- Bertha Pappenheim während ihres Aufenthalts im Sanatorium Bellevue 1882
- Gemeinfrei
Über Bertha Pappenheim
„Wenn wir den Lebenslauf dieser Frauen kennen, ihre Jugend, ihre Psyche, dann werden wir verstehen, was sie so weit brachte, Prostituierte zu werden. Dann werden wir in vielen Fällen zugeben müssen, dass von einer Freiwilligkeit im Sinne eines freien Entschlusses nicht die Rede sein kann.“1
Berühmt wurde Bertha Pappenheim als Anna O. in Freuds Studien über Hysterie. Doch sie war weit mehr als nur eine Patientin eines bekannten Neurologen und Tiefenpsychologen. Bertha Pappenheim zählt zu den wichtigsten Akteurinnen der historischen Frauenbewegung des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die deutsch-jüdische Frauenrechtlerin und Schriftstellerin gilt als Pionierin der sozialen Arbeit und als eine bedeutende Kämpferin gegen den Mädchen- und Frauenhandel. Zugleich setzte sich Pappenheim auch für die Rechte der Frauen in jüdischen Gemeinden ein.
Kindheit und Jugend
Bertha Pappenheim kam am 27. Februar 1859 in Wien als dritte Tochter von Sigmund Pappenheim, einem jüdisch-orthodoxen Getreidehändler, und seiner Frau, Recha Pappenheim, auf die Welt. Ihre Mutter stammte aus der alteingesessenen Frankfurter Familie Goldschmidt. Berthas Sozialisation war entsprechend sowohl jüdisch-orthodox als auch von bürgerlichen Werten geprägt. Zum einen zielte ihre Erziehung auf die exakte Einhaltung der religiösen Vorschriften. Zum anderen wurde sie auf ihre Rolle als jüdische Frau innerhalb der jüdischen Gemeinde vorbereitet, was der ‚Ausbildung‘ zu einer ‚Höheren Tochter‘ gleichkam: In Ermangelung einer jüdischen Mädchenschule in Wien besuchte sie eine private katholische Schule, wo sie in Kunst und Kultur, Fremdsprachen, Musik und weiblicher Handarbeit unterrichtet wurde. Mit sechzehn beendete Bertha Pappenheim ihre Schulzeit. Von da an fristete sie ihr Dasein damit, zu hoffen, dass sie dem ‚richtigen‘ Mann begegnete, damit sie den kulturellen und religiösen Erwartungen ihrer Familie gemäß heiraten konnte.
„Mein Privattheater“ – die Zeit der Erkrankung
Die überdurchschnittlich begabte Tochter litt unter dem monotonen Alltag und flüchtete sich zunehmend in Tagträume, die sie selbst als „Privattheater“ bezeichnete.2 Als Bertha Pappenheim 21 Jahre alt war, machten sich die ersten ‚hysterischen‘ Symptome wie Lähmungen, Sehstörungen und Angstzustände bemerkbar. Im gleichen Jahr erkrankte ihr Vater schwer und sie übernahm bis zur völligen Selbstaufgabe die Pflegearbeit. In dieser Zeit intensivierten sich ihre Krankheitssymptome wie Schwäche, Ekel vor Nahrung und Anämie. Die Familie Pappenheim konsultierte den Arzt Dr. Josef Breuer, einen damals sehr bekannten jüdischen Arzt in Wien. Er behandelte Bertha von 1880 bis 1882 und seine Diagnose lautete: ‚Hysterie‘. Breuers Behandlung bestand in langen Gesprächen, zum Teil unter Hypnose, in denen die Patientin dank ihrer Intelligenz selbst das Prinzip der Talking Cure (‚heilende Rede‘ oder Gesprächstherapie) entwickelte. 1895 sollten Josef Breuer und Sigmund Freud gemeinsam ihr Werk Studien über Hysterie veröffentlichen, in dem Bertha Pappenheim unter dem Namen Anna O. zum berühmten Fall wurde – ein Geheimnis, das erst ein Freud-Biograf 1953 lüften sollte. Pappenheim selbst hatte über ihre seelische Erkrankung und deren Behandlung nie öffentlich gesprochen.
