätigkeit und die Rolle jüdischer Frauen

Eine große Zahl jüdischer Frauen gelangte Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts über soziale Hilfstätigkeiten zur bürgerlichen, organisierten Frauenbewegung. Die jüdischen Religionsgrundsätze räumten Mädchen und Frauen – jüdische Mädchen waren stärker noch als nicht-jüdische bürgerlichen Konventionen unterworfen – auf dem Gebiet der Armenfürsorge und Wohltätigkeit Bewegungsfreiheit ein. Sie wandten sich häufig ehrenamtlichen sozialen Aufgaben und später, als es die Möglichkeit gab, entsprechenden Ausbildungsmöglichkeiten zu.1

Wohltätigkeit hat in der jüdischen Religion einen hohen Stellenwert und eine lange Tradition. Bedeutsam ist hier die jüdische Sozialethik, in welcher der Aspekt der Gerechtigkeit, der ‚Zedakah‘, im Vordergrund steht. Arme haben hier ein Anrecht darauf, durch Hilfe von Wohlhabenden die Möglichkeit zu erhalten, sich wieder selbst versorgen zu können und nicht durch Almosen beschämt zu werden. Und jüdische Frauen hatten das Recht, einen Teil des Familieneinkommens für wohltätige Zwecke zu verwenden.2

Für viele jüdische Mädchen und Frauen war soziales Engagement der Weg, um sich aus enger Häuslichkeit zu befreien. Als Lehrerinnen waren sie gesellschaftlich unerwünscht, solange sie nicht zum Christentum konvertierten, und „die gut ausgebaute konfessionelle Krankenpflege der evangelischen Diakonissen und der katholischen Elisabeth-Vereine“3 blieb ihnen verschlossen. Nach einer Erhebung der Frauenrechtlerin und Sozialreformerin Lina Morgenstern gab es 1892 in Berlin 30 von Jüdinnen geleitete oder mitgestaltete Vereine, die sich der sozialen Hilfstätigkeit widmeten, im Deutschen Reich waren es mehr als 600.4 Neben der praktischen Arbeit in Wohltätigkeitsvereinen schrieben die Frauen sozialpolitische Beiträge für Fachjournale. Der Blick in das Register der Zeitschrift Die Frau zeigt, dass von 1893 bis 1933 circa ein Drittel der einschlägigen Artikel von Frauen jüdischer Herkunft stammte, wie von Alice Salomon, Anna Pappritz, Adele Schreiber, Gertrud Israel, Jeanette Schwerin, Helene Simon und Henriette Fürth.5

Lina Morgenstern
Quelle: Archiv der deutschen Frauenbewegung Kassel, F1-00416
Lina Morgenstern, Quelle: Archiv der deutschen Frauenbewegung Kassel, F1-00416
Anna Pappritz
Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Anna_Pappritz_in_1904.jpg
Lizenz
Rechteangabe
  • Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Anna_Pappritz_in_1904.jpg
  • Gemeinfrei
Anna Pappritz, Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Anna_Pappritz_in_1904.jpg
Lizenz
Gemeinfrei

Jüdische Frauen in der bürgerlichen Frauenbewegung

In der bürgerlichen Frauenbewegung waren jüdische Frauen überdurchschnittlich stark repräsentiert und engagierten sich für Frauenrechte, Frauenemanzipation, Frauenbildung und -erwerbsarbeit sowie soziale Reformen. Etwa ein Drittel der deutschen Frauenrechtlerinnen war jüdischer Herkunft – bei einem Anteil der jüdischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung des Kaiserreiches von etwa ein Prozent –, und viele nahmen wichtige Positionen in der Frauenbewegung ein, wie Lina Morgenstern, Jeanette Schwerin, Alice Salomon, Berta Pappenheim, Siddy Wronsky oder Henriette Fürth. Sie stammten zum überwiegenden Teil aus Familien, die zur emanzipierten bzw. akkulturierten jüdischen Gemeinschaft gehörten.

