Über Hilde Lion
Kindheit, Schulbildung und Studium
Hildegard (Hilde) Gudilla Lion wurde am 14. Mai 1893 in Hamburg als zweites von vier Kindern des Kaufmanns Eugen Lion und seiner Frau Auguste, geborene Wedeles, in einer seit vielen Generationen in Hamburg ansässigen, wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie geboren. Die Eltern ließen sich nicht lange nach der Geburt des jüngsten Kindes scheiden, die Mutter musste entsprechend der Rechtslage ihre Kinder beim Vater lassen. Hilde Lion und ihre Geschwister wuchsen unter der Obhut von Gouvernanten und Dienstmädchen auf, die Mutter hielt den Kontakt zu ihnen. Wie in der Zeit und für Mädchen ihres Standes üblich, erhielt Hilde Lion eine Lyzeumsbildung in den Unterrichtsanstalten des Klosters St. Johannes. Sie erwarb dort ihr Lehramtszeugnis und unterrichtete ab 1914 als Lehrerin und lernte „hautnah das Elend von Kindern der sozialen Unterschicht kennen“.1 Anschließend entschied sie sich für das Studium zur Wohlfahrtspflegerin, das sie von 1917 bis 1919 am neu gegründeten Sozialpädagogischen Seminar in Hamburg absolvierte und das sie mit der Qualifikation als Lehrerin und Sozialpädagogin abschloss. Diese Bildungsinstitution wurde von Gertrud Bäumer und Marie Baum, führenden Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung, geleitet; sie übten großen Einfluss auf den weiteren Weg von Hilde Lion aus und es blieb zeitlebens eine enge freundschaftliche Beziehung bestehen.
Ende 1919 begann Hilde Lion nach Ablegung des Externenabiturs ein Studium der Volkswirtschaft und Pädagogik an den Universitäten in Freiburg, Berlin und Köln. In Köln wurde sie 1924 zum Dr. rer. pol. mit der Dissertation Die klassenkämpferische und die katholisch-konfessionelle deutsche Frauenbewegung promoviert. Im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Untersuchung kam sie in persönlichen Kontakt zu bedeutenden Frauenrechtlerinnen wie Clara Zetkin, Hedwig Dransfeld und Bertha Pappenheim. Die Dissertation zählt heute noch zu den Standardwerken der Literatur der Frauenbewegung und wurde 1926 unter dem Titel Zur Soziologie der Frauenbewegung2 als Band 2 der Schriftenreihe der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit veröffentlicht.
Der Zugang zur Frauenbewegung
Das Studium im Sozialpädagogischen Seminar in Hamburg bei Gertrud Bäumer und Marie Baum prägte Hilde Lions frauenbewegten, sozialpädagogischen und politischen Auffassungen. Gertrud Bäumer war Hilde Lion das erste Mal 1916 bei einer Versammlung des Bundes Deutscher Frauenvereine (BDF) begegnet, nach einer Rede Bäumers war Lion von ihr begeistert, und das Interesse am politischen Zusammenschluss von Frauen wurde geweckt. Die öffentliche Präsentation des BDFs missfiel Hilde Lion allerdings, der Bund erschien ihr in den Formalien steif und überholt, die etablierten Vertreterinnen der Frauenbewegung argumentierten für sie weit weg vom Denken, den Themen und Problemen junger Studentinnen. „Aus einer ‚agitierenden‘ ist die Frauenbewegung zu einer ‚regierenden‘ Partei geworden, darin der sozialistischen Bewegung verwandt. Das kann Erstarrung, Bureaukratismus und alle Todsünden geronnenen Lebens bedeuten.“3
Für Hilde Lion und andere junge Frauen wie die Pädagogin und Wohlfahrtspflegerin Emmy Wolff, die ihr Leben lang Freundin und Arbeitsgefährtin Hilde Lions blieb, galt es, vor dem Hintergrund schlechter Berufsaussichten, Kriegsfolgen und wirtschaftlicher wie politisch-moralischer Krisen nach den früheren Erfolgen der Frauenbewegung im Bereich Bildung und Wahlrecht ihre Ziele neu zu bestimmen. Neben der Vereinbarkeit von Beruf und Familie ging es um die Definition einer eigenständigen weiblichen Identität und um neue Wege, diese zu verankern. So trat Hilde Lion der DDP (Deutsche Demokratische Partei) bei und war als Parteisekretärin aktiv, um Frauen für die parlamentarische Demokratie zu aktivieren.
