Zeitzeugnis, Botschaft, Vermarktung – zur Wichtigkeit von Konzertdokumentation

verfasst von
  • Jakob Uhlig
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Konzerte, ihre Programme und Vermarktungsstrategien sind nicht nur ein Spiegel ihrer Zeit, sondern können auch Versuche sein, das Musikleben über den einzelnen Abend hinaus zu verändern. Das Frankfurter Archiv Frau und Musik digitalisiert seine wertvollen Bestände nun.

In der musikwissenschaftlichen wie auch in der gesellschaftlichen Diskussion über die Rolle von Komponistinnen und Musikerinnen im Konzertbetrieb war und ist vor allem die Frage des Kanons immer wieder ein zentrales Thema. Während deutsche Massenfestivals wie Rock am Ring Jahr für Jahr im Zentrum der Kritik stehen, weil ihr Booking Diversität vermissen lässt1, ist die Kanon-Frage in der Orchesterkultur eine besonders breite, die auch im Zusammenhang mit einer zunehmenden Alterung des Publikums, Gesellschaftsrelevanz und Überlebensstrategien steht. Die Fragen, die die für die Programmplanung Zuständigen heute in diesem Zusammenhang beschäftigen, bestehen schon seit Jahrzehnten. So veröffentlichte der Schweizer Komponist Rolf Urs Ringger bereits 1972 in der Neuen Zeitschrift für Musik einen Artikel, in dem er für eine Überarbeitung der gängigen Programmschemen warb, weil er dem klassischen Konzertbetrieb ansonsten langfristig ein unvermeidbares Aussterben prognostizierte.2 Viele von Ringgers damaligen Vorschlägen – Programme mit einleuchtenden Oberthemen, eine Konzertgestaltung abseits von ‚Meisterwerken‘, stilistische Vielfalt durch Konzerte mit Jazz- oder Popmusikanteil – werden noch heute immer wieder diskutiert. Weibliche Musikschaffende tauchen in dem Text allerdings so gut wie gar nicht auf. Speziell die Frage der Repräsentation von Komponistinnen hatte in den 1980ern die Kanon-Debatte aber neu entfacht. Ihre tatsächliche Berücksichtigung im weiteren Verlauf ist dabei trotzdem selten befriedigend.3

Programm des Festivals „Experimentierfeld: Frauenmusik

Die programmatische Gestaltung von Konzerten kann in diesem Zusammenhang Auskünfte über viele Parameter musikalischer Geschmäcker, kultureller Normen und gesellschaftlicher Ideale ihrer Zeit geben. Gleichzeitig würde es zu kurz greifen, Formen der Konzertdokumentation nur als Spiegel wahrzunehmen. Die Wahl eines bestimmten Repertoires kann vielmehr auch eine aktive Maßnahme sein, um den bestehenden Kanon neu zu formen, gesellschaftliche Zustände zu kommentieren und Ideale zu verkörpern.4 Die deutliche Unterrepräsentation von Komponistinnen im Repertoire der Orchester erzeugte deswegen eine ganze Reihe an Gegenprogrammen. Im Dezember 1984 etwa veranstalteten mehrere Musikinstitute, Rundfunksender und der Arbeitskreis Frau und Musik in Köln gemeinsam ein Festival mit dem heute etwas dubios anmutenden Titel Experimentierfeld: Frauenmusik.

Programme als Botschaft

Aus der musikalischen Programmgestaltung und ihrer visuellen Repräsentation werden vielfältige Faktoren ablesbar, die uns etwas über die Einstellung und die Ziele des Festivals verraten.5 Während die Titelgebung einerseits klar den Fokus der Veranstaltung benennt und diesen gleichzeitig als etwas Ungewöhnliches ausmacht, fällt in der programmatischen Gestaltung die stilistische und zeitliche Vielfalt der Musik auf. Programmpunkte zur zeitgenössischen Avantgarde und bis ins Mittelalter zurückreichende Werke wechseln sich teilweise im Stundentakt ab, auch Jazz, Volksmusik und Klanginstallationen werden nicht ausgespart. So ist etwa für den Samstag des Festivals ein Programmpunkt ausschließlich für Komponistinnen aus dem 20. Jahrhundert reserviert. Aufgeführt werden Werke von Ruth Crawford Seeger, Moya Henderson, Pauline Oliveros und Younghi Pagh-Paan. Hendersons Klavierkomposition Cross Hatching wird im Rahmen dieses Konzerts uraufgeführt, was den Aktualitätsanspruch besonders unterstreicht. Doch schon der direkt folgende Programmpunkt widmet sich explizit ‚Frauenmusik des Hoch- und Spätmittelalters‘. Auffällig ist, dass gerade diese Epochen- und Stildistinktion durch die größere Schrift den Fokus der einzelnen Programmpunkte markiert und nicht – wie sonst oft üblich – Komponist*innen oder Ensembles das zentrale Vermarktungsargument darstellen. Dass in den meisten Fällen noch nicht einmal die aufgeführten Werktitel genannt werden, fügt sich passend in das Bild einer Veranstaltung ein, die die oftmals unbekannte oder missachtete Vielfalt musikalischer Werke von Frauen über alle Jahrhunderte hinweg ins Zentrum der Betrachtung rücken möchte.

