Die Familienstudien der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit (1928-1933)

verfasst von
  • Prof. Dr. Sabine Toppe
veröffentlicht 10. Juli 2020
1925 wurde unter dem Vorsitz von Alice Salomon in Berlin die Deutsche Akademie für Soziale und Pädagogische Frauenarbeit gegründet – als Weiterbildungsakademie auf Hochschulniveau für Frauen in sozialen Berufen. Die Forschungsabteilung der Akademie widmete sich insbesondere dem Familienleben in Deutschland.

Familienforschung – Eine neue Perspektive der bürgerlichen Frauenbewegung?

Die Stellung von Frauen in der Familie wurde in den zwanziger Jahren ein wichtiges Thema der Frauenbewegung und sozialer Reformbewegungen. Alice Salomon formulierte kritisch, mit dem Blick auf das Spannungsfeld zwischen Privatheit und Öffentlichkeit: „Die Familie ist nicht ein Produkt der Willkür des berechnenden Verstandes, eine Institution, die allein unter dem Gesichtspunkt ihres Nutzens für die Gesellschaft betrachtet, gefördert oder beseitigt werden kann.“1  Ihr ging es um eine Reflexion der Familie als Institution, um die zeitgenössische Wahrnehmung von Familie als extrem umstrittene Einrichtung: Einerseits wurde die Bedeutung der Familie als „Grundlage aller staatlichen und nationalen Wohlfahrt“ hervorgehoben, andererseits wurden neue und besser geeignete Institutionen propagiert, wie ein „genossenschaftlicher Haushalt“ oder die „Anstaltserziehung“.2

Alice Salomon als Lehrerin an der Sozialen Frauenschule in Berlin-Schöneberg um 1915

Für Salomon war mehr Wissen über Familien unerlässlich, um Kultur- und Sozialpolitik planvoll, praktisch wirksam und jenseits von ideologischen Überzeugungen aufstellen zu können. Diese Erkenntnis war ein wesentlicher Anstoß, dass die Erforschung des Familienlebens zum Schwerpunkt an der Deutschen Akademie für Soziale und Pädagogische Frauenarbeit wurde. 

Briefkopf der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit
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Briefkopf der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit

Und so wurde mit dem Fokus auf Ressourcen, Potenziale und Risiken von Familien 1928 ein breit angelegtes empirisches Forschungsprogramm über Bestand und Erschütterung der Familie in der Gegenwart3  auf den Weg gebracht. Die Leitung und Koordinierung der Forschungsarbeit übernahmen Alice Salomon und Marie Baum. Mit ihnen ging eine engagierte Gruppe von Frauen – Sozialarbeiterinnen, Nationalökonominnen, Ärztinnen, Juristinnen, Berufsschullehrerinnen, Kindergärtnerinnen – der Frage nach, „ob die Wünsche, Ziele, Interessen, Handlungen der Individuen so sehr differenziert sind, daß darüber das Familienleben zerbricht und eine Lockerung und Auflösung der Institution der Familie erfolgen muß“.4  Angestrebt wurde, durch Fragebögen, Fallstudien und Typenbildungen zu Erkenntnissen über die Frage nach Auflösung und Fortbestand der Institution Familie zu gelangen. Es sollten das Spannungsfeld von Erziehungs- und Sozialisationspotenzialen von Familien unter schwierigen sozialen Bedingungen sowie ihre strukturelle Abhängigkeit vom Wohlfahrtsstaat und von wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklungen analysiert und soziale und politische Reformen auf den Weg gebracht werden. Beantwortet werden sollten vor allem zwei Fragenkomplexe: zum einen, „ob und inwieweit die Familie sich heute in einem Auflösungsprozess befindet, und welche Funktionen sie in der Gegenwart erfüllt“5 , und zum anderen, „ob die vorhandenen Formen des Gemeinschaftslebens nur überkommene Reste früherer sozialer Verfassungen sind, die mit Wahrscheinlichkeit schwinden werden, oder ob ein Umbildungsprozeß des Gemeinschaftslebens vorhanden ist, der die Familie auf Grund anderer Momente als in früherer Zeit erhält und sie auf neue Weise festigen kann“.6

Die hoch ambitionierten, theoretisch wie methodologisch aufschlussreichen Studien aus den Anfängen der empirischen Forschung in der Sozialen Arbeit haben ein vielfältiges und differenziertes Bild von Familie am Ende der Weimarer Republik vorgelegt und sind heute fast vollständig vergessen. Mit der Abteilung Familienforschung unterschied sich die Akademie mit ihren Angeboten und Leistungen von den Universitäten, weil Alice Salomon sehr bewusst war, dass die Sozialarbeit mit ihren ausgewiesenen Praxisbezügen als Studiengang „in den heiligen Hallen“7  der deutschen Universitäten nicht zu etablieren war.

Die Schwerpunkte und Themen der Familienforschungen der Akademie

Die Schwerpunkte der Familienforschungen der Akademie waren unter anderem Gefährdungen von Familie durch soziale Risiken, die Qualität von Beziehungen innerhalb von Familien, Fragen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Bedingungen eines gelingenden Heranwachsens von Kindern und Jugendlichen. Konkret ging es um Erziehungsleistungen von Familie, Formen und Ergebnisse der Haushaltsführung, Ehegattenliebe, soziale Rahmenbedingungen des Familienlebens, Arbeitsverhältnisse der Eltern, das Verhältnis von Schule und Familie, familiäres Zeitbudget, die materielle Situation, Wohnung und das Wohnumfeld. Eine besondere kritische Reflexion erfahren Sozialisations- und Erziehungspotenziale von Familien unter widrigen sozialen Bedingungen. Die publizierten Bände sind einzigartige Dokumente über die Familie in Deutschland unmittelbar vor der Nazi-Diktatur. Von 1930 bis 1933 erschienen 13 Einzeluntersuchungen, von geplanten 27:

  1. Alice Salomon/ Marie Baum: Das Familienleben in der Gegenwart. 182 Familienmonographien, Berlin 1930 
  2. Annemarie Niemeyer: Zur Struktur der Familie. Statistische Materialien, Berlin 1931
  3. Erna Corte: Die Familienverhältnisse von Kindern in Kindergärten, Horten und Tagheimen, Berlin 1930
  4. Günther Krolzig: Der Jugendliche in der Großstadtfamilie, Berlin 1930
  5. Marie Baum/ Alix Westerkamp: Rhythmus des Familienlebens. Das von der Familie täglich zu leistende Arbeitspensum, Berlin 1931
  6. Agnes Martens-Edelmann: Die Zusammensetzung des Familieneinkommens, Eberswalde 1931
  7. Margret Barth/ Annemarie Niemeyer: Über die häusliche Hilfeleistung von Kindern und Jugendlichen, Eberswalde 1932
  8. Hanna Meuter: Heimlosigkeit und Familienleben. Allgemeine Untersuchung, Eberswalde 1932
  9. Ventur Schaidnagel: Heimlose Männer, Eberswalde 1932.
  10. Elisabeth Frank: Familienverhältnisse geschiedener und eheverlassener Frauen, Eberswalde 1932
  11. Elisabeth Lüdy: Erwerbstätige Mütter in vaterlosen Familien, Eberswalde 1932
  12. Dora Hansen-Blancke: Die hauswirtschaftliche und Mutterschaftsleistung der Fabrikarbeiterin, Eberswalde 1932
  13. Marga(rete) Meusel: Lebensverhältnisse lediger Mütter auf dem Lande, Eberswalde 1933 

Methoden und Forschungszugänge

Die Forschungen der Akademie zeichneten sich durch ihre Themen und Methoden aus. Die Studien sollten monografisch sein, um „Gesamtbilder einzelner Familien mit ihren sozialen Gesundheits- oder Krankheitserscheinungen, ihrem Zusammenhang oder ihrer Auflösung“8  darstellen zu können. Und sie sollten differenztheoretisch Teilprobleme untersuchen, um angemessen die Leistungen von Familie darzustellen. Schließlich ging es um die Erhebung statistischer Daten zu Familie und um eine Perspektive, die „das Gesamtproblem in extensiver Weise beleuchtet, die Erscheinungen von ihrem ziffernmäßigen und deshalb vereinfachten Ausdruck zu verstehen sucht“.9

Eine besondere Stärke der Studien ist ihre Lebenswelt- beziehungsweise Fallorientierung. Die Autorinnen lehnten für ihre ökonomisch, soziologisch und sozialpsychologisch orientierten Erhebungen übliche naturwissenschaftliche Forschungsmethoden grundsätzlich ab, und die forschenden „Lehrerinnen, Jugendleiterinnen, Sozialbeamtinnen, Akademikerinnen“ mussten eine „Kunst der Einfühlung in fremdes Familienleben, […] eine Technik des Verkehrs herausbilden“.10  Kombiniert wurden Angaben aus Bevölkerungs- und Einkommensstatistiken, interpretierende Beschreibungen, halbstandardisierte Interviews und Fragebögen, mit denen die ehrenamtlich arbeitenden Fachkräfte Familien verschiedener Bevölkerungsschichten, Kinderkrippen, Kindergärten und Horte aufsuchten. Alice Salomon folgte in ihren methodischen Grundsätzen Mary Richmond, indem sie in der sorgfältigen Erhebung sozialer Daten eine Voraussetzung methodischen Handelns und einer soliden sozialen Diagnose sah. Dabei ging es nicht um die Frage, ob die untersuchten Familien sich der Unterstützung würdig erweisen, sondern um die Entwicklung professioneller sozialer Hilfe, die darin bestand, „daß man entweder einem Menschen hilft, sich in der gegebenen Umwelt einzuordnen, zu behaupten, zurecht zu finden – oder daß man seine Umwelt so umgestaltet, verändert, beeinflußt, dass er sich darin bewähren, seine Kräfte entfalten kann“.11

Zur Bedeutsamkeit der Familienforschungen

Die Familienforschungen der Akademie endeten, nachdem am 5. Mai 1933 Alice Salomon auf einer geheimen Vorstandssitzung die Selbstauflösung der Akademie veranlasste, um sie vor dem Zugriff der Nationalsozialisten zu retten und die jüdischen Mitarbeiterinnen zu schützen. Bedeutsam geblieben sind die Familienforschungen der Akademie, weil Fälle und Fakten auf ganz eigene Art dargelegt und unter Bezugnahme auf soziale Rahmenbedingungen eingeordnet wurden. Die Zeichen für Fortbestand und Zusammenhalt der Familien wurden mal nüchtern dargestellt, mal hervorgehoben, und im Anschluss sozialpolitische Forderungen zur Entlastung alleinstehender oder verheirateter Frauen entwickelt sowie Plädoyers formuliert für Haushaltsgemeinschaften, Alimente und Renten oder eine Halbtagsarbeit für Frauen.12

Ziel der Familienforscherinnen war eine Verbesserung benachteiligender gesellschaftlicher Rahmenbedingungen und eine kritische Reflexion normativer Orientierungen, auch wenn dies nicht immer im Sinne einer Loslösung von überholten traditionellen Normen und normativen Familienidealen gelang.13  Ihre Schriften sind als zeitgenössisch innovativ und kritisch engagiert zu beurteilen, aus heutiger Perspektive erscheinen sie zu Unrecht in Vergessenheit geraten.

Stand: 10. Juli 2020
Verfasst von
Prof. Dr. Sabine Toppe

geb. 1962, Pädagogik-Studium mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik/Sozialarbeit, Promotion zum obrigkeitsstaatlichen Mutterschaftsdiskurs im 18. Jahrhundert, Professorin für Geschichte der Sozialen Arbeit an der ASH Berlin. Forschungsschwerpunkte: Frauenbewegung und Soziale Arbeit, Geschichte von Familie und Kindheit, Historische Geschlechterdiskurse, Sozialpädagogische Bildungsforschung.

Empfohlene Zitierweise
Prof. Dr. Sabine Toppe (2022): Die Familienstudien der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit (1928-1933), in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/die-familienstudien-der-deutschen-akademie-fuer-soziale-und-paedagogische-frauenarbeit-1928-1933
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Fußnoten

  • 1Salomon, Alice: Nachwort, in: Dies. / Baum, Marie (Hg.): Das Familienleben in der Gegenwart. 182 Familienmonographien, Berlin 1930, S. 375.
  • 2Salomon, Alice: Einführung, in: Ebenda, S. 7‒22, hier S. 9.
  • 3Salomon, Alice: Bestand und Erschütterung der Familie in der Gegenwart, in: Die Frau, 37. Jg., 1930, H. 10, S. 577‒584.
  • 4Salomon: Einführung, S. 18.
  • 5Salomon, Alice: Forschungen über Bestand und Erschütterung der Familie in der Gegenwart, in: Gini, Corrado (Hg.): Atti del Congresso Internazionale per gli Studi sulla Popolazione, (Roma, 7-10 Settembre 1931-IX), (= Sezione di Sociologia. Roma, Istituto Poligrafico dello Stato 1933 - Anno XI, Volume VIII), S. 27‒35, hier S. 27.
  • 6Salomon: Einführung, S. 11.
  • 7Salomon, Alice: Die Ausbildung zum sozialen Beruf, Berlin 1927, S. 176.
  • 8Ebenda, S. 10.
  • 9Ebenda.
  • 10Ebenda.
  • 11Salomon, Alice: Soziale Diagnose, in: Dies.: Frauenemanzipation und soziale Verantwortung. Ausgewählte Schriften, Bd. 3: 1918–1948, hrsg. von Adriane Feustel, München 2003, S. 255‒314, hier S. 308 (Originalausgabe 1926).
  • 12Lüdy, Elisabeth: Erwerbstätige Mütter in vaterlosen Familien, Eberswalde o.J., S. 104 f.
  • 13Toppe, Sabine: „Auflösung und Fortbestand der Institution Familie“: Historische Forschungen und aktuelle Legitimationen im Spannungsfeld von Privatheit und Öffentlichkeit, in: Bütow, Birgit et al. (Hg.): Sozialpädagogik zwischen Staat und Familie - Alte und neue Politiken des Eingreifens, Opladen, Berlin, Toronto 2014, S. 29‒47.