Gegen das Tabu: Archivarbeit zu Prostitution und Gesundheit
„Warum ist dieses verstaubte Gedankenmodell immer noch in den Köpfen der Leute? Warum? Mit der Prostitution wird so viel Geld verdient, es wird so viel Umsatz gemacht. Es ist ein Wirtschaftszweig und Menschen verdienen damit Geld, um zu existieren. […] Und warum wird man so ausgegrenzt?“ Diese und weitere Fragen wirft Sexarbeiterin Petra in einem der vier Interviews auf, die im Rahmen des Digitalisierungsprojekts von Madonna – Archiv und Dokumentationszentrum SEXARBEIT in Bochum (Madonna-Archiv) geführt werden konnten und damit in die Öffentlichkeit getragen werden können.
Marginalisierte Wissensbestände umfassend darstellen
Die archivarische Überlieferung von sozialen Kämpfen und gesellschaftlichen Debatten im Kontext von Sexarbeit ist begrenzt. Archive der öffentlichen Hand stufen Quellen zu dem Thema in der Regel als nicht bewahrenswert ein, womit die Überlieferung einzig durch freie Archive wie das Madonna-Archiv gesichert wird. Durch das gezielte Zusammentragen und Erschließen von Archivgut – im Kontext medizinischer Diskurse sowie der Gesundheitsprävention und -überwachung – beleuchtet das Madonna-Archiv mit diesem Projekt das Spannungsverhältnis von Prostitution und staatlicher Kontrolle.
Materialien aus der Selbstorganisation bieten Einblicke in die eigene Wahrnehmung von Sexarbeitenden und spiegeln ihre Einschätzungen zu und Erfahrungen mit staatlichen Maßnahmen der Kontrolle und Disziplinierung wider. Die Erschließung von medialen Erzeugnissen ermöglicht zudem einen diskursanalytischen Blick auf das Themenfeld. Im Ganzen konnten im ablaufenden Jahr sechs Archivkartons und zwei Regalmeter Aktenordner mit Inhalten von 1950 bis heute erfasst und zugänglich gemacht werden. Über diese vielfältige Korpusbildung wird ein umfassendes Bild der Wahrnehmung und Verortung von Sexarbeiter*innen im gesellschaftlichen Diskurs dokumentiert.
Stimmen aus der Praxis
Außerdem werden vier leitfadengestützte Interviews mit zwei ehemaligen und einer noch aktiven Sexarbeitenden geführt sowie ein weiteres Interview mit Heidrun Nitschke, Gynäkologin und ausgewiesenen Expertin im Bereich AIDS/STI-Prävention und Sexarbeit. Die Interviewten berichten dabei sowohl von der Zeit vor Inkrafttreten des Infektionsschutzgesetzes im Jahr 2001 – also der Zeit der Zwangsuntersuchungen von Prostituierten – als auch über veränderte Rahmenbedingungen durch die gesetzlichen Reformen durch das Prostitutionsgesetz und später das sogenannte Prostituiertenschutzgesetz.
Die Methode der Oral History bietet vor allem den drei interviewten Sexarbeiterinnen die Möglichkeit, als direkt betroffene Zeitzeuginnen ihre eigenen Erinnerungen, Einschätzungen und Erfahrungen zu teilen. Für zukünftige Projekte wäre es wünschenswert, wenn noch mehr verschiedene Perspektiven Eingang in Projekte finden könnten, beispielsweise diejenigen von People of Color, Menschen mit internationaler Familienbiografie oder trans Personen.
Im Jahr 2000 eröffnet der Verein Madonna auch das Madonna-Archiv für eine umfassende Anlaufstelle für Forschende. Durch die direkte Anbindung an den Verein Madonna ist so eine Vernetzung mit Akteur*innen der Sexarbeit möglich. Das Madonna-Archiv enthält unter anderem eine Präsenzbibliothek, eine Mediathek und eine Fotothek und ist für alle Interessierten kostenfrei für die Vorort-Recherche geöffnet.
Das DDF-Projekt vom Madonna-Archiv ist am 1. Januar 2023 gestartet und hat eine Laufzeit von 12 Monaten. Neben den Zeitzeug*inneninterviews mit Sexarbeitenden und der Gynäkologin und Expertin für AIDS/STI-Prävention und Sexarbeit Heidrun Nitschke entsteht u.a. der Essay „Von der Zwangsuntersuchung zum Willkommen in der Gesundheitsversorgung“ von Deborah Hacke. Materialien werden erfasst, digitalisiert, Interviews werden transkribiert und Rechte geklärt – für noch mehr Sichtbarkeit von Sexarbeiter*innen in der feministischen Bewegungsgeschichte.
Ausgewählte Beiträge vom Madonna Archiv im DDF: