Verfolgung, Vertreibung, Flucht und Emigration jüdischer Sozialarbeiterinnen im Nationalsozialismus

verfasst von
  • Prof. Dr. Sabine Toppe
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Jüdische Sozialarbeiterinnen spielten eine zentrale Rolle innerhalb der bürgerlichen deutschen Frauenbewegung. Im Zuge der Machtergreifung und Herrschaft der Nationalsozialisten wurden sie verfolgt, vertrieben und ermordet, zu Flucht und Emigration gezwungen.

Jüdische Frauen in der Sozialen Arbeit bis 1933

Im ausgehenden 19. und ersten Drittel des 20. Jahrhunderts waren jüdische Frauen in großer Zahl in der bürgerlichen Frauenbewegung wie im Rahmen der sich entwickelnden Profession der Sozialen Arbeit aktiv. Sie engagierten sich hier für Frauenrechte, Frauenemanzipation, Ausbildung und Bildung von Frauen, Frauenerwerbsarbeit sowie soziale Reformen – namentlich zum Beispiel Lina Morgenstern, Jeanette Schwerin, Alice Salomon, Berta PappenheimSiddy WronskyHilde Lion, Emmy Wolff oder Henriette Fürth1 – und wurden so zu (Mit-)Gründerinnen einer berufsmäßigen sozialen Arbeit. Gegründet wurden von ihnen unter anderem der Berliner Kinderschutzverein, die Mädchen- und Frauengruppen für Soziale Hilfsarbeit, die Soziale Frauenschule in Berlin, der Jüdische Frauenbund und die Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit. Hergestellt wurden hier bedeutsame institutionelle wie private Frauennetzwerke in den Zusammenhängen jüdischer Frauen(bewegungs-)geschichte und in der Geschichte der Sozialen Arbeit.

Werbepostkarte der Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit um 1914

Die Auflösung von Institutionen

Der 30. Januar 1933 bedeutete das Ende dieser Geschichte. Die Vertreibung und Verfolgung nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten betrafen die Soziale Arbeit in besonderem Maß, weil der Anteil jüdischer Frauen und Männer an der Entwicklung einer professionellen Sozialen Arbeit seit Ende des 19. Jahrhunderts sehr hoch war. Viele Institutionen wurden aufgelöst oder verboten. So wurde der Jüdische Frauenbund bis 1939 liquidiert und die Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit 1933 auf Veranlassung Alice Salomons aufgelöst, um einer Hausdurchsuchung und Liquidierung durch die Gestapo zuvorzukommen. Alice Salomon hatte schon vorher ein Hilfskomitee gebildet, um bedrohten Sozialarbeiterinnen zu helfen, Deutschland zu verlassen und sich eine neue Perspektive in einem anderen Land aufzubauen. Die letzte Vorstandssitzung der Frauengruppe für soziale Arbeit als nachfolgende Vereinigung der Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit fand im März 1933 statt.

Die Soziale Frauenschule in Berlin blieb zwar erhalten, bis 1934 wurden aber mehr als die Hälfte aller Lehrkräfte entlassen, darunter alle jüdischen Dozentinnen. Entlassen wurden im Frühjahr 1933 – ohne gesetzliche Grundlage – die Ärztin Dr. Ida Hirschmann-Wertheimer, die Volkswirtschaftlerin Dr. Elisabeth Heinsheimer, die Dozentin für Gesang Dr. Gertrud Landsberg, die Germanistin und Sozialpädagogin Dr. Margarethe Kupfer und die Nationalökonomin und Juristin Dr. Margarete Sommer, nicht zuletzt die Sekretärin Ilse Vahlen . Alice Salomon schrieb in ihren Lebenserinnerungen im New Yorker Exil: „Ein Abgrund hatte sich aufgetan zwischen denen, die aus dem Rennen waren, und jenen, die weitermachen zu können hofften.“2 Diejenigen, die die Schule weiterführten, insbesondere Charlotte Dietrich, seit 1925 Schulleiterin, stellten sich selbst als Opfer dar, die im Interesse der Schule zu handeln gezwungen gewesen seien.

Das 1914 eingeweihte Schulgebäude der Sozialen Frauenschule in Berlin

Im Frühjahr 1934 war keine jüdische Schülerin mehr auf der Schule . „Viel früher als an öffentlichen Schulen und Universitäten wurden Jüdinnen von der sozialen Ausbildung an den Wohlfahrtsschulen ausgeschlossen.“3 Vor dem offiziellen stand der gesellschaftliche Ausschluss. So ist von der Schülerin Lilli Vorhaus bekannt, dass sie die Schule im Oktober 1932 nach nur einem halben Jahr verließ und nach Palästina emigrierte aufgrund „zunehmender Verfolgung“, die sie als Jüdin während eines Schulpraktikums in Nürnberg im Spätsommer 1932 erlebte .

Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung 

Die Verfolgungen ab 1933 trieben viele Sozialarbeiterinnen jüdischer Herkunft in die Emigration, und viele wurden in Vernichtungslagern ermordet, wie Cora Berliner, Paula Fürst und Hannah Karminski. Von den 31 Lehrenden jüdischer Herkunft an der Sozialen Frauenschule Berlin aus der Zeit bis 1933 sind 16 emigriert, fünf wurden in Konzentrationslager deportiert. Unter den Emigrantinnen sind bekannte Persönlichkeiten wie die Direktorin der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit Hilde Lion, die Geschäftsführerin des Bundes Deutscher Frauenvereine Emmy Wolff, die Leiterin des Archivs für Wohlfahrtspflege Siddy Wronsky, die Professorin für Soziologie und Sozialpolitik Frieda Wunderlich und die Juristin und Vorstandsmitglied im Jüdischen Frauenbund Margarete Berent . „Sie alle erreichten eine bedeutende professionelle Wirksamkeit in ihren Exilländern.“4 Aus dem Kreis der Schülerinnen stammen die Mitbegründerin der Arbeiterwohlfahrt und Leiterin der Wohlfahrtsschule Hedwig Wachenheim, die Wohlfahrtspflegerin, persönliche Assistentin und Biografin Alice Salomons Dora Peyser und die Sozialarbeiterin und Wohlfahrtsdezernentin Käte Rosenheim .

Alice Salomon als Lehrerin an der Sozialen Frauenschule in Berlin-Schöneberg um 1915

Ins Exil gezwungen zu werden war für die Frauen häufig mit dem Verlust von Status und Identität sowie mit einem mühsamen persönlichen wie professionsbezogenen Wiederaufbauprozess verbunden. Viele Frauen sahen sich erst durch die nationalsozialistischen Gesetze gezwungen, ihre Zugehörigkeit zum Judentum als primäre Identifikationskategorie anzusehen, wie auch Alice Salomon . Im Mai 1937 wurde sie unter Androhung der Einweisung in ein Konzentrationslager von der Gestapo zur Emigration gezwungen, ihr Vermögen wurde beschlagnahmt und sie wurde 1939 ausgebürgert. In ihrem Abschiedsbrief vor ihrer Abreise über England nach New York 1937 schrieb sie: „Es ist mir offiziell mitgeteilt worden, dass ‚Juden‛ - also in meinem Fall Christen jüdischen Blutes –, die sich oft und lange im Ausland aufhalten, zur Vermeidung der Überweisung in ein Schulungslager auszuwandern haben, und es sind mir 3 Wochen Zeit für die Liquidierung meines Lebens in Deutschland belassen worden. […] Ich gehe […] guten Mutes und in froher Zuversicht – völlig ungebrochen in geistiger und sittlicher Kraft, in meinem Wertgefühl, das nicht von außen beeinträchtigt werden kann.“5 Alice Salomon starb verarmt und einsam 1948 im Exil in New York.

Flucht und Exil

Die Flucht vor der nationalsozialistischen Verfolgung führte Sozialarbeiterinnen jüdischer Herkunft in unterschiedliche Exilländer. Hilde Lion musste 1933 noch vor der Auflösung die Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit verlassen und emigrierte nach England, ihre Kollegin und Lebenspartnerin Emmy Wolff folgte ihr 1935. Sie gründeten in England die Stoatley Rough School in Haslemere/Surrey, eine Internatsschule, an der rassistisch und politisch verfolgte Kinder Zuflucht fanden. Charlotte Friedenthal, Geschäftsführerin der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit, flüchtete erst in die Schweiz und dann nach England. Auch Adele Beerensson, Geschäftsführerin der Mädchen- und Frauengruppen für Soziale Hilfsarbeit, Sekretärin Alice Salomons und Dozentin der Sozialen Frauenschule Berlin sowie Vorsitzende des Deutschen Verbandes der Sozialbeamtinnen, emigrierte nach England, sie arbeitete dort in einer jüdischen Einrichtung für Mädchen und Frauen in London.

Frieda Wunderlich, Käte Rosenheim, Margarete Berent und Hedwig Wachenheim emigrierten wie Alice Salomon in die USA, nur Hedwig Wachenheim siedelte nach Kriegsende wieder zurück nach Deutschland. Frieda Wunderlich wurde Professorin und später Dekanin an der New School for Social Research in New York. Käte Rosenheim arbeitete als Sozialarbeiterin in New York und San Francisco und Margarete Berent wurde Richterin in New York, beide mussten ihre Ausbildung beziehungsweise ihr Studium wiederholen, da ihre Qualifikation in den USA nicht anerkannt wurde. 

Siddy Wronsky entschied sich wie andere zionistische Sozialarbeiterinnen – zum Beispiel Fanny Ollendorf, die 1918 die Soziale Frauenschule in München bei Frieda Duensing besuchte und ihre Ausbildung an der Sozialen Frauenschule in Berlin bei Alice Salomon abschloss – kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten für die Flucht nach Palästina, nachdem sie 1933 ihre Ämter in den Wohlfahrtsorganisationen niederlegen musste. Sie unterstützte den dortigen Aufbau eines Wohlfahrtssystems,6 gründete in Jerusalem die erste Schule für Sozialarbeit und die örtliche Sozialarbeiterinnengewerkschaft und war Mitarbeiterin des Jüdischen Nationalrats, dem sogenannten Jishuv.7

Erinnerung und Widerstand

Sozialarbeiterinnen jüdischer Herkunft, namhafte wie weniger bekannte, wurden von den nationalsozialistischen Machthabern bedroht, verfolgt und vertrieben. Viele derjenigen, denen die Flucht nicht gelang oder die Deutschland nicht verlassen wollten, fielen Deportationen in KZ- und Vernichtungslagern zum Opfer. An sie erinnern Stolpersteine, Straßen - und Schulbenennungen und ihnen widmet sich eine noch nicht abgeschlossene wissenschaftliche Aufarbeitung8.

Der Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime aus den Reihen jüdischer Sozialarbeiterinnen ist wenig bekannt, doch er existierte, die Formen waren vielfältig. So kämpfte Gisela Konopka im Untergrund gegen den Nationalsozialismus und wurde zweimal von der Gestapo verhaftet, bevor sie 1941 auf Umwegen die USA erreichte und dort Professorin für Sozialarbeit wurde. Käte Rosenheim organisierte als Leiterin der Abteilung Kinderauswanderung in der Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden Kindertransporte nach Großbritannien und in die USA. Marie Baum musste als ‚Vierteljüdin‘ ihre beruflichen Tätigkeiten und Ämter aufgeben und organisierte Aufenthaltsbürgschaften, Devisen, Visa und anderes für Verfolgte9. Sie hatte enge Kontakte zu Anna von Gierke und Isa Gruner in Berlin, die Frauen verdeutlichen mit ihrer Kooperation bei der Unterstützung von Verfolgten wichtige Frauennetzwerke.

Veröffentlicht: 10. Mai 2021
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Verfasst von
Prof. Dr. Sabine Toppe

geb. 1962, Diplom-Studium mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik/Sozialarbeit, Promotion zum obrigkeitsstaatlichen Mutterschaftsdiskurs im 18. Jahrhundert, Professorin für Geschichte der Sozialen Arbeit an der ASH Berlin. Forschungsschwerpunkte: Frauenbewegung und Soziale Arbeit, Geschichte von Familie und Kindheit, Historische Geschlechterdiskurse, Sozialpädagogische Bildungsforschung.

Empfohlene Zitierweise
Prof. Dr. Sabine Toppe (2024): Verfolgung, Vertreibung, Flucht und Emigration jüdischer Sozialarbeiterinnen im Nationalsozialismus, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/verfolgung-vertreibung-flucht-und-emigration-juedischer-sozialarbeiterinnen
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Fußnoten

  1. 1 Fassmann, Irmgard Maya: Jüdinnen in der deutschen Frauenbewegung 1865-1919, Hildesheim u.a. 1996, S.179 ff.
  2. 2 Salomon, Alice: Lebenserinnerungen: Jugendjahre, Sozialreform, Frauenbewegung, Exil, Frankfurt a. M. 2008, S. 318.
  3. 3 Feustel, Adriane: Die Soziale Frauenschule (1908-1945), in: Feustel, Adriane / Koch, Gerd (Hg.): 100 Jahre Soziales Lehren und Lernen. Von der Sozialen Frauenschule zur Alice Salomon Hochschule Berlin, Berlin 2008, S. 29‒103, hier S. 80.
  4. 4 Feustel, Adriane: Vernichtung des Sozialen. Verfolgung, Vertreibung, Flucht und Emigration im Feld der Sozialen Arbeit, in: Amthor, Ralph-Christian (Hg.): Soziale Arbeit im Widerstand! Fragen, Erkenntnisse und Reflexionen zum Nationalsozialismus, Weinheim und Basel 2017, S. 75–94, hier S. 83.
  5. 5 Salomon, Alice: Charakter ist Schicksal. Lebenserinnerungen, Weinheim und Basel 1983, S. 305.
  6. 6 Halpern, Ayana / Lau, Dayana: Social Work Between Germany and Mandatory Palestine: Pre- and Post-Immigration Biographies of Female Jewish Practitioners as a Case Study of Professional Reconstruction, in: Naharaim. Band 2019, Nr. 3, S. 163‒188.
  7. 7 Halpern, Ayana: Jüdisch-deutsche Sozialarbeiterinnen in Palästina: Erinnerungen an vergessene Frauen und ihr Erbe, in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, 8/2017, S. 357‒364.
  8. 8 Feustel, Adriane / Hansen-Schaberg, Inge / Knapp, Gabriele (Hg.): Die Vertreibung des Sozialen, München 2009.
  9. 9 Paulini, Christa: Marie Baum, in: Eggemann, Maike / Hering, Sabine (Hg.): Wegbereiterinnen der modernen Sozialarbeit, Texte und Biographien zur Entwicklung der Wohlfahrtspflege, Grundlagentexte Pädagogik, Weinheim und München 1999, S. 204‒228, hier S. 209.

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