Über Charlotte Dietrich
Mitgefühl und Verantwortung: Aufwachsen und Studium in Leipzig
Charlotte Elise Dietrich wurde am 22. November 1887 in Leipzig als ältere von zwei Töchtern des Kaufmanns Carl Alfred Dietrich und seiner Frau Elise Johanna, geb. Reumuth, geboren. Sie wuchs in einer streng religiösen, evangelisch-lutherischen und sozial engagierten Familie auf. Charlotte und ihre jüngere Schwester Johanna unterstützten alte Menschen im Alltag, gaben armen Kindern Nachhilfeunterricht und organisierten Kleidungs- und Lebensmittel-Sammelaktionen. Rückblickend schrieb Charlotte Dietrich: „Die Fähigkeit, Mitgefühl für meinen Nächsten zu entwickeln, sich verantwortlich zu fühlen und danach zu handeln, wurde ein für mein ganzes Leben prägender Charakterzug, der mir von frühester Kindheit anerzogen wurde.“1
Von 1893 bis 1903 besuchte Charlotte Dietrich die städtische Höhere Schule für Mädchen zu Leipzig, anschließend war sie als Haustochter und ehrenamtlich sozial tätig und verbrachte einige Zeit in einem Mädchenpensionat in der französischen Schweiz.2 Ab 1910 bereitete sie sich in den Realgymnasialkursen des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins in Leipzig auf das Abitur vor, das sie 1914 „mit ‚vorzüglich‘ bestand“.3 Nach einem Semester in Marburg studierte sie an der Universität in Leipzig Geschichte, Deutsch und Französisch. Ende November 1918 schloss sie das Studium mit der Promotion zum Dr. phil. in Leipzig ab. Das Thema ihrer Dissertation lautete Die politischen Anschauungen Metternichs.4 Zusätzlich bestand sie im Juli 1919 das Examen für das Lehramt an höheren Schulen.
Die Sozialen Frauenschulen in Breslau und Berlin-Schöneberg und die Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit
Nach ihrem Lehramtsexamen arbeitete Charlotte Dietrich5 an der Höheren Schule für Mädchen in Leipzig, bis sie am 1. Februar 1920 die Leitung der neu gegründeten Sozialen Frauenschule der Stadt Breslau übernahm. Dort unterrichtete sie Psychologie und Pädagogik, zwei Fächer, die für sie die Bedeutung von ‚Erlebnis‘ und ‚Erfahrung‘ repräsentierten und zusammenhängend zu behandeln seien, was als Novum und Vorbild für andere Soziale Frauenschulen6 galt. Sie schrieb dazu: „Die Gepflogenheit, Psychologie und Pädagogik miteinander zu verbinden, ist das Ergebnis praktischer Erfahrungen […]. Ich erlebte aber, daß bei der Behandlung der psychologischen Fragen die Schülerinnen sehr oft mit pädagogischen Problemen kamen, so daß ich den Eindruck hatte, ich zerschnitt einen den Schülerinnen für das Verständnis der psychologischen Fragen wichtigen Zusammenhang, wenn ich grundsätzlich psychologische Betrachtungen und pädagogische Bewertungen der Lebenserscheinungen zeitlich voneinander trennte.“7 1924 wurden ihr die Leitung des Städtischen Kindergärtnerinnen- und Hortnerinnenseminars, des Jugendleiterinnenlehrgangs und die Oberleitung der Kinderpflegerinnenschule der Stadt Breslau übertragen und sie wurde in den Vorstand des Deutschen Fröbelverbandes gewählt, dem sie bis zu seiner Auflösung 1938 angehörte.
Im Jahre 1925 berief Alice Salomon Charlotte Dietrich als zweite Leiterin an die von ihr gegründete Soziale Frauenschule in Berlin-Schöneberg, der sie bis 1927 in Personalunion vorstanden. Von 1927 bis Juni 1945 leitete Charlotte Dietrich nach dem Rückzug Alice Salomons die Soziale Frauenschule allein. Zusätzlich zu ihren Verwaltungsaufgaben unterrichtete Charlotte Dietrich Psychologie, Pädagogik, Frauenfragen und Soziale Literatur, von 1925 bis 1933 war sie Mitglied des Schulausschusses des Seminars für Jugendwohlfahrt. Außerdem war sie zweite Vorsitzende und Dozentin der am 25. Mai 1925 gegründeten Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit, verantwortliche Studienleiterin in der Akademie für die Abteilung zur Ausbildung von Schwestern für leitende Positionen und zweite Vorsitzende der 1917 gegründeten Konferenz Sozialer Frauenschulen Deutschlands.
