Ein Leben in Bewegung
Beinahe wäre das Lebenswerk der lesbischen Aktivistin und Forscherin der westdeutschen Frauenbewegung Ilse Kokula verloren gegangen. Denn im Frühjahr 2020 brannte die Wohnung von ihr aus. Glücklicherweise blieben aber nicht nur sie selbst, sondern auch die Bestände ihres Arbeitszimmers verschont. Um diese dauerhaft zu sichern, sprachen die Historikerin Claudia Schoppmann und die Koordinatorin des Besuchsdienstes von RuT – Rad und Tat e.V. Joanna Czapska den Spinnboden an. So schloss dieser im Mai 2020 mit Kokula einen Schenkungsvertrag ab. Anschließend konnten der Vorlass, bestehend aus zeithistorischen Dokumenten und Materialien, sicher in den Spinnboden überführt werden.
Ilse Kokula gehört zu den wichtigsten Aktivistinnen und Forscherinnen der westdeutschen Lesbenbewegung seit den 1970er Jahren. Sie war ab 1985 als Professorin in Utrecht/ Niederlande und von 1989 bis 1996 als Gleichstellungsbeauftragte des Referats für gleichgeschlechtliche Lebensweisen des Senats von Berlin tätig. Auch nach ihrer Pensionierung 2004 blieb sie aktiv und veranstaltete ehrenamtlich Vorträge zu Aspekten lesbischen Lebens im Frieda Frauenzentrum Berlin. 2007 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz am Bande und 2018 als erste Trägerin den Preis für Lesbische Sichtbarkeit des Berliner Senats, den sie allerdings wegen Unstimmigkeiten ablehnte.
Kokulas Vorlass dokumentiert einen Gesamtzeitraum von etwa 1965 bis 2020. Er besteht aus schätzungsweise 200 Ordnern mit Beständen zu ihren Aktivitäten, Vernetzungen und Forschungsthemen. Hinzu kommen etwa 250 Zeitschriften und 200 Bücher, etwa 20 bis 30 Boxen mit beruflichen und privaten Korrespondenzen sowie einige Fotoalben und Audio-Dateien. Dazu gehören Materialien zu Kokulas Mitwirkung an lesbisch-feministischen Gruppen wie dem Lesbischen Aktionszentrum Westberlin (LAZ) und der Redaktion von Unsere kleine Zeitung (UKZ) in den 1970er Jahren, aber auch Manuskripte wie beispielsweise zu ihren Pionier- und Grundlagenstudien zur Geschichte von FrauenLesben in Kaiserreich (Weibliche Homosexualität um 1900, 1981) oder Formen lesbischer Subkultur, 1983. Der Vorlass zeigt, dass es nahezu keinen lesbisch-queer-feministischen Forschungs-, Aktivismus- und Vernetzungskontext in den letzten 50 Jahren in Westberlin und Westdeutschland gibt, aber auch europaweit und international, an dem Ilse Kokula nicht engagiert beteiligt war. Daher sind ihre Dokumente und Materialien von einzigartiger Bedeutung.
Damit repräsentiert der Vorlass das Lebens- und Schaffenswerk einer herausragenden Akteurin und Forscherin der ‚zweiten‘ Lesben- und Frauenbewegung in Deutschland. Zum anderen gewährt er vertiefte Einblicke in einzelne FrauenLesben-Biographien sowie Lesbenkulturen der 1920er bis 1970er Jahre und in intersektionale Verschränkungen. Außerdem zeigt er Kokulas Vernetzungen, die nicht nur deutschlandweit und zur DDR waren, sondern auch international, wie z.B. in die USA oder nach Thailand von den 1970er bis 2010er Jahren.
Der Spinnboden wurde 1973 durch das Lesbische Aktionszentrum (LAZ) im damaligen West-Berlin gegründet. Er beherbergt Materialien von den subkulturellen Äußerungen um 1900 über die politischen Aktivitäten in den 1970er Jahren bis hin zu aktuellen lesbischen, queeren und feministischen Kämpfen. Außerdem ist der Spinnboden das älteste und größte Lesbenarchiv der Welt neben dem Archiv Herstory in New York.
Das DDF-Projekt des Spinnboden – Lesbenarchivs und Bibliothek ist am 1. Januar 2021 gestartet und hat eine Laufzeit von 12 Monaten. Dabei wird der Vorlass von Ilse Kokula erschlossen und in den META-Katalog integriert. Außerdem entsteht ein Akteurinnenporträt zu ihr. Einige Highlights werden digitalisiert, ihre Rechte geklärt und eine Abschlussveranstaltung ist geplant – für mehr Lesbenbewegungsgeschichte im DDF.
Ausgewählte Beiträge vom Spinnboden – Lesbenarchiv und Bibliothek im DDF: