Kinderbetreuung im Umbruch. Arbeitsbiografien von Erzieherinnen nach 1989/90

verfasst von
  • Pia Marzell
veröffentlicht 17. Juni 2020
Der Umbruch 1989/90 krempelte das Leben in Ostdeutschland komplett um. Die staatliche Kinderbetreuung wurde abgebaut und Erziehung mehr und mehr zur Privatangelegenheit. Viele Erzieherinnen verloren ihre Stelle, ihre Arbeitsbiografien zeigen, wie grundlegend Sorgearbeit nach 1990 umstrukturiert wurde.

Kinderbetreuung in der DDR

Eines der Ziele der Familien- und Frauenpolitik der DDR war es, möglichst alle Frauen in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Kinder sollten dabei kein Hindernis darstellen, weswegen das Angebot an Kinderbetreuung stetig ausgebaut wurde. 1989 konnten 95 Prozent der Kinder im Alter von ein bis drei Jahren in Kindergärten betreut werden.1  Wie auch in der Bundesrepublik wurde der Beruf der Kindergärtnerin in der DDR fast ausschließlich von Frauen ausgeübt. Kindergärtnerinnen hatten den Auftrag vom Ministerium für Volksbildung, die Kinder von „klein auf zu sozialistischen Staatsbürgern zu erziehen“.2  

Kristin Böhm erzählt von ihrer Entscheidung, in kirchlichen Kindergärten zu arbeiten.

Eine Nische im staatlich regulierten Kindergartensystem boten kirchliche Kindergärten. Das Angebot an konfessioneller Kinderbetreuung war staatlich beschränkt, Neugründungen waren untersagt. Insgesamt existierten 417 konfessionelle    Einrichtungen.3  Kirchliche Kindergärten konnten in ihrem beschränkten Rahmen relativ autonom agieren. Allerdings wurden sie weder staatlich anerkannt noch gefördert.4  

1973 war die staatliche Kindergärtnerinnenausbildung zu einem Fachschulstudium erweitert worden. Der Abschluss des Fachschulstudiums befähigte die Frauen dazu, nicht nur in Kindergärten, sondern auch in Vorschulheimen zu arbeiten.5  

Die Betreuung von unter Einjährigen unterstand dem Gesundheitswesen. Die Krippenerzieherinnen absolvierten eine Ausbildung, die vorrangig auf körperliche und hygienische Aspekte der Betreuung ausgerichtet war. 1989 wurden 80 Prozent der Ein- bis Dreijährigen in Krippen betreut.

Das Betreuungssystem in der DDR war darauf ausgerichtet, keine Lücke zu hinterlassen und möglichst alle Kinder in staatlichen Einrichtungen zu betreuen. Der Staat wollte möglichst viel Einfluss auf die Kinderbetreuung nehmen, eine private Betreuung der Kinder war nicht erwünscht. Kinderbetreuung, ob in Krippe oder Kindergarten, wurde als staatstragende Aufgabe verstanden, die der Staat in seinem Sinne ausgeführt wissen wollte.

In und nach dem Umbruch

Der politische und wirtschaftliche Umbruch 1989/90 bewirkte auch einen tiefgreifenden Wandel im System der Kinderbetreuung. Die Finanzierung von Kindergärten, die in der DDR staatlich organisiert gewesen war, musste nun von Ländern und Kommunen getragen werden. Dies hatte zur Folge, dass viele Einrichtungen schließen mussten, vor allem Krippen waren schnell betroffen. Aber auch Kindergartenplätze wurden abgebaut.
Als erstes entledigten sich Betriebe der ihnen angeschlossenen Kindergärten. Dieser ‚unproduktive‘ Teil ihres Betriebs konnte wirtschaftlich nicht gerechtfertigt werden.6

Sylvia Wagner berichtet über Proteste und Streiks gegen Schließungen und schlechte Bezahlung.

Um die anderen Kindergärten weiterhin finanzieren zu können, wurden die Elternbeiträge angehoben. Für viele Eltern, vor allem diejenigen, die nach 1990 arbeitslos geworden waren, bedeuteten die Beiträge einen empfindlichen finanziellen Einschnitt, einige entschlossen sich, ihre Kinder fortan zu Hause zu betreuen. Außerdem hatte der politische und wirtschaftliche Umbruch einen ‚Geburtenknick‘ nach sich gezogen. Immer weniger Frauen entschieden sich dafür, Kinder zu bekommen. In den Jahrgängen 1991 bis 1995 kamen halb so viele Kinder zur Welt wie davor.7  Für die Kinderbetreuungseinrichtungen bedeutete dies, dass immer weniger Kindergärten- und Krippenplätze benötigt wurden und ein weiterer Stellenabbau im Erziehungsbereich stattfand.

Viele Erzieherinnen in Ostdeutschland wurden arbeitslos, mussten Umschulungen machen oder in ‚den Westen‘ umziehen, um dort weiter arbeiten zu können.

Arbeitsbiografien von Erzieherinnen

Antje Uhlig berichtet von der ständigen Angst vor Entlassung.

Für kirchlich angestellte Erzieherinnen bedeutete die Umbruchzeit bis Mitte der 1990er-Jahre eine Vergrößerung ihrer Chancen. Es wurden neue konfessionelle Kindergärten gegründet, die schon bestehenden wurden ausgebaut und das pädagogische Arbeiten konnte freier werden. Auch gründeten sich viele Mütter- und Elterninitiativen, die Erziehung freier denken und leben wollten.

Kindergärtnerinnen und Krippenerzieherinnen, die in der DDR staatlich angestellt gewesen waren, erlebten eine massive Unsicherheit in Bezug auf ihre Arbeitsverhältnisse. 

Alle Erzieherinnen mussten eine Anpassungsqualifizierung nachweisen, da ihre Ausbildungen in der DDR nicht voll anerkannt wurden. Diese zusätzliche Qualifizierung sollte sicherstellen, dass die ideologischen Anteile der DDR-Pädagogik überwunden würden. Außerdem sollten Erzieherinnen für die Betreuung aller Altersgruppen ausgebildet werden, die Trennung zwischen Krippen und Kindergärten sollte aufgehoben und die Einrichtungen sollten zu Kindertagesstätten zusammengelegt werden. Einige Erzieherinnen nahmen diese Anpassungsqualifizierung auch als Möglichkeit wahr, sich fortzubilden, für viele bedeutete sie jedoch eine Abwertung ihrer Ausbildung und ihrer bisherigen Arbeit. Die Kindergärtnerin Sylvia Wagner berichtet von dem Gefühl, noch einmal eine Ausbildung machen zu müssen: „Wir mussten eben auch eine Prüfung ablegen nach einem Jahr. Du wurdest dann, das fand ich bissel-, das fand ich nicht schön. Du wurdest dann behandelt wie wieder eine Studentin.“8  

Hinzu kam, dass die Anpassungsqualifizierungen von unterschiedlichen Trägern angeboten wurden und sich in Qualität und Länge stark unterschieden. Die Anpassungsqualifizierung zur Erzieherin aller Altersstufen war obligatorisch, jedoch war der Arbeitsplatz der Frauen damit keineswegs sicher. Vor allem junge, unverheiratete und/oder kinderlose Frauen verloren ihre Arbeitsstelle. Ulrike  Dietz berichtet von ihrer Entlassung als Schockmoment, denn „Es war nicht irgendeine Arbeit. Es war meine Arbeit. Und es war für mich schrecklich. Wie gesagt, ich habe wirklich gedacht, ich falle in dieses Loch.“9  

Ulrike Dietz erzählt von ihrer Kündigung.

Diskutieren und handeln wir gemeinsam! Proteste und politische Dimension

Durch die Schließungen und Zusammenlegung der Einrichtungen gerieten die verschiedenen Kindertagesstätten, Kindergärten und Krippen in Konkurrenz zueinander. Jede Einrichtung musste dafür sorgen, attraktiv genug zu sein, um die Plätze füllen zu können, sonst drohte die Schließung. Auch die Erzieherinnen standen in einem Konkurrenzverhältnis zueinander. Die ständige Angst vor Entlassung machte es ihnen schwer, sich untereinander zu solidarisieren.

Zu Protesten einzelner Einrichtungen kam es trotzdem. Sylvia Wagner berichtet sogar von einem kurzen wilden Streik wegen der Schließung des Betriebskindergartens, in dem sie 1989 arbeitete.10 Im Juni 1993 rief die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) zu einer Demonstration für den Erhalt der Kindereinrichtungen in Dresden auf. Die Demo sollte parallel zur Tagung der sächsischen Landtagsabgeordneten laufen und die Abgeordneten davon überzeugen, keinen weiteren Stellenabbau im Erziehungsbereich zu beschließen. Auch in Leipzig fanden Demonstrationen von Erzieherinnen, Eltern und Kindern gegen die Schließung von Kindereinrichtungen statt.11  Die Quellenlage zu den Protesten ist jedoch dürftig.

Die Schließung von Kindereinrichtungen nach 1990 ist ein höchst politisches Thema: Eine ganze Berufsgruppe, die fast ausschließlich aus Frauen bestand, war von Arbeitslosigkeit bedroht und viele direkt davon betroffen. Das staatliche Versprechen der DDR, die Kinderbetreuung zu organisieren und zu finanzieren, war innerhalb weniger Monate nichts mehr wert. Kindererziehung wurde immer mehr zur Privatangelegenheit, was nicht nur die Erzieherinnen direkt betraf, sondern auch Eltern. Die Erzieherin Birgit Fischer diskutierte nach ihrer Entlassung mit Freundinnen, sie erzählt, dass sich die Frauen fragten: „Wie soll das werden? Sind wir alle wieder zu Hause, nur die Männer gehen arbeiten? So wie das ja in den Altbundesländern war. […] Wollen die jetzt darauf hinarbeiten, dass wir auch wieder alle zu Hause bleiben?“12  

Für die Mütter bedeutete der Abbau von Kinderbetreuungsplätzen eine Prekarisierung ihrer Situation: Hatten sie keinen Kita-Platz für ihr Kind, konnten sie auch keine Lohnarbeit annehmen. Die Landtagsabgeordnete des UFV Cornelia Matzke formulierte 1992: „Ihr [Kinderbetreuungsplätze] Abbau heißt, bewußt Politik gegen Frauen machen.“13  

Der Themenkomplex Kinderbetreuung, Arbeitsrealitäten und -kämpfe im Erziehungsbereich ist noch kaum erforscht. Viele Quellen sind nicht aufbereitet oder nicht erhalten – auch weil die Arbeit, um die es geht, gesellschaftlich abgewertet ist. Die Geschichten und Erzählungen von Erzieherinnen in der DDR beziehungsweise in und nach der Umbruchphase sind wichtig für eine feministische Geschichtsschreibung. Sie zeigen den gesellschaftlichen Umgang mit Sorge- und Erziehungsarbeit im Wandel und die Auswirkungen dieses Wandels auf die konkreten Leben von Frauen* in Ostdeutschland. In der feministischen Bibliothek MONALiesA in Leipzig finden sich viele Bewegungsquellen und Interviews mit Zeitzeuginnen, die Ansätze für weitere Forschungen bieten.

Stand: 17. Juni 2020
Verfasst von
Pia Marzell

studierte Soziologie, Politikwissenschaften und Geschichte in Erlangen, Halle (Saale) und Jena. Zuletzt forschte sie zu DDR-Frauen(bewegungs)geschichte in der feministischen Bibliothek MONALiesA in Leipzig. Außerdem liegen ihre inhaltlichen Schwerpunkte auf der Geschichte des Nationalsozialismus und deren Implikationen in der Gegenwart, der Behinderten- und der westlichen Frauenbewegung.

Empfohlene Zitierweise
Pia Marzell (2024): Kinderbetreuung im Umbruch. Arbeitsbiografien von Erzieherinnen nach 1989/90, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/kinderbetreuung-im-umbruch-arbeitsbiografien-von-erzieherinnen-nach-198990
Zuletzt besucht am: 27.04.2024

Fußnoten

  • 1Boeckmann, Barbara: Das Früherziehungssystem in der ehemaligen DDR, in: Tietze, Wolfgang / Roßmann, Hans-Günther (Hg.): Erfahrungsfelder in der frühen Kindheit. Bestandsaufnahme, Perspektiven. Freiburg im Breisgau 1993, S. 168‒213, hier S. 169.
  • 2Ministerium für Volksbildung: Programm für die Bildungs- und Erziehungsarbeit im Kindergarten (1985), Berlin, S. 7.
  • 3Ebenda.
  • 4Maiwald, Annett: Die Kindergärtnerinnenausbildung der DDR, in: Die Hochschule, Jg. 15, 2006, H. 2, S. 157‒178, hier S. 161.
  • 5Ebenda.
  • 6Engelhard, Dorothee / Michel, Heide: Entwicklungen in den Tageseinrichtungen der östlichen Bundesländer seit 1990, in: Tietze, Wolfgang / Roßmann, Hans-Günther (Hg.): Erfahrungsfelder in der frühen Kindheit. Bestandsaufnahme, Perspektiven, Freiburg im Breisgau 1993, S. 213‒237, hier S. 223.
  • 7Domscheit-Berg, Anke: Familienpolitik in Ost- und Westdeutschland und ihre langfristigen Auswirkungen (2016), Zugriff am 29.1.2020 unter https://www.boell.de/de/2016/11/09/familienpolitik-ost-und-westdeutschland-und-ihre-langfristigen-auswirkungen.
  • 8Wagner, Sylvia, Interview durch Pia Marzell, Leipzig 2019, S. 32.
  • 9Dietz, Ulrike, Interview durch Pia Marzell, Leipzig 2019, S. 13.
  • 10Wagner, Interview, S. 19.
  • 11Aus Gesprächen der Autorin mit der Zeitzeugin Marion Ziegler und Vertreterinnen der Gewerkschaft ver.di.
  • 12Fischer, Birgit, Interview durch Pia Marzell, Leipzig 2019, S. 16.
  • 13MONALiesA (im Folgenden ML) GL FIL 01-042, zitiert nach: Marion Ziegler: Pressemitteilung Kitadiskussion (1992), in: Frauenblätter. Informationen der Fraueninitiative Leipzig, S. 4.