Charlotte Dietrichs Leben war auf ihre Arbeit an den Schulen konzentriert. Sie wohnte in Berlin im sogenannten Heimathaus, dem Pensionat der Sozialen Frauenschule, neben Schülerinnen, einigen berufstätigen Sozialarbeiterinnen und weiteren Dozentinnen. Als Nachfolgerin Alice Salomons war sie anerkannt und akzeptiert, stand aber praktisch und frauenpolitisch in ihrem Schatten.
Anpassung im Nationalsozialismus
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 bot Charlotte Dietrich ihren Rücktritt von der Leitung der Sozialen Frauenschule in Berlin-Schöneberg an, der aber nicht angenommen wurde. Später wurde von der Reichsleitung der nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) versucht, sie als Schulleiterin abzulösen. „Daß sie nicht völlig aus der Schularbeit ausschied, war auf die Tatsache zurückzuführen, daß die NSV keine vom Ministerium als ausreichend erfahren anerkannte Leiterin für die Schule vorschlagen konnte.“8
Im November 1935 erklärte Charlotte Dietrich den Austritt der Sozialen Frauenschule Berlin aus dem 1929 unter maßgeblicher Beteiligung Alice Salomons gegründeten Internationalen Komitee sozialer Schulen, dessen Vorsitzende diese trotz zahlreicher Verdrängungsversuche blieb. Heute existiert das Internationale Komitee sozialer Schulen als International Association of Schools of Social Work/IASSW. Im Mai 1937 trat Charlotte Dietrich der NSDAP bei. „Ich habe mich 1937 nach schweren inneren Kämpfen entschlossen, der NSDAP beizutreten, da die Schule als einzige interkonfessionelle Soziale Frauenschule in Berlin ständig bedroht wurde durch die Bestrebungen der Reichsleitung der NSV, sie in die Hand zu bekommen.“9
Charlotte Dietrich führte die Soziale Frauenschule im Sinne der NS-Ideologie weiter, sie „hat die nationalsozialistische Machtergreifung als einen ‚Neubeginn‘, eine Restauration der Anfänge, unterstützt. Dabei hat sie mit dem neuen NS-Vorsitzenden des Vereins, Eduard Spiewok, zusammengearbeitet. Dieser hat ihr Anfang April die kommissarische Oberleitung des PFH Haus I (Pestalozzi-Fröbel-Haus) übertragen und im Februar 1935 persönlich gedankt ‚für die im Interesse des Vereins im letzten Jahr geleistete Arbeit‘“.10 Es wurde zwar keine neue Prüfungsordnung für die Wohlfahrtspflegerinnen erlassen, Prüfungs- und Unterrichtsfächer blieben dieselben, aber die Unterrichtsinhalte änderten sich. So sprach sich Charlotte Dietrich für die Kürzung des Rechtsunterrichts, die stärkere Betonung der praktischen Ausbildung und der Familienfürsorge beziehungsweise der Vorsorge überhaupt aus und schlug vor, „die bisher unter ,Psychologie‘ und ,Pädagogik‘ fallenden Gebiete […] unter den Begriffen ‚Menschenkunde‘ und ‚Menschenführung‘ zusammenzufassen, um damit stärker zum Ausdruck zu bringen, daß […] der Versuch gemacht wird, von soziologischer Seite her die Ganzheit der Menschen zu erfassen“.11
1943 hielt sie vor Sozialarbeiterinnen des öffentlichen Dienstes einen Vortrag, der wegen seines programmatischen Charakters als „Schulungsbrief für Volkspflegerinnen“12 veröffentlicht wurde.
Der Text behandelt den pädagogischen Aspekt der Sozialen Arbeit als den entscheidenden gesellschaftlichen Beitrag der Sozialarbeiterinnen. Charlotte Dietrich setzte sich hier für die neue Berufsbezeichnung ‚Volkspflegerin‘ statt Fürsorgerin, Wohlfahrtspflegerin oder Sozialbeamtin ein: „Als nach dem Umbruch der Begriff Fürsorgerin […] ersetzt wurde durch den Begriff Volkspflegerin, da war das nicht nur ein Wechsel des Namens, sondern ein Akt programmatischer Bedeutung […]. Fürsorge setzt voraus, daß 1. ein Grund zum Sorgen, also eine Notlage vorhanden ist, 2. daß die Hilfsmaßnahmen von einem anderen ausgehen und nicht von den ihr Bedürfenden selbst. Volkspflege betont dagegen, daß auch der gesunde Volkskörper Ausgangspunkt von Maßnahmen sein kann. Der Begriff ‚Volkspflege‘ betont die Überordnung der Gemeinschaft über den Einzelnen. Nicht Glück und Wohlbefinden des Einzelnen sind Ziel der Maßnahmen, sondern Stärke und Kraft des ganzen Volkes, der Gemeinschaft.“13
Charlotte Dietrichs Schulungsbrief fordert auch heute noch zu kritischen Diskussionen heraus. Formuliert wurde er als zeitgenössisches politisches Bekenntnis zur Sozialen Arbeit, als eine Mission in der Tradition von Volkserziehung in einer gesellschaftskritischen Perspektive sozialer Arbeit und Pädagogik. Den Hintergrund bilden zehnjährige Erfahrungen unter den Bedingungen der NS-Gewaltherrschaft, der Vertreibungen der jüdischen Dozentinnen und Schülerinnen der Sozialen Frauenschule und der Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit – und damit auch der Kollegin Alice Salomon.
Entnazifizierung und Nachkriegszeit
Nach dem Zusammenbruch der NS-Diktatur musste Charlotte Dietrich als politisch belastet im Juni 1945 die Leitung der Sozialen Frauenschule abgeben. Sie arbeitete anschließend in der Flüchtlings- und Heimkehrerfürsorge in Berlin und im Katholischen Mädchenschutzverein.14 Nachdem sie am 2. Oktober 1946 durch die amerikanische Militärbehörde entnazifiziert wurde, erhielt sie 1947 eine Stelle bei der Schwesternschaft des Evangelischen Diakonievereins Berlin-Zehlendorf und dem Zehlendorfer Verband für Evangelische Diakonie, wo sie bis 1952 und der Erreichung der Altersgrenze die Diakonissen in Pädagogik und Psychologie unterrichtete. Sie beteiligte sich auch an der Weiterentwicklung der Diakonieschulen in Kassel und Berlin, der späteren Schwesternhochschule der Diakonie, seit 1994 Studiengang Pflege/Pflegemanagement an der heutigen Evangelischen Hochschule Berlin. Nach 1950 publizierte Charlotte Dietrich im Bereich der Altersforschung und der Biografien bedeutender Persönlichkeiten der Frauenbewegung und der Sozialen Arbeit. So schrieb sie nach 1945 als eine der Ersten über Alice Salomon als Begründerin der Sozialen Arbeit als modernem Beruf in Theorie, Praxis und Ausbildung in Deutschland.15
Pionierin der Sozialen Arbeit?
Charlotte Dietrich gehörte mit Blick auf ihre Aktivitäten im Rahmen des Nationalsozialismus zu den umstrittenen Pionierinnen16 der Frauen in der bürgerlichen Frauenbewegung. Ihre Funktionen, Leiterin der Sozialen Frauenschule in Berlin-Schöneberg und zweite Vorsitzende der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit, gehörten zu den herausragenden Positionen in der Sozialarbeit der 20er- und 30er-Jahre, ihr „Lebensweg war mit der Frauenbewegung verbunden“17, auch wenn sie in keiner der Frauenorganisationen aktiv gewesen ist, außer im unmittelbaren Umfeld der Frauenschulen. Wünschenswert zur weiteren Reflexion ihrer widersprüchlichen Biografie wären zum Beispiel private Äußerungen gewesen, die leider nicht bekannt sind. Charlotte Dietrich starb am 4. August 1976 in Berlin.
Netzwerk von Charlotte Dietrich
Zitate von Charlotte Dietrich
Biografie von Charlotte Dietrich
Fußnoten
- 1 Ida-Seele-Archiv, Akte Charlotte Dietrich, Nr. 1/2.
- 2 Berger, Manfred: Wer war ... Charlotte Dietrich?, in: Sozialmagazin, o. Jg., 2003, H. 1, S. 6–9, hier S. 7.
- 3 Dietrich, Charlotte: Lebenslauf vom 20.02.1947, Archiv des Evangelischen Diakonievereins Berlin.
- 4 Dietrich, Charlotte: Die politischen Anschauungen Metternichs, Leipzig 1918.
- 5 Reinicke, Peter: Dietrich, Charlotte – Leiterin von Wohlfahrtsschulen, in: Maier, Hugo (Hg.): Who is who der Sozialen Arbeit, Freiburg 1998, S. 140 f.
