Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit (1893–1933)

verfasst von
  • Prof. Dr. Sabine Toppe
veröffentlicht 13. Mai 2019
Die in Berlin gegründeten Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit (1893–1933) und ihre neue Auffassung sozialer Wohltätigkeit als sozialer Arbeit waren prägend für die bürgerliche Frauenbewegung an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Sie brachten einen Perspektivwechsel in der Ausbildung von Mädchen und Frauen und der Frauenerwerbstätigkeit auf den Weg.

Ernste Pflichterfüllung statt Emanzipation: die Entstehung der ‚Gruppen‘

Im November 1893 wandte sich in Berlin das Gründungskomitee der ‚Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit‛ mit folgendem Aufruf, unterzeichnet von engagierten Frauenrechtlerinnen, prominenten Gelehrten, liberalen Politikern und Berliner Honoratioren1 ,an bürgerliche Mädchen und Frauen: „Der wirtschaftliche und kulturelle Notstand in großen Bevölkerungsschichten des Vaterlandes, die zunehmende Verbitterung innerhalb weiter Kreise des Volkes, rufen auch Frauen gebieterisch zu sozialer Hilfstätigkeit auf. Es darf nicht länger verkannt werden, daß gerade die Frauen und jungen Mädchen der besitzenden Stände vielfach eine schwere Mitschuld dafür trifft, jene Verbitterung durch den Mangel an Interesse und Verständnis für die Anschauungen und Empfindungen der unbemittelten Klassen, durch den Mangel jedes persönlichen Verkehrs mit diesen Volkskreisen gesteigert zu haben. […] Es handelt sich um keinerlei ‚Emanzipationsbestrebungen‘, es handelt sich lediglich darum, junge Mädchen und Frauen zu ernster Pflichterfüllung im Dienste der Gesamtheit heranzuziehen.“2  

Initiiert war der Aufruf vorrangig von Minna Cauer, Vorsitzende des Berliner Vereins Frauenwohl und Vertreterin des radikalen Flügels in der bürgerlichen Frauenbewegung, und Jeanette Schwerin, ebenfalls Mitglied im Verein Frauenwohl und in der Berliner Gesellschaft für ethische Kultur. Unterstützerinnen waren neben anderen Gertrud Dyrenfurth, Henriette Goldschmidt, Lina Morgenstern, Franziska Tiburtius und Karl Schrader, Ehemann von Henriette Schrader-Breymann, Initiatorin des Pestalozzi-Fröbel-Hauses. Die Abgrenzung von der Emanzipation im letzten Satz des Aufrufs wurde viel interpretiert, vorrangig als mögliche Beruhigung für verunsicherte Eltern des Berliner Bürgertums und „taktische Verschleierung3 “, mit der die „Verbindungen zur Frauenbewegung herunterzuspielen“4 versucht werden sollte, um einen möglichst großen Kreis von Interessentinnen zu gewinnen. Der Aufruf fand lebhaften Widerhall, 50 bis 60 junge Frauen folgten der Einladung in den Bürgersaal des Rathauses von Berlin, wo sich am 5. Dezember 1893 die ‚Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit‘ offiziell konstituierten. Propagiertes Ziel war es, die brachliegenden Kräfte junger Mädchen und Frauen aus dem Bürgertum für Soziale Arbeit nutzbar zu machen und ihnen zugleich einen Lebensinhalt jenseits des Wartens auf einen passenden Ehemann zu ermöglichen.

Mädchen-und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit Berlin: Was beginne ich nach dem Abgang von der Schule? 1904-1909
Jeanette Schwerin (1852-1899), Vorsitzende der Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit

Den Vorsitz übernahm zunächst Margarete Kirschner, Ehefrau des Berliner Oberbürgermeisters, ab 1897 leitete Jeanette Schwerin bis zu ihrem Tod im Jahre 1899 die Gruppen. Sie stand ihnen zunächst eher kritisch gegenüber, mit Blick auf den Dilettantismus bürgerlicher „Wohltätigkeitsdamen“5 , und entwickelte dagegen als Maxime, dass „nicht Wohltätigkeit, sondern Wohlfahrt“ zu üben sei, „und für diese zu sorgen ist nicht Gnade, sondern Pflicht der Bessergestellten“6 . Nachdem im Gründungsjahr zunächst circa 100 Mitglieder beitraten, stagnierte in den Folgejahren der Zulauf und konnte erst nach der Vorsitzübernahme Jeanette Schwerins wieder nennenswert gesteigert werden, 1913 waren es dann 1.151 Mitglieder.7 Die Idee der Berliner Gruppen fand auch in anderen Städten Anklang: Sie waren Vorbild für Gründungen in Bremen, Frankfurt am Main, Hamburg, Königsberg, Leipzig, Stuttgart etc., 1908 gab es bereits 16 weitere Gruppen8 , 1912 schlossen sich diese im Deutschen Verband der Gruppen und Jugendgruppen für soziale Hilfsarbeit zusammen.9  