Der Verein Jugendheim Charlottenburg
Anders als ihre Vorkämpferinnen sah Hilde Lion sich in ihrem frauenbewegten Engagement nicht als Agitatorin oder Führungsfigur, sondern als Praktikerin, die sich der Sozialarbeit verschrieben hatte. 1925 kam die promovierte Volkswirtin als Lehrerin nach Berlin und unterrichtete im sozialpädagogischen Seminar des Vereins Jugendheim Charlottenburg Erzieherinnen, Hortnerinnen und Jugendleiterinnen. Das von Anna von Gierke geleitete Jugendheim unterhielt ein weit verzweigtes Netz von Betreuungseinrichtungen. Das Seminar verband als erste Ausbildungsstätte Soziales und Pädagogisches. Daneben unterrichtete Hilde Lion an der 1908 von Alice Salomon gegründeten Sozialen Frauenschule in Berlin-Schöneberg, war Vorsitzende der Vereinigung der Dozentinnen an sozialpädagogischen Lehranstalten und hatte die Leitung des Ausschusses für Jugendwohlfahrtswesen im Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenverein inne.
Die Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit
1928 wechselte Hilde Lion an die 1925 von Alice Salomon gegründete Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit und wurde zunächst Studienleiterin und 1929 die erste und einzige Direktorin der Akademie, einem der renommiertesten Projekte der Frauenbewegung in der Weimarer Zeit. „Sie bringt alles mit, was gesucht wird: Begabung und Interesse für die Anleitung zur wissenschaftlichen Arbeit, Erfahrung im Unterricht und in sozialer Praxis. Außerdem repräsentiert sie die junge Generation der frauenbewegten Wissenschaftlerinnen, ist fest in der Frauenbewegung verankert.“4 Im Vorstand der Weiterbildungs- und Forschungseinrichtung für Frauenberufe saßen neben der Vorsitzenden Alice Salomon Charlotte Dietrich, Gertrud Bäumer, Marie Baum, Lilli Droescher, Hildegard von Gierke, Helene Weber, Anna von Gierke und Siddy Wronsky.
Neben ihrer Tätigkeit in der Aus- und Weiterbildung für Frauen war Hilde Lion in den Ende 1930 gegründeten Frauengruppen für Soziale Arbeit tätig, arbeitete als Referentin und legte zahlreiche Veröffentlichungen zur Frage der Ausbildung für die Soziale Arbeit, zur Frauenbewegung sowie zum freiwilligen Arbeitsdienst von Mädchen und Frauen vor. „1932 nahm sie an der II. Internationalen Konferenz für Soziale Arbeit und der sich anschließenden Tagung des Internationalen Komitees Sozialer Schulen teil.“5 Über die Frauenakademie schrieb sie: „Sie soll als hochschulartige Stätte Fortbildung für die sozialen und sozialpädagogischen Berufsarbeiterinnen aller Gruppen leisten, in Jahreskursen nach erfolgter dreijähriger Berufsarbeit und in Schulungskursen für Spezialprobleme. Aus dem seltenen Miteinander reifer Berufsarbeiterinnen aller sozialpädagogischen Richtungen des In- und Auslandes und aus dem Zusammenwirken der Dozenten aus führenden Posten der Praxis und Wissenschaft ergeben sich fruchtbare gegenseitige Anregungen und neue Überlegungen.“6
Die Vertreibung und das Exil in England
Die praktische wie auch die wissenschaftliche Karriere von Hilde Lion endete abrupt. Nach warnenden Hinweisen vor einer drohenden Durchsuchung verfügte Alice Salomon am 5. Mai 1933 in einer geheimen Sitzung die Auflösung der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit. Die jüdischen Mitarbeiterinnen, insbesondere Hilde Lion, sollten geschützt werden. Die Schließung erfolgte in aller Eile, „weil befürchtet wurde, dass die Nazis die Akademie selber übernehmen wollten“.7 Im Protokoll des Vorstandes der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit vom 5. Mai 1933 wird formuliert: „Auf Dr. Alice Salomon ist ein Druck ausgeübt worden, Dr. Hilde Lion von ihrem Amt zu entheben; unter diesen Umständen erklärt auch Dr. Salomon, ihr Amt niederzulegen zu wollen. […] Der Vorstand, der sich aus Angehörigen verschiedener politischer und weltanschaulicher Richtungen zusammensetzt, steht auf dem Standpunkt, dass sich auch bei Auflösung der Akademie die Idee der sozialen Frauenbildung, die von hier aus ihre stärksten Antriebe erhalten hat, in der Zukunft durchsetzen wird. […] erklärt der Vorstand der Akademie sich mit Dr. Salomon und Dr. Lion solidarisch und beschliesst […] die Akademie am heutigen Tage aufzulösen.“8
Hilde Lion, die keine jüdische Identität hatte, emigrierte im November 1933 nach London, vorerst zu einem Studienaufenthalt auf Einladung und mit einem Stipendium des Internationalen Akademikerbundes. Ihre Dissertation war 1933 auf den ersten Listen der verbotenen Bücher zu finden. Emmy Wolff, ihre Lebenspartnerin, von der sie sich später privat – nicht beruflich – trennte, um mit der Musikpädagogin Luise Leven zusammenzuleben, folgte ihr 1935.
