„Es gibt nur eine Moral!“ – Die bürgerliche Frauenbewegung und ihre Debatten um Prostitution (1880 bis 1933)
Das Sprechen über Prostitution, bei dem es ja auch um Sexualität, Körpervorstellungen und gesellschaftliche Machtfragen geht, musste im 19. Jahrhundert erst langsam und mühsam erlernt werden. Zu schambesetzt und tabuisiert war dieses Thema, zu tief in der bürgerlichen Geschlechterordnung mit einem Schweigegebot – gerade für Frauen – belegt. So ist es kein Wunder, dass das Reden über Prostitution erst um 1900 in der bürgerlichen Frauenbewegung begann und sich vor allem dadurch auszeichnete, dass die Aktivistinnen über Prostituierte sprachen, aber nicht mit ihnen.
Es geht los
Nach einem gescheiterten Versuch in den 1880er-Jahren, einen ersten Frauenverein zu gründen, der sich dem Thema Prostitution zuwandte, setzte die Debatte um Prostitution in der bürgerlichen Frauenbewegung 1894 auf der ersten Generalversammlung des neu gegründeten Dachverbandes, dem BDF (Bund deutscher Frauenvereine), ein. Hier wurde eine Sittlichkeits-Petition verabschiedet, die die künftige Arbeit, aber vor allem die Position des BDF zur Prostitutionsfrage deutlich machen und als Petition an den Reichstag geschickt werden sollte. Hanna Bieber-Böhm, die sich zu diesem Zeitpunkt bereits seit über fünf Jahren mit diesem Thema in ihrem Verein Jugendschutz befasst hatte, verlas öffentlich ihren selbstverfassten Text. Damit versuchten zum ersten Mal Frauen im deutschen Kaiserreich innerhalb eines großen Verbandes miteinander das Problem der Prostitution und ihrer Regulierung zu besprechen. Das Unaussprechliche doch auszusprechen, war allerdings so schambesetzt, dass das Gespräch erst aufgenommen werden konnte, als der einzige anwesende Mann ausgeschlossen worden war.
Die große Ungerechtigkeit, die darin zum Ausdruck kam, dass nur Frauen für die Folgen der Prostitution belangt wurden, und die frauenverachtende Praxis der Reglementierung der Prostitution (Zwangsuntersuchungen, Dirnenlisten und Einschränkungen der persönlichen Freiheitsrechte) wurden auf dieser Sitzung als Themen für die Frauenbewegungen angenommen.
Allerdings arbeitete Bieber-Böhm nicht auf den Ideen des Abolitionismus, sondern favorisierte einen deutschen ‚Sonderweg‘, der international nicht anschlussfähig war. Während der Abolitionismus (von to abolish = abschaffen) darauf setzte, die polizeiliche Reglementierungspraxis gänzlich abzuschaffen und die Prostitution straffrei zu setzen, verlangte Bieber-Böhm weiterhin die Bestrafung von Prostituierten. 1899 gründeten Anna Pappritz in Berlin und Lida Gustava Heymann in Hamburg abolitionistische Zweigvereine und Anna Pappritz gelang es in den nächsten Jahren, den Abolitionismus als offizielle Politik des BDF zu etablieren; der Sonderweg von Bieber-Böhm wurde schließlich aufgegeben.1
Was will der Abolitionismus?
Das Ziel des Abolitionismus war es, die staatliche Reglementierung der Prostitution abzuschaffen. Unter der Reglementierung der Prostitution ist ein staatliches System zu verstehen, welches davon ausging, dass die Prostitution als ‚notwendiges Übel‘ nicht abzuschaffen sei und es deswegen darauf ankäme, die Prostitution für den nachfragenden Mann so ‚gesund‘ wie möglich zu gestalten. Dafür hatte sich ein polizeilich gesteuertes und vom Staat mitgetragenes System herausgebildet, welches versuchte, durch Zwangsuntersuchungen und Zwangsbehandlungen von Prostituierten dem Mann nur gesunde ‚Ware‘ anzubieten. Hierdurch etablierte sich eine Rechtspraxis, aber auch eine Moral, die für Männer und Frauen völlig unterschiedliche Auswirkungen hatte. So wurde der Mann für die Nutzung der Prostitution nicht moralisch verurteilt, die Frau jedoch schon. Die AbolitionistInnen gingen davon aus, dass es „unmöglich sei, die Volkssittlichkeit zu heben“ – also die Prostitution abzuschaffen –, „solange der Staat durch die Reglementierung der Prostitution das Laster quasi sanktioniert, indem er dem Manne eine gefahrlose Befriedigung seiner sexuellen Begierde garantiert. Die Reglementierung der Prostitution erleichtert dem männlichen Geschlecht die Benutzung der Prostitution. Sie bedeutet aber für alle Frauen eine tiefe Entwürdigung, denn der Staat stempelte einen Teil des weiblichen Geschlechts zur Ware und griff in ihre Menschenrechte ein, da er den Rechtsgrundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz verletzte. Obgleich der Prostitutionsverkehr die Verfehlung von zwei Beteiligten (Mann und Frau) zur Voraussetzung hat, so wird, durch die Reglementierung, nur die Frau getroffen, und somit bildet sie die Basis der ‚doppelten Moral‘“.2 Das Schlagwort der deutschen Abolitionistischen Föderation lautete deswegen auch: „Es gibt nur eine Moral, sie ist die gleiche für beide Geschlechter.“3
Die AbolitionistInnen lehnten eine direkte Bestrafung der Prostitution ab, da eine solche ja doch nur wieder die Frauen treffen würde. Stattdessen müsse es darum gehen – so gefordert auf dem Londoner abolitionistischen Kongress von 1894 –, der Frau in allen Bereichen des Lebens zur Gleichberechtigung zu verhelfen. Eng mit der Frage der Prostitution ist der Aus- und Aufbau einer weiblichen Polizei in Deutschland verknüpft. So stand Anna Pappritz im engen Austausch mit der ersten Polizeiassistentin Henriette Ahrendt in Stuttgart, die vor allem für die Prostitutionsregulierung eingestellt worden war.