- 6 Reinicke, Peter: Die Ausbildungsstätten der sozialen Arbeit in Deutschland 1899-1945, Freiburg im Breisgau 2012; ders.: Dietrich, Charlotte – Leiterin von Wohlfahrtsschulen, in: Maier, Hugo (Hg.): Who is who der Sozialen Arbeit, Freiburg 1998, S. 140 f.
- 7 Dietrich, Charlotte: Psychologie und Pädagogik in der Wohlfahrtsschule, in: Ministerium für Volkswohlfahrt (Hg.): Grundsätzliche Fragen zur Ausbildung der staatlich anerkannten Wohlfahrtsschulen, Berlin 1926, S. 86.
- 8 Seminar für Soziale Arbeit (Alice-Salomon-Schule) im Pestalozzi-Fröbel-Haus 1929-1958, Berlin, S. 6.
- 9 Dietrich: Lebenslauf.
- 10 Feustel, Adriane: Die Soziale Frauenschule (1908-1945), in: Feustel, Adriane / Koch, Gerd (Hg.): 100 Jahre Soziales Lehren und Lernen. Von der Sozialen Frauenschule zur Alice Salomon Hochschule Berlin, Berlin 2008, S. 29‒103, hier S. 85.
- 11 Protokoll der Konferenz der Sozialen Frauenschulen vom 02.10.1933, S. 2.
- 12 Dietrich, Charlotte: Die Volkspflegerin als Volkserzieherin. Schulungsbrief für die Volkspflegerinnen im öffentlichen Dienst, Berlin 1943.
- 13 Dies.: Schulungsbrief, S. 1 f.
- 14 Bericht des Entnazifizierungsausschusses.
- 15 Dietrich, Charlotte: Alice Salomon, in: Mädchenbildung und Frauenschaffen, 4. Jg., 1954, H. 1, S. 433‒440.
- 16 Ulmen, Renate: Charlotte Dietrich (1887–1976). Eine in Vergessenheit geratene Pionierin der Sozialen Arbeit, München 2015.
- 17 Feustel: Soziale Frauenschule, S. 76.
Ausgewählte Publikationen
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Berger, Manfred: Wer war... Charlotte Dietrich?, in: Sozialmagazin, 2003, Heft 1, S. 6–9.
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Berger, Manfred: Dietrich, Charlotte Elise, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL). Band 22, Nordhausen 2003, Sp. 256–263.
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Feustel, Adriane: Die Soziale Frauenschule (1908-1945), in: Feustel, Adriane / Koch, Gerd (Hg.): 100 Jahre Soziales Lehren und Lernen. Von der Sozialen Frauenschule zur Alice Salomon Hochschule Berlin, Berlin 2008, S. 29-103.
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Reinicke, Peter (Hg.): Von der Ausbildung der Töchter besitzender Stände zum Studium an der Hochschule. 100 Jahre Evangelische Fachhochschule Berlin, Freiburg/Br. 2004.
-
Reinicke, Peter: Dietrich, Charlotte, in: Maier, Hugo (Hg.): Who is who der Sozialen Arbeit, Freiburg im Breisgau, S. 140-141.
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Dietrich, Charlotte: Psychologie und Pädagogik in der Wohlfahrtsschule. In: Ministerium für Volkswohlfahrt (Hrsg.): Grundsätzliche Fragen zur Ausbildung der staatlich anerkannten Wohlfahrtsschulen. Berlin 1926.
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Dietrich, Charlotte: Die Entwicklung der sozialen Ausbildung in Deutschland, in: Die Erziehung Nr. 4 (1927), S. 217-226
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Dietrich, Charlotte: Frauenbewegung, in: Werden und Wirken. Oberinnen-Vereinigung vom Roten Kreuz, Berlin 1930, S. 438-447
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Dietrich, Charlotte: Die Volkspflegerin als Volkserzieherin. Schulungsbrief für die Volkspflegerinnen im öffentlichen Dienst. Berlin 1943.
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Dietrich, Charlotte: Alice Salomon, in: Mädchenbildung und Frauenschaffen, Jg. 1954, .
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Dietrich, Charlotte: Die Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit in: Deutsche Zeitschrift für Wohlfahrtspflege, Jg.1, Heft 7 (1925), S.302-307
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Dietrich, Charlotte: Lebenslauf vom 20.02.1947, Archiv des Evangelischen Diakonievereins Berlin.