Das Bild der musikalisch-zeitlichen Breite wird auch auf dem Flyer des knapp zwei Jahre später stattfindenden Festivals Komponistinnen. Gestern – Heute sichtbar.6 Wenngleich der Fokus auch bei dieser Veranstaltung unmissverständlich auf komponierenden Frauen liegt, so wird in der Programmgestaltung doch auch die Strategie deutlich, die weniger kanonisierten weiblichen Komponistinnen mit männlichen Pendants zu verbinden.  

Komponistinnen gestern - heute, 1987

So gibt es neben Einzelporträts der Komponistinnen Ruth Schonthal und Johanna Kinkel auch ein zeitgenössisches Programm für zwei Klaviere, in dem sowohl Werke von Jacqueline Fontyn und Violeta Dinescu als auch von György Ligeti und Róbert Wittinger aufgeführt werden. Auch Clara Schumann wird kein eigener Abend gewidmet, stattdessen taucht sie in einem Programm gemeinsam mit ihrem Ehemann Robert Schumann auf. Dass selbst im Kontext solcher Frauenfestivals die Angehörigkeit zu einem berühmten männlichen Pendant aufführungsförderlich ist, zeigt das Quellenmaterial des Archivs Frau und Musik deutlich. Ebenso wie Felix Mendelssohns Schwester Fanny Hensel und mit etwas geringerer Frequenz Gustav Mahlers Frau Alma Mahler-Werfel gehört Schumann zu den am regelmäßigsten gespielten Persönlichkeiten.

Musik von Clara Schumann bei einer Veranstaltung des GEDOK-Forums, 1980

Berühmte männliche Angehörige werden so auch bewusst als Marketinginstrument eingesetzt. Bei einem Konzertprogramm des GEDOK-Forums von 1980 wird die Aufführung der beiden Mazurkas aus op. 6 vom Namen Clara Schumann begleitet, obwohl die Komponistin im Entstehungszeitraum der beiden Stücke noch ihren Geburtsnamen Wieck trug.  

Oftmals wird der Doppelname Wieck-Schumann genutzt, den die Komponistin nie führte. In dem untersuchten Fundus an Konzertdokumenten verwendet lediglich eine Veranstaltung den Namen Wieck, der für die dort erfolgte Aufführung eines bereits zu Jugendzeiten komponierten Klavierkonzerts historisch korrekt  ist. Dabei handelt es sich ausgerechnet um ein Konzert der Robert-Schumann-Gesellschaft. Dass der Name Wieck gerade in diesem Kreis von Schumann-Expert*innen auftaucht, in dem die Komponistin am allerwenigsten Einordnung bedarf, ist bezeichnend.

Konzertprogramme und ihre Vermarktungsformen weisen sich so als Zeugnisse ihrer Zeit aus. Technologische Veränderungen wie die Digitalisierung sind auch an den Orchestern nicht vorbeigezogen, nahmen aber im Vergleich zu vielen Subkulturen der Musikindustrie immer einen gewissen Sonderstatus ein. Die lange Zeit öffentlich gesicherte Finanzierung der klassischen Konzertkultur durch staatliche Förderung etwa sorgt bis heute dafür, dass Marketing in Orchestern insgesamt einen deutlich geringeren Stellenwert einnimmt als in der musikalischen Popkultur. Mitunter liegt das auch daran, dass Vermarktungsprozessen in diesem Bereich immer noch ein starkes Dogma der Kommerzialisierung aufliegt. Ein Konzert, das ‚verkauft‘ werden muss, ist mit der Idee einer Kunst um ihrer selbst willen nur schwer vereinbar.7 In zweiter Konsequenz werden deswegen auch Digitalisierungskonzepte vielerorts immer noch eher nebensächlich behandelt.

Gegenbeispiele finden sich zumeist bei den besonders bekannten und entsprechend hochfinanzierten Orchestern. Bei den Berliner Philharmonikern ist die digitale Vermarktung Teil einer festen Strategie. Geschriebene Bewerbungsformen treten hier zugunsten der Musik selbst zurück, die in ihrem tatsächlichen Klang für das Orchester spricht.8  So zeigt sich etwa auf dem Instagram-Account der Philharmoniker, wie stark Videos von Auftritten der Musiker*innen in den Vordergrund treten. Dadurch wird das tatsächliche Klangerlebnis noch mehr zentralisiert als durch das trotzdem noch immer gängige Vermarktungsmedium des Plakats.

