Über Mütterzentrum e.V. Leipzig

Ab dem Frühjahr 1990 entstand in Leipzig eine lebendige feministische Infrastruktur, zu der auch die Mütterzentren zählten. Sie machten das Thema der Kinderbetreuung zum Politikum und trugen es in die Öffentlichkeit.

Das Private ist politisch – Notwendigkeit und Gründung des ersten Mütterzentrums in Leipzig

In den 1980er-Jahren entstanden in der DDR erstmals sogenannte Stillgruppen. Die stillenden Frauen, welche schnell engen Kontakt zueinander aufbauten, gerieten in einen intensiven, breit gefächerten Austausch über ihre gemeinsame Lebenssituation als Bürgerinnen der DDR. Im Fokus ihrer Diskussionen stand dabei zunächst das Thema Kinderbetreuung.1 So kamen die betroffenen Frauen auf die Idee, Mütterzentren zu etablieren/gründen, in denen diejenigen zusammenkamen, die keine Möglichkeit der Kitabetreuung hatten. Diese Zentren sollten das Thema Kinderbetreuung aus dem Privaten in die Öffentlichkeit bringen. Beim Gründungsprozess dieser Zentren ließen sich drei Typen unterscheiden: (1) Mütterzentren, als deren Initiatorinnen eben jene Stillgruppen und kirchlichen Gruppen galten. Hierzu gehörte zum Beispiel das Zentrum Leipzig Nordost. (2) Vom SOS Kinderdorf initiierte Mütterzentren. (3) Bereits bestehende Familienzentren, welche als Trägerinnen von Mütterzentren fungierten.2

Frauen organisieren sich

Im Jahr 1990 stellte auf einer Veranstaltung in der Moritzbastei das Mütterzentrum Salzgitter sich und sein Konzept vor. Eine Zuhörerin aus Leipzig trug es im Anschluss in die Arbeitsgruppe ‚Eltern und Kind‘, der zu diesem Zeitpunkt zehn Frauen angehörten. Sie beschlossen das Konzept aus Salzgitter in Leipzig umzusetzen und trafen sich dafür abwechselnd in ihren Wohnungen. Alle waren im Unabhängigen Frauenverband organisiert.3 Manche Frauen beschrieben ihr Leben als ewigen Kreislauf aus Haushalt, Kind versorgen und zuhause auf den Mann warten. Durch das Mütterzentrum wurde ihnen eine Möglichkeit eröffnet, diesen Kreislauf zu durchbrechen und etwas Neues zu schaffen, auch mit Kind.

Um das Konzept umzusetzen, wurde zunächst nach geeigneten Räumlichkeiten gesucht und Geld für deren Ausbau akquiriert. Durch die Unterstützung des Jugendamtes, einer Startfinanzierung durch die PDS und diverse Sachspenden von einzelnen Privatpersonen entstand in der Ludwigstraße 131 in Leipzig am 13. Oktober 1990 das erste Mütterzentrum in Leipzig.4 „Wir haben uns im Jugendhilfeausschuss vorgestellt, das Konzept vorgestellt, wir haben am Anfang auch eine Spende aus den Beständen der PDS bekommen für die Einrichtung einer Bibliothek, das war unsere erste Bibliothek, die wir da hatten“,5 sagte eine der Gründerfrauen über die Anfangszeit. Zu Beginn gab es dort „zwei kleine Erdgeschoßwohnungen – darin ein Café mit gutbestücktem

Bücherregal, eine Küche, ein Bad mit Wickelplatz, ein Kinderspielzimmer, ein kleiner Secand-Hand-Shop [sic!] für Baby- und Kinderkleidung.“6 Von Montag bis Sonntag in der Zeit von 9 bis 17 Uhr konnten Mütter vorbeikommen, wobei auch Väter herzlich willkommen waren und das Angebot des Mütterzentrums nutzen konnten. Die MÜZEL-Frauen, wie sie sich selbst nannten, waren jeden Montagabend im Mütterzentrum Leipzig anzutreffen und warteten auf neue interessierte Mütter, die mitwirken wollten. Frauen, die sich für das Mutterdasein entschieden, hatten häufig mit gesellschaftlicher Isolation zu kämpfen, welcher die MÜZEL-Frauen etwas entgegensetzen wollten.7 Das Private ist politisch und das spürten Frauen deutlich durch die Kürzungen der Kindertagesplätze. Die damit einhergehende erzwungene Zuhausbetreuung der Kinder schränkte die Selbstständigkeit ein und machte Erwerbsarbeit zum Teil unausführbar. Ein wichtiger Ansatzpunkt der Frauen war es, die Erziehungsarbeit auf alle zu verteilen und sich gegenseitig zu helfen. Den Müttern sollte es ermöglicht werden, sich einen Teil der Selbstbestimmtheit zurückzuholen und Kurse oder Dienstleistungen, wie Beratungen und Gesprächsrunden, zu nutzen.