Im Jahr 1904 gründeten Bertha Pappenheim, Henriette May und Sidonie Werner den Jüdischen Frauenbund (JFB), den Pappenheim anschließend 20 Jahre leitete. Mit der Gründung des JFB bildete sich eine eigenständige Bewegung zwischen deutschem Bürgertum und jüdischer Tradition heraus, die sich als Teil der bürgerlichen Frauenbewegung verstand.

Das Engagement jüdischer Frauen bei Gründung und Aufbau Sozialer Arbeit

Lina Morgenstern, Ehrenmitglied im Jüdischen Frauenbund,6 mobilisierte mit dem Berliner Hausfrauenverein, dem Verein der Berliner Volksküchen, dem Berliner Kinderschutzverein und dem Verein zur Rettung und Erziehung Strafentlassener minorenner Mädchen viele bürgerliche Frauen für eine soziale Hilfstätigkeit. Etwa ein Drittel der Frauen kam aus der jüdischen Mittel- und Oberschicht. Die Frauen kritisierten die uneffektive freiwillige soziale Tätigkeit ihrer Mütter und Tanten, die ungeordnete Vielfalt dieser Aktivitäten.7 Eine Kritik, die letztendlich von ehrenamtlicher Hilfstätigkeit zur professionellen Sozialen Arbeit führte, eine systematische Ausbildung sollte der laienhaften Wohlfahrtsarbeit von Frauen ein Ende bereiten. Propagiert wurde eine fachliche Ausbildung für Mädchen und Frauen, die auf gesicherten Wissensbeständen aufbauen und im Sinne jüdischer Sozialethik Not nicht vorrangig lindern, sondern durch methodisches Vorgehen Menschen in die Lage versetzen sollte, ihr Leben eigenständig zu führen.

Zu den zentralen Persönlichkeiten, die sich im Bereich der Professionalisierung sozialer Hilfstätigkeit engagierten, zählte Jeanette Schwerin, die mit ihrem Engagement als Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur, als Gründerin der Berliner Auskunftsstelle dieser Gesellschaft und als Vorsitzende des Vereins der Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit8 zu den Pionierinnen des sozialen Berufs in Deutschland gehörte. Durch die 1893 gegründeten Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit (kurz: Gruppen) wurden Jahreskurse angeboten, die Frauen zu qualifizierten Fürsorgerinnen ausbildeten. Nach dem frühen Tod von Jeanette Schwerin übernahm 1899 ihre engste Mitarbeiterin Alice Salomon die Leitung der Gruppen.

Aus den Jahreskursen der Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit entstand 1908 die erste überkonfessionelle Soziale Frauenschule in Berlin unter der Leitung von Alice Salomon, mit einer zweijährigen Ausbildung von Sozialarbeiterinnen. Im selben Jahr wurden Frauen nach langen Kämpfen die politische Versammlungs- und Vereinsfreiheit zugebilligt, das Recht einer zum Abitur führenden höheren Schulbildung, die Zulassung zum Universitätsstudium und der Zugang zu öffentlichen Ämtern in der Armen- und Waisenpflege und der Fabrikaufsicht. Die Soziale Frauenschule konnte auf das Ausbildungskonzept zurückgreifen, das sich seit 1893 in den Gruppen entwickelt hatte. In ihm verbanden sich individuelle Emanzipationswünsche von Frauen auf eine eigenständige Perspektive außerhalb beengter Familienverhältnisse mit der sozialen Perspektive, durch praktische Betätigung soziale Not zu lindern und den Gegensatz zwischen den sozialen Klassen überbrücken zu helfen.

Werbepostkarte der Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit um 1914
Schülerinnen vor der Sozialen Frauenschule in Berlin-Schöneberg

Als interkonfessionelle Schule wurde die Soziale Frauenschule Alice Salomons von vielen Frauen aus dem jüdischen Bürgertum besucht, woraus auch ein Großteil der Dozentinnen und Dozenten stammte. Zu den Frauen zählten Christinnen jüdischer Herkunft ebenso wie Frauen jüdischen Glaubens und akkulturierte jüdische Bürgerinnen. Alice Salomon konvertierte 1914 zum Protestantismus, sie „wollte für die Umsetzung ihrer Idee einer Professionalisierung für Soziale Arbeit nicht christlich konfessionelle, darüber hinaus überhaupt keine religiösen Prinzipien als verbindlich erklären, sondern allgemein humanistisch geprägte berufsethische Wertvorstellungen verwirklicht sehen“9. Viele jüdische Sozialreformerinnen legten in ihrer Arbeit mit einer meist nichtjüdischen Klientel Wert auf konfessionelle Unabhängigkeit. Bis zum Ersten Weltkrieg wurden 14 weitere Soziale Frauenschulen, unter anderem in Hamburg (1916) und München (1919), gegründet. Zahlreiche Frauen jüdischer Herkunft waren an der Gründung der Schulen beteiligt. „Im Bewußtsein dieser Frauen kam ihrer jüdischen Herkunft keine herausgehobene Bedeutung zu, ihre Benachteiligungen als Frauen und Jüdinnen überschnitten sich.“10

Um eine wissenschaftliche Fortbildung von weiblichen Führungskräften in typischen Frauenberufen (Wohlfahrtpflegerinnen, Berufsschullehrerinnen, Krankenpflegerinnen, Hauswirtschaftlerinnen) zu etablieren, wurde 1925 in Berlin von Alice Salomon die Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit mit einer eigenen Abteilung für empirische Forschung im Sinne einer Frauenhochschule gegründet. Unterstützt wurde sie von weiteren Aktiven der bürgerlichen Frauenbewegung wie Marie Baum, Gertrud Bäumer, Hildegard von Gierke, Helene Weber und Siddy Wronsky. Die Akademie war wie die Soziale Frauenschule ein Zentrum der sozial und pädagogisch engagierten Frauenbewegung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Und wie an der Sozialen Frauenschule waren auch hier zahlreiche Dozentinnen jüdischer Herkunft tätig. Für Alice Salomon war das besondere Ziel der Akademie die „Geistesschulung“, die zu einer inneren Freiheit und Selbstständigkeit in der Arbeit führen sollte, damit eine Wohlfahrtspflegerin nicht zum „erstarrten Handwerker“ würde, „der sich mit toten Werkzeugen an lebendigen Aufgaben vergreift“11.

Vertreibung, Emigration und Vernichtung

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde die Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit 1933 auf Veranlassung Alice Salomons aufgelöst, um einer Liquidierung durch die Gestapo zuvorzukommen. Die Soziale Frauenschule blieb zwar erhalten, bis 1934 wurde aber mehr als die Hälfte aller Lehrkräfte entlassen, darunter alle jüdischen Dozentinnen, und im Frühjahr 1934 war keine jüdische Schülerin mehr auf der Schule. Von insgesamt 31 Lehrenden jüdischer Herkunft an der Sozialen Frauenschule aus dem Zeitraum 1908 bis 1933 sind 16 emigriert, fünf wurden in Konzentrationslager deportiert, Überlebende sind hier nicht bekannt. Unter den Emigrantinnen sind bekannte Persönlichkeiten wie die Leiterin der Sozialen Frauenschule Alice Salomon, die Direktorin der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit Hilde Lion, die Geschäftsführerin des Bundes Deutscher Frauenvereine Emmy Wolff, die Leiterin des Archivs für Wohlfahrtspflege Siddy Wronsky und die Juristin und Vorstandsmitglied im Jüdischen Frauenbund Margarete Berent. Aus dem Kreis der Schülerinnen stammen die Mitbegründerin der Arbeiterwohlfahrt Hedwig Wachenheim sowie Dora Peyser, die persönliche Assistentin und Biografin Alice Salomons, und die Sozialarbeiterin und Wohlfahrtsdezernentin Käte Rosenheim. Sie erreichten eine bedeutende professionelle Wirksamkeit in ihren Exilländern und kehrten nur vereinzelt nach Deutschland zurück.

 

Veröffentlicht: 14. Dezember 2022
Lizenz (Text)
Verfasst von
Prof. Dr. Sabine Toppe

ist wissenschaftliche Leiterin des Alice Salomon Archivs und Professorin für Geschichte der Sozialen Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Sie hat Pädagogik studiert mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik/Sozialarbeit und promoviert zum obrigkeitsstaatlichen Mutterschaftsdiskurs im 18. Jahrhundert. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Frauenbewegung und Soziale Arbeit, Geschichte von Familie und Kindheit, Historische Geschlechterdiskurse, Sozialpädagogische Bildungsforschung.

Empfohlene Zitierweise
Prof. Dr. Sabine Toppe (2024): Zur Rolle jüdischer Frauen in der Entwicklung Sozialer Arbeit als (Frauen-) Beruf, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/zur-rolle-juedischer-frauen-der-entwicklung-sozialer-arbeit-als-frauen-beruf
Zuletzt besucht am: 09.12.2024
Lizenz: CC BY-SA 4.0
Rechteangabe
  • Prof. Dr. Sabine Toppe
  • Digitales Deutsches Frauenarchiv
  • CC BY-SA 4.0

Fußnoten

  1. 1 Fassmann, Irmgard Maya: Jüdinnen in der deutschen Frauenbewegung 1865–1919, Hildesheim u.a. 1996, S. 290.
  2. 2 Kaplan, Marion A.: Die jüdische Frauenbewegung in Deutschland. Organisation und Ziele des Jüdischen Frauenbundes 1904–1938, Hamburg 1981, S. 66 ff.
  3. 3 Fassmann, Irmgard Maya, Jüdinnen in der deutschen Frauenbewegung 1865–1919, in: Carlebach, Julius (Hg.): Zur Geschichte der jüdischen Frau in Deutschland, Berlin 1993, S. 147–165, hier S. 160.
  4. 4 Morgenstern, Lina: Frauenarbeit in Deutschland, 2. Teil: Adreßbuch und Statistik der Frauenvereine in Deutschland, Berlin 1893, S. 140‒177.
  5. 5 Boedeker, Elisabeth: Die Frau. Gesamtverzeichnis der Aufsätze, Hannover 1968, S. 161‒179.
  6. 6 Werner, Sidonie: Breslauer Frauentag, in: IFH, Beilage: Für unsere Frauen, 10. Jg., Nr. 45, 5.11.1908, S. 11.
  7. 7 Salomon, Alice: Soziale Frauenbildung, Leipzig/Berlin 1908, S. 40 ff.
  8. 8 Dies.: Jeannette Schwerin, in: Centralblatt des Bundes deutscher Frauenvereine, 1. Jg., Nr. 10, 15. Aug. 1899, S. 73‒77.
  9. 9 Zeller, Susanne: Jüdische Ethik und ihr (unbeachteter) Zusammenhang mit dem Prozess der Professionalisierung der Sozialen Arbeit in Deutschland, in: Feustel, Adriane et al. (Hg.): Die Vertreibung des Sozialen, München 2009, S. 54‒70, hier S. 57.
  10. 10 Konrad, Franz-Michael: Wurzeln jüdischer Sozialarbeit in Palästina: Einflüsse der Sozialarbeit in Deutschland auf die Entstehung moderner Hilfesysteme in Palästina, 1890‒1948, Weinheim und München 1993, S. 86.
  11. 11 Salomon, Alice: Die deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit und die Geistesschulung der Wohlfahrtspflegerinnen, in: Soziale Berufsarbeit. Organ der Arbeitsgemeinschaft der Berufsverbände der Wohlfahrtspflegerinnen, 8. Jg., Nr. 11/12, Nov./Dez. 1928, S. 2‒6, hier S. 2.

Ausgewählte Publikationen