Ausbildung zum sozialen Beruf: Erziehungsverein für die Mitarbeiterinnen und Hilfsverein für die besitzlosen Schichten

Der Name Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit konnte sicherlich insofern missverstanden werden, als dass die Mitglieder womöglich eine untergeordnete Tätigkeit ausüben würden. Dagegen betonte Alice Salomon, die 1899 nach dem Tod Jeanette Schwerins den Vorsitz übernommen und Profil und Weiterentwicklung entscheidend beeinflusst hatte, dass die Arbeit keine „unbedeutende Hilfsarbeit bei großen sozialen Reformen, sondern die Mitarbeit an diesen selbst“10 sei. Entsprechend solcher Überlegungen hatten die Gruppen zwei Ziele: „Sie sind in gleichem Maß ein Erziehungsverein“ für die Mitarbeiterinnen wie ein Hilfsverein für die „besitzlosen Schichten“11 . Dabei verwies bereits der im Namen genannte Zweck ‚soziale Hilfsarbeit‛ auf ein neues Verständnis und grenzte sich auch sprachlich von traditionellen Formen der Wohltätigkeit ab. Das selbst gesetzte Ziel der ‚Gruppen‛ war ein „vertieftes Verständnis planvoller sozialer Arbeit“12 , ermöglicht durch eine systematische Ausbildung, mit der dilettantische Wohlfahrtsarbeit beendet werden sollte. 

Sozial motivierte Frauenarbeit war im ausgehenden 19. Jahrhundert nichts Neues mehr, es gab die Vaterländischen Frauenvereine, Diakonische Arbeit von Frauen, Volksküchen, Kindergartenarbeit usw., aber es war gerade die ungeordnete Vielfalt dieser Aktivitäten, die in der Frauenbewegung kritisiert wurde.13 Die Gründung der Gruppen fand vor dem Hintergrund einer lang anhaltenden Debatte über das als ‚Wohlfahrtssport‛ verspottete Engagement bürgerlicher Frauen statt, das in der Kritik von radikalen wie gemäßigten Vertreterinnen der Frauenbewegung wie Minna Cauer und Helene Lange die Kluft zwischen den Klassen eher vertiefte als milderte.14 Eine systematische Ausbildung in den Gruppen sollte dieser dilettantischen Wohlfahrtsarbeit ein Ende machen. In der Denkschrift zum zehnjährigen Bestehen der Gruppen formulierte Alice Salomon: „Allgemein empfand man die einseitig ästhetisierende Richtung in der Mädchenerziehung als unbefriedigend. Ein Kapital an Arbeitskraft und Arbeitslust ließ man brach liegen, während die großen sozialen Aufgaben der Mithilfe der Frauen entbehrten. Es galt, die Frauenbildung in sozialer Beziehung zu erweitern, um die Frauen der besitzenden Klassen für verständnisvolles, gemeinnütziges Wirken zu gewinnen.“15

Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit zu Berlin – Denkschrift anlässlich des 10jährigen Bestehens 1893-1903

 

Wechselwirkungen von Wissen und Handeln

Die Arbeit der Gruppen beendete die Planlosigkeit vieler Reformaktivitäten Berliner Frauen. Das eigentlich Neue war die systematische Ausbildung für die soziale Arbeit, wobei der praktischen Ausbildung von Anbeginn die theoretische Ausbildung gleichgestellt war. „Auch im vorigen Jahr haben wir einen besonderen Wert auf die Teilnahme an den Vorlesungen gelegt. Es muss immer von Neuem wiederholt werden, dass eine rein praktische Thätigkeit, so wertvoll sie auch im einzelnen Fall sein mag, leicht zu einer mechanischen Auffassung und Ausübung der Arbeit führt. Nur durch die Wechselwirkung von Wissen und Handeln kann auch auf unserem Arbeitsgebiet eine erspriessliche Thätigkeit herbeigeführt werden.“16  
Praktisch engagierten sich Mädchen und Frauen der Gruppen unbezahlt in verschiedenen Wohlfahrtseinrichtungen wie Krippen, Horten, Kindergärten, Waisenhäusern, in der Armenpflege, in Volksküchen, Krankenhäusern, in der Rechtsberatung oder der Unterstützung von Jugendgerichten.17 Die Mitglieder wurden zudem berufspolitisch aktiv, sie setzten sich für eine Einschränkung der Kinderarbeit und die Einrichtung von Schulspeisungen ein, brachten Petitionen zum Mutterschutz und Arbeiterinnenschutz auf den Weg und reichten bei der Berliner Stadtverordnetenversammlung und Armendirektion ein Verzeichnis von Frauen ein, „die bereit und geeignet waren, das Amt einer Armenpflegerin zu übernehmen“18 . 1898 gründeten sie den ‚Verein zur Errichtung von Arbeiterinnenheimen‘ und eröffneten „das erste Heim, in dem Fabrikarbeiterinnen ihre freien Mittags- und Abendstunden verbringen sollten“19 .

Erster Klub für junge Arbeiterinnen in Berlin, gegründet 1898
Alice Salomon im Jahr 1899, als sie den ersten einjährigen Ausbildungskurs eröffnete.

Die theoretische Ausbildung bestand zunächst aus Vorlesungen über Wirtschafts- und Sozialpolitik, Jura,  Gesundheitspflege, Pädagogik und Kinderfürsorge. 1899 wurden sogenannte ‚Jahreskurse‘ eingeführt, die eine verbindlichere Form der Schulung darstellten und jeweils von etwa 40 bis 50 Teilnehmerinnen besucht wurden. „Die Gruppen werden zusammengefasst in drei Abteilungen, und zwar: A) für Armenpflege, B) für Kranken- und Blindenpflege, C) für Erziehungswesen im weitesten Sinne.“20
Als Weiterentwicklung einer professionellen Ausbildung und in Gemeinschaft mit dem Pestalozzi-Fröbel-Haus beziehungsweise dem Berliner Verein für Volkserziehung beschloss der Vorstand der Gruppen die Gründung einer eigenen Ausbildungsstätte, die am 1. Oktober 1908 als Soziale Frauenschule unter der Leitung von Alice Salomon ihre Arbeit begann.

Beziehungen zur Frauenbewegung: Wie die ‚Frauenemanzipation‛ ihren Schrecken verlor

Zwanzig Jahre nach der Gründung der Gruppen beschäftigte sich Alice Salomon mit dem viel diskutierten Satz des Gründungsaufrufs, dass es sich „um keinerlei Emanzipationsbestrebungen“ handele. Mit dem Verweis auf das Engagement von Jeannette Schwerin und Minna Cauer, „die beide in bezug auf die Zielsicherheit und Überzeugungstreue in Sachen der Frauenbewegung nicht übertroffen werden konnten“21 , wies sie eine mögliche Preisgabe von Prinzipien der bürgerlichen Frauenbewegung von sich. Vielmehr habe der Begriff Frauenemanzipation einen Bedeutungswandel erfahren: „Während ‚Frauenemanzipation‘ damals für manchen rechtschaffenen Bürger noch gleichbedeutend mit Aufruhr war, mit einem Kampf gegen die Natur, mit dem Verlust aller weiblichen Eigenschaften, hat das Wort heute ganz seine Schrecken verloren. Schien uns damals eine friedliche, sozial aufbauende Tätigkeit in Staat und Gemeinde mit Frauenbewegung wenig zu schaffen zu haben, so halten heute nicht nur die Kreise, die daran teilnehmen, beide für geradezu zusammengehörig. Es war in erster Linie wohl eine notwendige Rücksicht auf diese weit verbreitete Auffassung, die jene Frauen des Komitees bei der Gründung der Gruppen den Gegensatz zwischen der Frauenemanzipation und der ernsten Pflichterfüllung im Dienst der Gesamtheit konstruieren oder akzeptieren ließ, einen Gegensatz, der für sie sicherlich niemals bestand.“22  
Die Gruppen wuchsen fest mit der bürgerlichen Frauenbewegung zusammen, Alice Salomon bezeichnete sie auch als die „Vorschule der Frauenbewegung“23 . 1898 schlossen sie sich dem Bund Deutscher Frauenvereine (BDF) an24 , Die Frauenfrage wurde zum Organ der Gruppen und sie beteiligten sich an der Durchführung des Internationalen Frauenkongresses in Berlin 1904.