Positionen innerhalb der Frauenbewegung
Durch die Gründung abolitionistischer Zweigvereine in Deutschland war die Situation entstanden, dass der BDF in seiner Prostitutionsarbeit auf die Position von Hanna Bieber-Böhm setzte und der Verband fortschrittlicher Frauenvereine den Abolitionismus bevorzugte.4 Die Position von Hanna Bieber-Böhm geriet ins Wanken, als Anna Pappritz 1900 mit ihrem Berliner abolitionistischen Zweigverein in den BDF eintrat und damit eine konkurrierende Sicht auf das Prostitutionsproblem etablierte. Pappritz erreichte relativ schnell eine Politikänderung des BDF.
Bereits zwei Jahre später, auf der Generalversammlung des BDF 1902 in Wiesbaden, nahm der Bund einen Antrag der AbolitionistInnen an. Durch die Annahme des Antrages und vor allem durch die Wahl der bekennenden Abolitionistin Anna Pappritz in den Vorstand des BDF verloren die Ansichten von Bieber-Böhm immer weiter an Ansehen. In den nächsten Jahren verdrängte Anna Pappritz Bieber-Böhm auch aus der Sittlichkeitskommission des BDF und erreichte es, dass der BDF in Fragen der Sittlichkeit den Abolitionismus propagierte. Anna Pappritz wurde durch ihr Engagement eine der profiliertesten Abolitionistinnen ihrer Zeit, die, zusammen mit Katharina Scheven, eine breite Publikationstätigkeit aufzuweisen hat.
Die abolitionistische Richtung war allerdings nicht lange die alleinige Antwort der Frauenbewegung auf die Frage nach dem Umgang mit Prostitution in der Gesellschaft. 1905 gründete sich in Berlin – unter großer öffentlicher Teilnahme – der Bund für Mutterschutz, der bis 1933 von Helene Stöcker geleitet wurde.5 Der Bund für Mutterschutz setzte sich für uneheliche Mütter und Kinder ein, forderte Sexualaufklärung und Sexualreform und propagierte auch eine Reform des Ehe- und Familienrechtes.6 Kerngedanke der von Stöcker propagierten ‚Neuen Ethik‘ war die Überzeugung, dass auch und gerade die sexuelle Verbindung zwischen Mann und Frau im Sinne einer gegenseitigen Achtung und Gleichberechtigung verändert werden müsse. Wenn diese gegenseitige Wertschätzung eintrete, würde der Prostitution ihr Grund entzogen.
Der größte abolitionistische Erfolg – das Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten (1927)
Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und der Demobilmachung der Truppen wuchs die Angst vor einer massenhaften Verbreitung von Geschlechtskrankheiten an der ‚Heimatfront‘ durch infizierte Soldaten. Deshalb erließ der Rat der Volksbeauftragten am 11. Dezember 1918 eine ‚Verordnung zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten‘, die bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 1927 Gültigkeit hatte.
In der Weimarer Republik nahm eine Sachverständigenkommission, in der auch Mitglieder der deutschen Abolitionistischen Föderation mitarbeiteten, ihre Arbeit auf. Die sozialen und gesellschaftlichen Veränderungen begünstigten die Idee der AbolitionistInnen, die Reglementierung der Prostitution abzuschaffen. Deshalb kam Anna Pappritz, die als Expertin aus der Frauenbewegung in der Sachverständigenkommission mitarbeitete, zu der optimistischen Einschätzung, dass sich im neuen Staat die abolitionistischen Ideen durchsetzen würden. Die Vorschläge dieser Sachverständigenkommission wurden sowohl dem bevölkerungspolitischen Ausschuss als auch der Regierung als Resolution vorgelegt – die AbolitionistInnen verstanden dies als die Krönung ihrer bisherigen Arbeit.7 1923 nahm der Reichstag das Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, welches auf den Vorarbeiten der Sachverständigenkommission fußte, in dritter Lesung mit einer knappen Mehrheit an. Die Historikerin Bettina Kretzschmar bezeichnet das Gesetz als erheblichen Fortschritt, „denn es schaffte die Reglementierung ab, behandelte die Prostitution im strafrechtlichen Sinne nicht mehr als Delikt, verbot Bordelle und Kasernierung, bestrafte die Gefährdung mit ‚venerischer Ansteckung‘ und richtete die Strafe für Vergehen gegen die öffentliche Sittlichkeit gegen beide Geschlechter.“8
Gegen das neue Gesetz erhob der Reichsrat aber bereits am 2. Juli 1923 Einspruch, sodass es nicht in Kraft treten konnte. Für die ohnehin personell geschwächte abolitionistische Bewegung war diese Wendung eine enorme Belastung. Trotzdem nahmen die wenigen Verbliebenen die Arbeit an einem neuen Gesetz ab 1925 wieder auf. Positiv für sie war, dass der 10. Ausschuss für Bevölkerungspolitik von Paula Müller-Otfried als Vorsitzende geleitet wurde, die sich schon als DEF-Vorsitzende zum Abolitionismus bekannt hatte. Obwohl der Anteil von Frauen im Ausschuss inzwischen 57 % erreicht hatte (16 Frauen und 12 Männer), waren nicht alle Frauen automatisch Abolitionistinnen – was zeigt, dass der Abolitionismus zu keinem Zeitpunkt als ‚natürlicher Frauenstandpunkt‘ definiert werden konnte. Schon vor der Weimarer Republik unterstützten auch Männer den Abolitionismus. 1926, am 24. November, übergab der Ausschuss dem Reichstag einen Gesetzentwurf, den dieser im Januar in vier Sitzungen beriet und nach einer Generaldebatte am 26. Januar 1927 mit knapper Mehrheit für ihn stimmte. Das Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten trat am 1. Oktober 1927 in Kraft und regelte künftig den staatlichen Umgang mit Prostitution. Der jahrzehntelange Kampf der AbolitionistInnen in der Frauenbewegung hatte dazu geführt, dass mit dem Prinzip der ‚doppelten Moral‘ gebrochen wurde und die Prostitution entkriminalisiert wurde.
Rückschritte
Dieser Fortschritt, der durch die jahrzehntelange Arbeit der bürgerlichen Frauenbewegung möglich geworden war, wurde wieder rückgängig gemacht, als die Nationalsozialisten die Regierung übernahmen und noch 1933 Gesetze erließen, die indirekt die Reglementierung der Prostitution wieder einführten.9 Damit wurde die jahrzehntelange Arbeit der AbolitionistInnen in der deutschen Frauenbewegung abgebrochen; eine Arbeit in diesem Sinne wurde nach dem Zweiten Weltkrieg weder in der frühen BRD noch in der DDR wieder aufgenommen. Der Blick der AbolitionistInnen auf den Freier und auf die zu erlangende Gleichberechtigung der Geschlechter verlor sich vollständig – die Neue Frauenbewegung diskutierte ab den 1960er-Jahren gänzlich anders über Prostitution; hier gab es diverse Stimmen – von der Forderung nach einem Verbot der Prostitution bis hin zu einem Prostitutionsgesetz. Interessant ist, dass ab 2014 der Abolitionismus in Deutschland wieder Fuß fasste und sich heute dezidiert für eine Beendigung der Prostitution ausspricht.
Fußnoten
- 1 Wolff, Kerstin: Anna Pappritz. Die Rittergutstochter und die Prostitution, Königstein /Ts. 2017.
- 2 Pappritz, Anna: Die abolitionistische Föderation, in: dieselbe (Hg.): Einführung in das Studium der Prostitutionsfrage, Teil 2, Leipzig 1919, S. 220–260, hier S. 222.
- 3 So lautet auch das Motto der abolitionistischen Zeitschrift Der Abolitionist, herausgegeben von Katharina Scheven.
- 4 Wolff: Anna Pappritz, Kapitel 2.
- 5 Zu Helene Stöcker siehe: Lütgemeier-Davin, Reinhold / Wolff, Kerstin (Hg.): Helene Stöcker: Lebenserinnerungen, Böhlau 2015.
- 6 Zur Position des Bundes für Mutterschutz innerhalb der Sexualwissenschaft siehe: Sigusch, Volkmar: Geschichte der Sexualwissenschaft, Frankfurt a. M./New York 2008, Kapitel 11: Neue Ethik, Mutterschutz und freie Liebe. Stöcker ist damit die einzige Frau, der Sigusch ein eigenes Kapitel widmet.
- 7 Siehe: Bettina Kretschmar: "Gleiche Moral und gleiches Recht für Mann und Frau". Der deutsche Zweig der Internationalen abolitionistischen Bewegung (1899-1933), Sulzbach i.Ts. 2014, S. 275 f.
- 8 Ebenda, S. 280.
- 9 Hartmann, Ilya: Prostitution, Kuppelei, Zuhälterei. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870, Berlin 2006, S. 201 f.