Von der Patientin zur Aktivistin
Nach mehreren Sanatoriumsaufenthalten lebte Bertha Pappenheim einige Zeit bei ihrer Cousine in Karlsruhe. Anna Ettlinger, selbst Autorin, ermutigte ihre Verwandte, ihren eigenen schriftstellerischen Ambitionen nachzugehen. Tatsächlich veröffentlichte Pappenheim – zunächst unter dem männlichen Pseudonym Paul Berthold – ein Buch mit Kindergeschichten. Es folgten weitere Werke, u. a. die Übersetzung der Verteidigung der Rechte der Frau von Mary Wollstonecraft.
Im Jahr 1888 zog Bertha Pappenheim mit ihrer Mutter in ihre Heimatstadt, Frankfurt am Main. Dort begann sie, sich in der jüdischen Wohlfahrt zu engagieren. Sie schenkte in Armenküchen Suppe aus, arbeitete im städtischen Armenamt und wurde später Leiterin eines jüdischen Waisenhauses für Mädchen.
Durch ihr zunehmendes außerhäusliches Engagement und den Kontakt zur Frauenbewegung fing Bertha Pappenheim an, sich kritisch mit der Rolle der jüdischen Frau in der Gesellschaft und in der jüdischen Gemeinde auseinanderzusetzen. Vor diesem Hintergrund beschäftigte sie die ‚soziale Frage‘ umso intensiver, die wie kein anderes Thema den gesellschaftlichen Diskurs zu jener Zeit und die Frauenbewegung bestimmte. Britta Konz bringt in ihrer prämierten Biografie über Bertha Pappenheim das zentrale Element ihres sozialen wie frauenbewegten Engagements auf den Punkt: „Bertha Pappenheims Interesse galt, im Einklang mit Sozialreform und Frauenbewegung, dem Ausbau der sozialen Arbeit und der Modernisierung der Rolle der jüdischen Frau.“3
Zusammen mit Henriette Fürth gründete Bertha Pappenheim 1902 den Verein Weibliche Fürsorge und leitete damit den Beginn einer breiteren Organisierung jüdischer Frauen und die Professionalisierung weiblicher jüdischer Fürsorgearbeit ein. Nur zwei Jahre später (1904) rief Pappenheim den Jüdischen Frauenbund (JFB) ins Leben. Das Ziel des Vereins bestand darin, sowohl über sozial-karitative als auch über religiöse und identitätspolitische Fragen eine positive und selbstbewusste Identität der jüdischen Frau zu stärken. Den Vorsitz des JFB übte Bertha Pappenheim zwanzig Jahre lang aus und gab zugleich die verbandseigene Zeitschrift Blätter des JFB heraus.
Der Kampf gegen Mädchenhandel und Prostitution
Im Zusammenhang mit Pappenheims Fürsorgetätigkeit entwickelte sich der Kampf gegen den Mädchenhandel und die Prostitution – deren ‚Freiwilligkeit‘ sie immer bestritt – zum Schwerpunkt ihrer Arbeit. Als eine der ersten jüdischen Frauen äußerte sie sich öffentlich kritisch zur sogenannten ‚Sittlichkeitsfrage‘, zur Prostitution und zum Mädchenhandel. Als Hauptursachen dafür sah Pappenheim vor allem die soziale Not, schlechte Wohnverhältnisse, mangelnde Bildung und die damit einhergehenden miserablen Arbeitsbedingungen für Mädchen und Frauen.
Mehrfach reiste die Frauenrechtlerin in die betroffenen Gebiete, um sich dort ein Bild über den Mädchenhandel zu machen und Erkundigungen einzuziehen, wie dieser bekämpft werden könnte. Die Ergebnisse ihrer Studien hielt sie in mehreren Büchern fest. Mitte der 1920er-Jahre veröffentlichte Pappenheim dann ihr wichtigstes Werk zum Thema: Sisyphus – gegen den Mädchenhandel. Wenn sie auf Forschungsreise ging, blieb es aber nicht nur beim Schreiben von Artikeln und Büchern, sondern sie bot den Betroffenen auch praktische Unterstützung vor Ort an: So organisierte sie an den Bahnhöfen, wo junge, gutgläubige Frauen ankamen, Aktionen, um diese vor den drohenden Gefahren des Mädchenhandels und der Prostitution zu warnen. Die Gründung des Vereins Weibliche Fürsorge war ein weiterer Meilenstein zur Hilfe Betroffener. Besonders für geflüchtete Mädchen aus Osteuropa war dies eine wichtige Anlaufstelle. 1902 fand in Frankfurt am Main die erste Konferenz zur Bekämpfung des Mädchenhandels statt.
Auch wenn Pappenheim eine Pionierin im Bereich der weiblich-jüdischen Fürsorgearbeit war und mit althergebrachten Tabus brach, ist sie keine ‚Radikale‘ gewesen, sondern eher eine Vertreterin des gemäßigten bürgerlichen Flügels der historischen Frauenbewegung. Dies wird insbesondere an ihren Positionen zum Frauenstimmrecht und § 218 deutlich. Dem Frauenwahlrecht stand Bertha Pappenheim kritisch gegenüber. Ihrer Ansicht nach waren die Frauen für die Arbeit im Parlament und dafür, selbst wählen zu gehen, noch nicht reif genug: „Nicht nur weil der Mann das Stimmrecht hat, soll die Frau es erlangen suchen und eigensinnig die Gleichheit zwischen Mann und Frau durchsetzen wollen. Das politische ist ein Gebiet, auf dem die deutsche Frau vorläufig noch nicht im stande wäre, ihr Recht nützlich zu gebrauchen.“4 Auch die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruches konnte Pappenheim nicht gutheißen, sah sie darin doch eine sittliche Gefahr und eine Legitimierung sexueller Doppelmoral.5
Fortsetzung der Fürsorgearbeit in der Weimarer Republik
Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs betätigte sich Pappenheim, wie große Teile der ‚Gemäßigten‘, weiter in der Wohlfahrt, ohne sich – wie die meisten führenden ‚Radikalen‘ – als Pazifistin oder Kriegsgegnerin zu positionieren. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit blieb der Kampf gegen den Mädchenhandel und das Engagement für seine Opfer. Dazu gehörte auch die bereits erwähnte, fast zwanzigjährige Leitungstätigkeit des Waisenhauses für Mädchen, in Trägerschaft des Jüdischen Frauenbundes, in Neu-Isenburg bei Frankfurt am Main. Nach Machtergreifung der NSDAP hoffte Pappenheim zunächst darauf, dass die Partei nicht lange an der Macht sein würde. Als sie aber begreifen musste, dass dies nicht der Fall war, brachte die 75-Jährige selbst einige ihrer Schützlinge nach England und Schottland in Sicherheit. Nach ihrer Rückkehr erkrankte Bertha Pappenheim schwer. Trotz ihres schlechten Gesundheitszustandes – sie war bettlägerig – wurde sie 1936 von der Gestapo vorgeladen. Angeblich hatte sich eine Heimbewohnerin regimekritisch geäußert. Pappenheim konnte den Verdacht zerstreuen, erholte sich aber nicht wieder von dem Verhör. Sie starb am 28. Mai 1936 in Neu-Isenburg.
In der Reichspogromnacht wurden zwei der vier Heimgebäude niedergebrannt. Im Jahr 1942 lösten die Nationalsozialist/innen das Heim auf. Die vier Sozialarbeiterinnen und fünfzehn Bewohnerinnen wurden nach Auschwitz deportiert und ermordet.
Netzwerk von Bertha Pappenheim
Zitate von Bertha Pappenheim
Biografie von Bertha Pappenheim
Fußnoten
- 1 Pappenheim, Bertha: Schutz der Frauen und Mädchen (1923). Das Problem in allen Zeiten und Ländern, in: Wolfgruber, Gudrun (Hg.): Bertha Pappenheim. Soziale Arbeit, Frauenbewegung, Religion, Wien 2015, S. 139–143, hier S. 140.
- 2 Konz, Britta: Bertha Pappenheim (1859–1936). Ein Leben für jüdische Tradition und weibliche Emanzipation, Frankfurt a. M. 2006, S. 47.
- 3 Konz: Bertha Pappenheim (1859–1936), S. 201.
- 4 Berthold, Paul: Eine Frauenstimme über Frauenstimmrecht, in: Kugler, Lena / Koschore, Albrecht (Hg.): Bertha Pappenheim. Literarische und publizistische Texte, Wien 2002, S. 39–41, hier S. 40.
- 5 Wolfgruber: Bertha Pappenheim, S. 33.