Stand: 13. Mai 2019
Verfasst von
Prof. Dr. Sabine Toppe

geb. 1962, Pädagogik-Studium mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik/Sozialarbeit,  Promotion zum obrigkeitsstaatlichen Mutterschaftsdiskurs im 18. Jahrhundert, Professorin für Geschichte der Sozialen Arbeit an der ASH Berlin. Forschungsschwerpunkte: Frauenbewegung und Soziale Arbeit, Geschichte von Familie und Kindheit, Historische Geschlechterdiskurse, Sozialpädagogische Bildungsforschung. 

Empfohlene Zitierweise
Prof. Dr. Sabine Toppe (2020): Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit (1893–1933), in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/maedchen-und-frauengruppen-fuer-soziale-hilfsarbeit-1893-1933
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Fußnoten

  • 1Mädchen- und Frauengruppen für Soziale Hilfsarbeit zu Berlin: Denkschrift anläßlich des  10jährigen Bestehens 1893-1903, Berlin 1903, S. 6 f.
  • 2Salomon, Alice: Zwanzig Jahre Soziale Hilfsarbeit. Anläßlich des zwanzigjährigen Bestehens der ‚Mädchen und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit‘ in Berlin, Karlsruhe 1913, S. 8, Hervorhebungen im Original.
  • 3Zeller, Susanne: Volksmütter. Frauen im Wohlfahrtswesen der zwanziger Jahre, Düsseldorf 1987, S. 180.
  • 4Schüler, Anja: Frauenbewegung und soziale Reform. Jane Addams und Alice Salomon im transatlantischen Dialog, 1889-1933, Stuttgart 2004, S. 193 f.
  • 5Degethoff de Campos, Heidi: „Wissen und Wollen!“ – Jeanette Schwerin und die Anfänge der Sozialarbeit als Frauenberuf, in: Freiburger FrauenStudien, 1995, H. 2, S. 73–83, hier S. 75.
  • 6Schwerin, Jeanette: Armut und Armenpflege, in: Die Frau, 2. Jg., 1894/95, H. 3, S. 86–90, hier S. 86.
  • 7Salomon: Zwanzig Jahre Soziale Hilfsarbeit, S. 11 ff.
  • 8Schüler: Frauenbewegung und soziale Reform, S. 219.
  • 9Salomon: Zwanzig Jahre Soziale Hilfsarbeit, S. 20.
  • 10Salomon, Alice: Wissenschaftliche Bildung und soziale Frauenarbeit, in: Frauenbildung. Zeitschrift für die gesamten Interessen des weiblichen Unterrichtswesens, 2. Jg., Nr. 10, 1903, S. 449–455, hier S. 451.
  • 11Salomon: Zwanzig Jahre Soziale Hilfsarbeit, S. 4.
  • 12Sachße, Christoph: Mütterlichkeit als Beruf. Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewegung 1871 bis 1929, Weinheim/Basel/Berlin. 2003, S. 104.
  • 13Salomon, Alice: Soziale Frauenbildung, Leipzig/Berlin 1908, S. 40 ff.
  • 14Peters, Dietlinde: Mütterlichkeit im Kaiserreich. Die bürgerliche Frauenbewegung und der soziale Beruf der Frau, Bielefeld 1984, S. 101 ff.
  • 15Mädchen- und Frauengruppen für Soziale Hilfsarbeit zu Berlin: Denkschrift, S. 4.
  • 16Mädchen- und Frauengruppen für Soziale Hilfsarbeit zu Berlin: Bericht über das Arbeitsjahr 1897/98, S. 3.
  • 17Salomon: Zwanzig Jahre Soziale Hilfsarbeit, S. 54 ff.
  • 18Ebenda, S. 58.
  • 19Ebenda, S. 56.
  • 20Mädchen- und Frauengruppen für Soziale Hilfsarbeit zu Berlin: Bericht über das Arbeitsjahr 1895/96, S. 7.
  • 21Salomon: Zwanzig Jahre Soziale Hilfsarbeit, S. 99.
  • 22Ebenda, S. 99 f.
  • 23Ebenda, S. 104.
  • 24Ebenda, S. 102.

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