Über Helene Stöcker
„Ganz im Gegensatz zum kategorischen Imperativ, dass jeder Mensch als Selbstzweck, nicht als Mittel zu betrachten sei, ist die Frau in der alten Sexualmoral bisher nicht als Mensch, als Seele, als Persönlichkeit gewertet worden, sondern als Sache, als Leib, als Mittel zum Genuss oder Kindergebärerin.“1
Die deutsche Frauenrechtlerin, Philosophin und Publizistin gilt als Vertreterin des radikalen Flügels der Historischen Frauenbewegung, die Fragen der Geschlechterbeziehungen sowie der Sexualreform in den Mittelpunkt ihres Wirkens stellte. In ihrer Philosophie der Neuen Ethik erkannte Stöcker nicht die Ehe, sondern ausschließlich die Liebe als Legitimation für sexuelle Beziehungen an. Sie plädierte für die Überwindung der Unterdrückung der Sexualität und bekämpfte den Status der Frauen als Sexualobjekt.
Kindheit und Jugend
Hulda Caroline Emilie Helene Stöcker wurde am 13. November 1869 in Elberfeld (heute Wuppertal) als älteste Tochter des Textilfabrikanten Peter Heinrich Ludwig Stöcker und dessen Frau Hulda (geborene Bergmann) geboren. Helene Stöcker wuchs in einem streng religiösen Elternhaus auf, das stark vom Calvinismus und der rigiden Frömmigkeit des Vaters geprägt war. Über ihre Kindheit und Jugend ist kaum etwas bekannt. Eine wesentliche Quelle stellt ihre unvollendete Autobiografie dar.2 Nach Beendigung der Volksschule besuchte Stöcker die Höhere Töchterschule. „Was die Mitschülerinnen betraf, so war ich ein zurückhaltendes und schüchternes Kind im Ganzen“3, beschrieb sich Stöcker in ihrer Autobiografie. Bereits in der Schule fiel ihre schriftstellerische Begabung auf.4 Neben dem Schreibtalent besaß sie ein ausgeprägtes Lesebedürfnis, das „durchaus nach kritischer Auswahl und nicht allein nach Quantität strebte.“5
Sturm und Drang nach Bildung und Frauenstimmrecht
Nach Beendigung der Höheren Töchterschule wollte Helene Stöcker das Lehrerinnenexamen in Berlin ablegen. Doch „niemals hatte ich den Wunsch, den Beruf einer Lehrerin auszuüben; aber es schien mir die einzige damals erreichbare Möglichkeit, eine höhere Bildung zu gewinnen“, so Stöcker in ihren Lebenserinnerungen6. Im Jahr 1892 zog sie im Alter von 21 Jahren nach Berlin und legte dort 1893 das Lehrerinnenexamen für Höhere Mädchenschulen ab. Im gleichen Jahr veröffentlichte sie ihren Aufsatz Die moderne Frau, in dem sie die finanzielle Unabhängigkeit vom Ehemann zur Voraussetzung für ein erfülltes und freies Leben der Frauen und für eine partnerschaftliche Beziehung der Geschlechter erklärte. Im Anschluss an ihr Examen besuchte Helene Stöcker einen Gymnasialkurs bei Helene Lange. In dieser Zeit kam sie mit Minna Cauer und anderen radikalen Vertreterinnen der Frauenbewegung, die mit Beginn der 1890er-Jahre an Einfluss gewann, in Kontakt und schrieb kurze Rezensionen, Novellen und Gedichte für die von Cauer herausgegebene Zeitschrift Die Frauenbewegung.
Als 1896 in Berlin Frauen als Gasthörerinnen an den Universitäten zugelassen wurden, begann Stöcker ein Studium der Nationalökonomie, der deutschen Literatur und der Philosophie. Im gleichen Jahr gründete sie den Verein Studierende Frauen, in dem halbmonatliche Vorträge für Frauen und Männer gehalten wurden. Doch weil sie in Berlin als Gasthörerin keinen Universitätsabschluss machen durfte, ging Helene Stöcker nach Bern, wo sie 1901 als eine der ersten Frauen in Literatur promovierte.
Kampf für die sexuelle Selbstbestimmung und eine ‚Neue Ethik‘
Vor und während ihres Studiums setzte Helene Stöcker ihr Engagement in der Frauenbewegung fort. Am 18. Mai 1898 forderte sie in ihrer ersten öffentlichen Rede im Rahmen einer Protestversammlung des Vereins Frauenbildung – Frauenstudien die freie Zugangsberechtigung zu Bildungseinrichtungen sowie die staatsbürgerliche Gleichstellung von Frauen. Zusammen mit anderen Vertreterinnen des radikalen Flügels der Frauenbewegung wie Minna Cauer, Lida Gustava Heymann und Anita Augspurg gründete sie den Verband für Frauenstimmrecht.
Im Zuge ihrer Arbeit in der radikalen Frauenbewegung richtete Helene Stöcker ihre Aufmerksamkeit auf das Thema Sexualität und auf die schwierigen Lebensbedingungen unehelicher Mütter. Gemeinsam mit Lily Braun, Adele Schreiber und anderen Akteurinnen der proletarischen Frauenbewegung gründete Stöcker 1905 den Bund für Mutterschutz und Sexualreform. Die ideelle beziehungsweise philosophische Basis des Bundes bildete die von Helene Stöcker entwickelte Idee der ‚Neuen Ethik‘7. In Anlehnung an Friedrich Nietzsches Umwertung aller Werte forderte Stöcker eine Neubestimmung der Sexualmoral.
Sie wandte sich gegen die kirchliche Definition der körperlichen Liebe als Laster und forderte das Recht auf sexuelle Lust und auf sexuelle Selbstbestimmung der Frauen über ihren eigenen Körper.
Obwohl Stöcker selbst von 1905 bis 1931 unverheiratet mit dem Berliner Rechtsanwalt Bruno Springer zusammenlebte, blieb in ihrer Philosophie der ‚Neuen Ethik‘ die Ehe das Ideal der Mann-Frau-Beziehung.8 Dennoch forderte sie die Anerkennung nichtehelicher Lebensgemeinschaften, die Gleichstellung unehelicher Kinder und die Einführung einer staatlichen Mutterschaftsversicherung. Für ledige Mütter richtete der Bund für Mutterschutz und Sexualreform Heime ein. Stöcker engagierte sich für frühzeitige Sexualaufklärung und den Zugang zu Verhütungsmitteln. Ihre Forderungen umfassten auch die uneingeschränkte Legalisierung des selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruchs bei Vergewaltigung, bei Gefahr für das Leben der Mutter, bei wirtschaftlicher Not und bei zu erwartender körperlicher und geistiger Schwäche des Kindes. Ferner setzte sich Helene Stöcker auch für die Abschaffung des § 175 ein, der männliche Homosexualität unter Strafe stellte und über dessen Ausdehnung auf weibliche Homosexualität immer wieder debattiert wurde.
Helene Stöcker war von 1908 bis 1933 Schriftleiterin der Zeitschrift des Bundes Die Neue Generation. In ihren Artikeln und weiteren Publikationen äußerte sie sich auch zu dem Thema Eugenik.9 Aufgrunddessen gibt es gelegentlich Forschungsansätze, die Stöcker als Eugenikerin bezeichnen bzw. sie für die frühe Etablierung eines eugenischen Menschenbildes - welches später zu einer zentralen Grundlage der NS-Rassenideologie werden sollte - mitverantwortlich machen. Jüngste Studien, wie die von Annegret Stopczyk-Pfundstein und Reinhold Lütgemeier-Davin / Kerstin Wolff, plädieren hingegen für eine differenzierende und kontextualisierende Betrachtungsweise. 10
Pazifismus und Exil
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs erschütterte Helene Stöcker, die an den Fortschritt der Menschheit und an eine Höherentwicklung von Kultur und Moral geglaubt hatte, zutiefst. Sie nahm am Internationalen Frauen-Friedenskongress in Den Haag teil und arbeitete von nun an in vielen pazifistischen Organisationen mit. Auch nach Kriegsende lag Stöckers Schwerpunkt nun auf dem pazifistischen Engagement. Ihrer Ansicht nach konnte es „kein wahres und individuelles, kein Liebes- und Elternglück“ geben, „solange die Grundlagen unseres staatlichen Lebens untergraben und zerrüttet sind.“11 Zusammen mit anderen pazifistisch orientierten Radikalen wie Lida Gustava Heymann vertrat sie das Stereotyp des von Natur aus friedfertigen Wesens der Frau und folgerte daraus, dass allein eine größere Beteiligung der Frauen an der Macht künftige Kriege vermeiden könne.
Als sie am 13. November 1929 ihren 60. Geburtstag feierte, war die Frauenrechtlerin und Pazifistin auf dem Höhepunkt ihrer Popularität. Rund 400 Zeitschriften im In- und Ausland würdigten ihre Arbeit.
Allerdings nahm ihr Einfluss gegen Ende der Weimarer Republik zusehends ab. Zugleich verfolgte sie mit großer Sorge den Aufstieg der Nationalsozialist/innen. Nach dem Reichstagsbrand flüchtete die 63-Jährige vor dem NS-Regime über die Tschechoslowakei, die Schweiz, England, Schweden, Russland und Japan in die USA. Am 23. Februar 1943 starb Helene Stöcker verarmt und vereinsamt im New Yorker Exil.
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Zitate von Helene Stöcker
Biografie von Helene Stöcker
Fußnoten
- 1 Stopczyk-Pfundstein, Annegret: Philosophin der Liebe. Helene Stöcker. Die „Neue Ethik“ um 1900 in Deutschland und ihr philosophisches Umfeld bis heute, Stuttgart 2003, S. 146–147.
- 2 Lütgemeier-Davin, Reinhold / Wolff, Kerstin (Hg.): Helene Stöcker. Lebenserinnerungen. Die unvollendete Autobiographie einer frauenbewegten Pazifistin, in: L´HOMME Archiv. Quellen zur Feministischen Geschichtswissenschaft, Bd. 5, 2015.
- 3 Lütgemeier-Davin / Wolff: Helene Stöcker, S. 33.
- 4 Wickert, Christel: Helene Stöcker 1869–1943. Frauenrechtlerin, Sexualreformerin und Pazifistin. Eine Biographie, Bonn 1991, S. 20.
- 5 Lütgemeier-Davin / Wolff: Helene Stöcker, S. 49.
- 6 Ebenda, S. 51.
- 7 Stopczyk-Pfundstein, Annegret: Philosophin der Liebe. Helene Stöcker. Die „Neue Ethik“ um 1900 in Deutschland und ihr philosophisches Umfeld bis heute, Stuttgart 2003.
- 8 Lütgemeier-Davin / Wolff: Helene Stöcker, S. 287.
- 9 Ebenda, S. 290.
- 10 Ebenda, S. 290 f.
- 11 Stöcker, Helene: Mutterschutz und Pazifismus!, in: Neue Generation, 15 Jg, 1919, H. 2, S. 61–68, hier S. 67.