Mütterzentrum als neue Chance

Eine der MÜZEL-Frauen, welche entscheidend in den Gründungsprozess involviert war, ist Raymonde Will. Während der Umbruchsjahre war sie im Verlag Reclam Leipzig tätig. „Und dann kam dieser Umbruch und ich bin als eine der ersten entlassen worden, natürlich, die jüngst dazugekommene Kollegin“8 , sagte sie im Interview mit der MONAliesA Leipzig. Doch die Möglichkeit, ihre Zukunft nun ganz neu denken und gestalten zu können, bewertete die Mutter eines kleinen Kindes trotz Arbeitslosigkeit und gesellschaftlicher Isoliertheit positiv.9 Bei einem Spaziergang bemerkte Frau Will eine Fremde mit einem damals noch eher ungewöhnlichem Baby-Tragetuch und sprach sie an. Die Frau stellte

dann den Kontakt zwischen Frau Will und den anderen Gründerinnen des Mütterzentrums her. Raymonde Will begriff es als eine große Chance, „sich etwas zu suchen und gleichzeitig mit ihren Kindern zusammen zu sein, also raus aus dieser verordneten Vollzeitbeschäftigung bei Ganztagsbetreuung der Kinder hin zu etwas Nützlichem, was aber auch mit Öffentlichkeit zu tun hat und die Kinder aber auch mit dabei sein lässt“.10

Steine werden aus dem Weg geräumt

Die Arbeit, welche die Frauen in den Mütterzentren leisteten, war gesellschaftlich als Privatangelegenheit abgestempelt und deshalb nicht als relevant anerkannt. Raymonde Will sagte im Interview, dass sie lange „belächelt und verlacht worden für: Ihr wollt Geld haben für öffentlich Kaffeetrinken. Ihr wollt irgendwo rumsitzen und labern, das könnt ihr doch auch reihum bei euren Freundinnen in der Wohnstube machen, da braucht ihr doch kein öffentlich gefördertes Projekt.“11 Natürlich tranken sie Kaffee in rauen Mengen, aber dass die Kinderbetreuung und die private Hausarbeit eben auch harte Arbeit waren und weit entfernt vom Faulenzen, wurde von vielen nicht anerkannt. Ganz wichtig war der Austausch über die Lebenssituationen der Frauen und zu merken, dass es anderen auch so erging und sie sich nicht länger in die Hausfrauenecke stecken lassen wollten.12

Es ging um existenzielle Fragen wie die Doppelbelastung, die sich aus der Haus- und der Lohnarbeit und der verordneten Vollzeitbeschäftigung ergab und es ging darum, wie die private Kinderbetreuung mit dem Berufsleben vereinbart werden konnte. Das Mütterzentrum war eine wichtige Alternative für die Kindertagesstätten und Frauen, denen die Nutzung dieser aufgrund von Vollzeitarbeit nicht möglich war. Die Öffnungszeiten der Kindertageseinrichtungen und auch Stellen der Erzieherinnen wurden radikal gekürzt, was für viele Mütter eine große Umstellung der Lebensrealität bedeutete.

Für sie war es schwer, politische Verbündete zu finden; sowohl von Linken als auch von Konservativen schlugen ihnen Vorurteile entgegen. Raymonde Will erinnert sich daran, dass die CDU ein sehr konservatives Frauen- und Familienbild vertrat, dem die Frauen nicht entsprachen. Die Parteien des linken Spektrums dagegen steckten sie eher in die „Mutti-Herd-Kindererziehung-Ecke“.13 Vorurteile schlugen ihnen entgegen, die behaupteten, dass sie nur den Errungenschaften der DDR entgegenwirken und die Frauen zuhause ruhig halten wollten. Die Frauen ließen sich jedoch von ihrem Vorhaben nicht abbringen und gingen beständig ihren Weg.

Ausbau und Vernetzung

1994, vier Jahre nach ihrer Gründung, zogen die Frauen ein Resümee ihrer Arbeit. Das Mütterzentrum Leipzig hatte nun drei Zentren aufgebaut und das vierte stand kurz vor der Eröffnung. Außerdem gab es Mütterzentren in Pirna, Zwickau, Sangerhausen und anderen ostdeutschen Städten. Im April 1994 fand eine große Tagung mit dem Thema ‚Mütterzentren in den neuen Bundesländern‘ statt. An dieser nahmen zahlreiche VertreterInnen von Jugendämtern, Gleichstellungsstellen, Vereinen, Mütter- und Familienzentren, Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen teil. Das Ziel, die Mütterzentren überregional bekannt zu machen und miteinander zu vernetzen, wurde erfolgreich umgesetzt.14 1995 gab es 17 Mütterzentren und 20 Familienzentren, weitere waren im Entstehungsprozess.15  

Stand: 27. April 2020
Verfasst von
Yvonne Plotz

Studium der Germanistik und Bibliothekswissenschaft, ehrenamtlich tätig in der feministischen Bibliothek MONAliesA in Leipzig

Empfohlene Zitierweise
Yvonne Plotz (2020): Mütterzentrum e.V. Leipzig, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/akteurinnen/muetterzentrum-ev-leipzig
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Netzwerk von Mütterzentrum e.V. Leipzig

Biografie von Mütterzentrum e.V. Leipzig

1980er

Als Vorläufer der Mütterzentren entstanden in der DDR erstmals sogenannte Stillgruppen.

13.10.1990

Gründung in Leipzig

Oktober 1990

Einrichtung der Räumlichkeiten, bestehend aus zwei kleinen Erdgeschoßwohnungen – darin ein Café mit gutbestücktem Bücherregal, eine Küche, ein Bad mit Wickelplatz, ein Kinderspielzimmer, ein kleiner Secand-Hand-Shop [sic!] für Baby- und Kinderkleidung.

Ab Oktober 1990

Von Montag bis Sonntag in der Zeit von 9 bis 17 Uhr konnten Mütter vorbeikommen,
wobei auch Väter herzlich willkommen waren.

Ab Oktober 1990

Jeden Montagabend Treffen der MÜZEL-Frauen.

1994

Seit der Gründung wurden drei Mütterzentren aufgebaut, ein viertes stand kurz vor der Eröffnung.

April 1994

Es fand eine große Tagung mit dem Thema ‚Mütterzentren in den neuen Bundesländern‘ statt.

1995

1995 gab es 17 Mütterzentren und 20 Familienzentren, weitere waren im Entstehungsprozess.

Fußnoten

  • 1Kontaktstelle für Mütterzentren in den neuen Bundesländern: Einfach beginnen – Mütterzentren in den neuen Bundesländern, Rodewisch 2000, S. 39.
  • 2Ebenda, S. 40.
  • 3Ebenda, S. 39.
  • 4Ebenda, S. 28.
  • 5Will, Raymonde, Interview durch Yvonne Plotz, Leipzig 2019, S. 6.
  • 6Das Mütterzentrum, 1991: Mütter im Zentrum – Im Mütterzentrum Leipzig, Zugriff am 20.2.2020 unter https://www.meta-katalog.eu/Record/74023monaliesa.
  • 7Will, Raymonde, 1990: [Das erste Leipziger Mütterzentrum], Zugriff am 20.2.2020 unter https://www.meta-katalog.eu/Record/73920monaliesa.
  • 8Ebenda, S. 1.
  • 9Ebenda, S. 2.
  • 10Ebenda, S. 3.
  • 11Ebenda, S. 4.
  • 12Kontaktstelle für Mütterzentren in den neuen Bundesländern: Einfach beginnen – Mütterzentren in den neuen Bundesländern, S. 5 f.
  • 13Will, Interview, S. 7.
  • 14Ebenda, S. 6.
  • 15Ebenda, S. 40.