Digitale Erkenntniswege

Während Vermarktungsstrategien bei vielen Orchestern so trotz signifikanter Ausnahmen doch vielerorts nach wie vor eher konservativ gehandhabt werden, ist doch zumindest eine parallele Archivierung der Konzertprogramme im Internet heute immer gängiger. Für Wissenschaftler*innen ist dies eine erfreuliche Entwicklung, wuchs doch gerade für Alltagsgegenstände wie die im 19. Jahrhundert üblichen Programmzettel erst allmählich ein historisches Bewusstsein.9 Im Sinne der unter anderem hier skizzierten Potenziale von Materialien der Konzertdokumentation für die Forschung digitalisiert das Frankfurter Archiv Frau und Musik die in seinem Besitz befindlichen Konzertflyer, Plakate und Programmankündigungen.10  Die teilweise bis in die 1940er-Jahre zurückreichenden Bestände werden dabei sowohl im META-Katalog des Deutschen Digitalen Frauenarchivs als auch in der Datenbank von musiconn.publish – dem Publikationsservice des Fachinformationsdienstes Musikwissenschaft – zu finden sein. Eine Kombination aus gescannten und online verfügbaren Digitalisaten sowie der Suchmöglichkeit verschiedener Metadaten wie Zeit und Ort, Komponist*innen, Interpret*innen oder Werken erhöhen zusätzlich die systematischen Recherchemöglichkeiten, die künftig der Erschließung und Beantwortung vieler Fragen zuträglich sein werden.

 

Veröffentlicht: 19. September 2023
Lizenz (Text)
Verfasst von
Jakob Uhlig

Musikwissenschaftler, Philipps-Universität Marburg

Empfohlene Zitierweise
Jakob Uhlig (2024): Zeitzeugnis, Botschaft, Vermarktung – zur Wichtigkeit von Konzertdokumentation, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/zeitzeugnis-botschaft-vermarktung-zur-wichtigkeit-von-konzertdokumentation
Zuletzt besucht am: 09.10.2024
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Fußnoten

  1. 1 Rolling Stone, 14.05.2021: Rock am Ring/Rock im Park: Mehr Diversität und Gender-Gerechtigkeit, Zugriff am 19.09.2023, unter: https://www.rollingstone.de/rock-am-ringrock-im-park-mehr-diversitaet-und-gender-gerechtigkeit-2262163/.
  2. 2 Ringger, Rolf Urs: Konzertpublikum und Konzertprogramm. Gedanken zu einer Reorganisation des heutigen Konzertbetriebs, in: Neue Zeitschrift für Musik, 133. Jg. 1972, H. 6, S. 303‒312, hier S. 303.
  3. 3 Vgl. hierzu etwa die Kritik bei Noeske, Nina: Gendering the Musical Canon vs. Canonizing Gender in Music? Musikwissenschaftliche Perspektiven, in: Kreutziger-Herr, Annette et al. (Hg.): Gender Studies in der Musikwissenschaft. Quo vadis?, Hildesheim 2010, S. 31‒47, hier S. 36.
  4. 4 Vgl. dazu etwa Lanzendörfer, Anselma: Name – Nummer – Titel. Ankündigungsformen im Konzertprogramm und bürgerliche Musikrezeption im 19. Jahrhundert, Hildesheim 2017, S. 11.Vgl. außerdem Engländer, Richard: Zur Geschichte des Konzertprogramms, in: Österreichische Musikzeitschrift, 16. Jg. 1961, H. 10, S. 465‒472, hier S. 465.
  5. 5 Vgl. zu einer Auflistung möglicher Analyseparameter von Konzertprogrammen etwa Pasler, Jann: Concert Programs and their Narratives as Emblems of Ideology, in: International Journal of Musicology, 2. Jg., 1993, S. 264 f.
  6. 6 Feld, Ulrike und Sperber, Roswitha: Komponistinnen. Internationales Festival – Dokumentation – 5 Jahre Heidelberg, Heidelberg 1989.
  7. 7 Mertens, Gerald: Orchestermanagement, Wiesbaden u. Heidelberg 2019, S. 59‒61. Vgl. auch Mertens, Gerald: Digitalisierung im Opern- und Konzertbetrieb. Ein Überblick, in: Das Orchester. Magazin für Musiker und Management, 68. Jg., 2020, H. 5, S. 6‒8, hier S. 7.
  8. 8 Soto-Setzke, David et al.: Digitale Transformation bei den Berliner Philharmonikern, in: Digitale Transformationen. Fallbeispiele und Branchenanalysen, hrsg. von Gerhard Oswald, Thomas Saueressig und Helmut Krcmar, S. 407‒432, hier S. 424.
  9. 9 Vgl. Grundmann, Ute: Alles im Netz. Programmzettel, LPs, CDs, Noten, Autografe: Digitalisierung bedeutet auch Sicherung der Dokumente, in: Das Orchester. Magazin für Musiker und Management, 68. Jg., 2020, H. 5, S. 20‒23, hier S. 21.
  10. 10 Vgl. zu weiteren Digitalisierungsprojekten dieser Art auch Wiermann, Barbara, 08.07.2009: Konzertprogramme online – Chancen für die Wissenschaft, Zugriff am 04.10.2022, unter: https://opus4.kobv.de/opus4-bib-info/frontdoor/index/index/docId/726.

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