In England gründete Hilde Lion mit Unterstützung der Quäker – vor allem von Bertha Bracey und dem von ihr geleiteten Germany Emergency Committee – die Stoatley Rough School in Haslemere/Surrey, eine Internatsschule für deutsche Flüchtlingskinder, die sie bis zur Schließung 1960, bis 1956 gemeinsam mit Emmy Wolff, leitete. Unter schwierigen Umständen wurde Geld von Deutschland nach England transferiert und Menschen wurden in die Stoatley Rough School gerettet. Ab März 1934 wurden die ersten Kinder aufgenommen, fünf Jahre später hatte die Schule bereits 100 SchülerInnen. Wichtige Partnerinnen beim Aufbau und Betrieb der Schule waren neben Luise Leven und Emmy Wolff die Sozialpädagoginnen Eleonore Astfalck und Johanna Nacken. Die von Lion „gegründete Heimschule im Exil zeichnete sich unter den in Großbritannien relativ zahlreichen vergleichbaren Einrichtungen durch eine professionelle Betreuung auch kleinerer und schwieriger Kinder seitens sozialpädagogischer Fachkräfte sowie durch die reiche Organisation interkultureller Angebote (Theateraufführungen, Konzerte, Literaturkurse) für das einheimische Publikum aus“.9
Nach 1945 fuhr Hilde Lion häufiger nach Deutschland, um sich unter anderem mit den ehemaligen ‚Jugendheimern‘ des Vereins Jugendheim Charlottenburg zu treffen. Eine Rückkehr nach Deutschland erwog sie nicht. Schon 1939 stand für sie fest, dass sie die britische Staatsangehörigkeit annehmen würde.
Zur Bedeutung Hilde Lions
Hilde Lion repräsentierte die jüngere Generation der ersten deutschen Frauenbewegung, aus der sie entscheidende Impulse für ihr soziales und politisches Engagement bezog, und verkörperte sowohl theoretisches wie praktisches Engagement und Wissen im Rahmen der Frauenbewegung. Sie wirkte in leitenden Stellungen in der Aus- und Weiterbildung von Frauen für die Soziale Arbeit im Sinne Alice Salomons, deren besondere Wertschätzung sie genoss. Nach ihrer Vertreibung aus Deutschland und der Emigration nach England zerbrachen viele ihrer Frauenbündnisse. „Den Kindern in Stoatley Rough School hat sie nie etwas über ihre frauenbewegte Zeit erzählt.“10 Hilde Lion starb am 8. April 1970 in Hindhead/Surrey, Großbritannien.
Netzwerk von Hilde Lion
Zitate von Hilde Lion
Biografie von Hilde Lion
Fußnoten
- 1 Simmel-Joachim, Monika: Hilde Lion, in: Eggemann, Maike / Hering, Sabine (Hg.): Wegbereiterinnen der modernen Sozialarbeit. Texte und Biographien zur Entwicklung der Wohlfahrtspflege, Weinheim 1999, S. 282‒303, hier S. 282.
- 2 Lion, Hilde: Zur Soziologie der Frauenbewegung. Die sozialistische und die katholische Frauenbewegung, Berlin 1926.
- 3 Dies.: Gesagtes und Nichtgesagtes zur Jugendaussprache des Bundes, in: Die Frau, 29. Jg., 1921, H. 2, S. 52‒55, hier S. 55.
- 4 Simmel-Joachim: Hilde Lion, S. 287.
- 5 Feidel-Mertz, Hildegard: Lion, Hildegard Gudilla, in: Maier, Hugo (Hg.): Who is who der Sozialen Arbeit, Freiburg 1998, S. 364 f.
- 6 Lion, Hilde: Die Ausbildung zum sozialen Beruf, in: Die Frau, 40. Jg., 1932, H. 7, S. 446‒449, hier S. 448.
- 7 Stoehr, Irene: Eine hohe Schule weiblicher Kulturleistung: Die Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit (1925-1933), in: Zwaka, Petra (Hg.): „Ich bin meine eigene Frauenbewegung“. Frauen-Ansichten aus der Geschichte einer Großstadt, Berlin 1991, S. 59‒64, hier S. 64.
- 8 Vertrauliches Protokoll der Sitzung des Vorstands der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit vom 5. Mai 1933, „in der die Auflösung der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit beschlossen ist“, in: Feustel, Adriane / Labonté-Roset, Christine (Hg.): Die Konferenz der Sozialen Frauenschulen Deutschlands und die Folgekonferenzen 1917 – 1992. Zum 75jährigen Jubiläum der KFS. Eine Dokumentensammlung, Berlin 1992, o. S.
- 9 Feidel-Mertz: Lion, Hildegard, S. 364.
- 10 Simmel-Joachim: Hilde Lion, S. 290.
Ausgewählte Publikationen
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Berger, Manfred: Hilde Lion: Gründerin eines Landerziehungsheims im englischen Exil, in: Zeitschrift für Erlebnispädagogik, 24, 2004, S. 49 ff.
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Berger, Manfred: Wer war... Hilde Lion?, in: Sozialmagazin, 26, 2001, S. 6-9
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Feidel-Mertz, Hildegard: Lion, Hildegard Gudilla, in: Maier, Hugo (Hg.): Who is who der Sozialen Arbeit, Freiburg 1998, S. 364-356
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Simmel- Joachim, Monika: Hilde Lion, in: Eggemann, Maike / Hering, Sabine (Hg.): Wegbereiterinnen der modernen Sozialarbeit. Texte und Biographien zur Entwicklung der Wohlfahrtspflege, Weinheim 1999, S. 282-303
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Simmel- Joachim, Monika: Hilde Lion zum 100. Geburtstag ( 1 893— 1970), in: Ariadne. Almanach des Archivs er deutschen Frauenbewegung 23 (Mai 1993), S. 34-39.
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Simmel- Joachim, Monika: „Unser Wesen wird unsere Tat sein“: Hilde Lion (1893-1970), in: Klatt, Ingaburgh (Hg.): „Wir wollen lieber fliegen als kriechen“. Historische Frauenportraits, Lübeck 1997, S. 137-160
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Stoehr, Irene: Eine hohe Schule weiblicher Kulturleistung: Die Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit (1925-1933), in: Zwaka, Petra (Hg.): „Ich bin meine eigene Frauenbewegung“. Frauen-Ansichten aus der Geschichte einer Großstadt, Berlin 1991, S. 59-64
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Schriftenreihe der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit in Berlin Heft 2: Hilde Lion, Zur Soziologie der Frauenbewegung. Die sozialistische und die katholische Frauenbewegung, Berlin 1926 Hrsg. v. Alice Salomon und Charlotte Dietrich
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Lion, Hilde: Von weiblicher Gefolgschaft, in: Dies. U.a. (Hg.): Dritte Generation. – Für Gertrud Bäumer, Berlin 1923, S. 60-66
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Lion, Hilde: Zur Problematik einer Frauenpartei, in: Die Frau, 32 (1925), H. 5, S. 138-142.
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Lion, Hilde: Zur Soziologie der Frauenbewegung. Die sozialistische und die katholische Frauenbewegung, Berlin 1926
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Lion, Hilde: Die Allgemeine Frauenzeitschrift in Deutschland, in : Wolff, Emmy (Hg.): Frauengenerationen in Bildern, Berlin 1928, S. 108–115
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Lion, Hilde: Freiwilliger Arbeitsdienst für Mädchen, in: Deutsche Lehrerinnenzeitung, 49 (1932), S. 360-363.
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Lion, Hilde: Erwerbslos, aber nicht arbeitslos, in: Deutsche Lehrerinnenzeitung, 49 (1932), S. 7-9
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Lion, Hilde: Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit. Bericht über die Entwicklung von 1925-1930, erstattet von der Direktorin Dr. Hilde Lion, Berlin