Über Luise Zietz
Luise Zietz verfasste 1919 für die Zeitschrift Die Kämpferin einen kurzen Bericht über ihre Kinderjahre. Sie schilderte darin ungeschminkt und eindrücklich die Lebenssituation ihrer Familie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der Familie eines Wollwirkers, die ebenso verzweifelt wie aussichtslos versuchte, die Folgen der Industrialisierung und den Niedergang des Handwerks der Wollweber und -wirker aufzuhalten. Trotz härtester Arbeit, die auch die Kinder zu leisten hatten, herrschte drückende Armut.1 Als Jugendliche versuchte Luise Körner, wie sie damals noch hieß, sich als Dienstmädchen und Fabrikarbeiterin durchzuschlagen. Schließlich gelang es ihr, eine Ausbildung als Kindergärtnerin am Fröbelseminar zu absolvieren. Sie lernte den Hafenarbeiter Karl Zietz und mit ihm die Sozialdemokratie kennen. Die Ehe währte nicht lange, doch in der SPD hatte sie ihren Lebensinhalt und ihre Heimat gefunden.
Ungeahnte Talente
Der Weg zur mitreißenden Rednerin und erfolgreichen Publizistin war beschwerlich für Luise Zietz – so wie für viele andere Protagonistinnen der proletarischen Frauenbewegung, denn ihre Herkunft und die Bedingungen ihrer Kindheit und Jugend boten dafür kaum Chancen. Doch in der SPD „fand sie Verständnis für ihr Streben nach Wissen, hier fand sie auch den Weg zu Bildungsmöglichkeiten, zu Vorträgen, Unterricht und Büchern.“2 Bald zeigte sich ihre immense Begabung: Sie wurde eine gefragte Rednerin, die die Menschen mitreißen und überzeugen konnte; Veranstaltungen mit ihr waren ein Garant dafür, dass die ausliegenden Beitrittsformulare der SPD in großer Zahl ausgefüllt wurden. Doch sie sprach nicht nur, sie schrieb auch. Häufig verfasste sie – mit einem heute irritierenden pädagogischen Impetus – Agitationsschriften, die sich an Frauen und junge Mädchen richteten. Daneben publizierte sie – wie die Historikerin Gisela Notz herausgearbeitet hat3 – gründlich recherchierte Analysen, historische, theoretische und soziologische Arbeiten etwa zur Situation der LandarbeiterInnen4, zu Frauen in der Politik und zur Frauenerwerbsarbeit5. Ihre erfolgreiche Agitationstätigkeit führte schließlich zum innerparteilichen Aufstieg.
Als erste Frau im SPD-Parteivorstand
1908 wurde in Preußen das Vereinsrecht geändert: Frauen durften nun endlich politischen Parteien beitreten. Zuvor war politische Arbeit für sie gefährlich gewesen. Auch Luise Zietz hatte häufig erlebt, dass ihre Veranstaltungen polizeilich verboten wurden, sie hatte für unerlaubte politische Betätigung Geldstrafen zu zahlen und Gefängnisstrafen abzusitzen. Lida Gustava Heymann schilderte eine solche Situation: „Ruhig und gelassen erduldete sie, wegen Anschlagung eines Plakates, welches die Männer zu feige waren anzuheften, eine Gefängnisstrafe in Hamburg, wobei sie gleich einer Prostituierten einer körperlichen Untersuchung unterstellt wurde.“6
Sobald es rechtlich möglich war, erwarb Luise Zietz das Parteibuch und wurde umgehend in den Parteivorstand gewählt. Das war ein Affront gegenüber Clara Zetkin, der eigentlichen Frontfrau der SPD, die sich seit 20 Jahren in der Partei und auch in der Sozialistischen Internationale einen Namen gemacht hatte und mit der Zeitschrift Die Gleichheit innerparteilich über ein nicht unbedeutendes Medium verfügte. Doch war Zetkin der männlichen Führungsspitze in ihrer revolutionären Ausrichtung und ihrem eigenwilligen Auftreten wohl zu radikal. Für den Parteivorstand war Luise Zietz, obwohl auch eine temperamentvolle Genossin, weniger bedrohlich und somit kompatibler. Von 1909 bis zur Spaltung der Partei 1917 blieb sie als Sekretärin für Frauenfragen im Parteivorstand. Sie war die erste Frau nicht nur im Parteivorstand der SPD, auch keine andere Partei in Deutschland hatte jemals zuvor eine Frau im Vorstand gehabt.
Von der Kriegshilfe zur Kriegsgegnerin
Der Erste Weltkrieg bewirkte bei Luise Zietz zunächst eine Positionsänderung bezüglich der Bürgerlichen Frauenbewegung. Hatte sie bisher, in diesem Punkt gänzlich in Übereinstimmung mit Clara Zetkin, jede Zusammenarbeit abgelehnt – „Wir haben Wichtigeres zu tun, als auf Konferenzen bürgerliche Frauen vor ihren Dummheiten zu bewahren“7 –, so betrieb sie nun aktiv die Eingliederung der Sozialdemokratinnen in die Kriegshilfe. Der Einsatz der Genossinnen war in den einzelnen Orten unterschiedlich: „Hier galt es, sich in den Dienst der kommunalen Hilfsaktion zu stellen, […] dort übernahmen sie […] die Hilfeleistung aus eigener Kraft, und wieder anderswo arbeiteten sie mit den bürgerlichen Frauen Hand in Hand.“8 In der diesem Zitat folgenden Aufstellung der Bezirke ist ganz überwiegend die Bemerkung „mit den Bürgerlichen zusammen“ zu finden.9
Zwar hatte Luise Zietz 1912 in ihrem Buch Die Frauen und der politische Kampf dazu aufgerufen, sich gegen den drohenden Krieg zu stellen, doch an der
Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz 1915 in Bern, die vom Parteivorstand nicht gebilligt worden war, nahm sie nicht teil. Im Laufe der ersten beiden Kriegsjahre scheint sich ihre Einstellung jedoch geändert zu haben. Sie äußerte sich seither deutlich kritischer zur Burgfriedenspolitik der SPD und stellte ihre Mitarbeit im Nationalen Frauendienst ein. 1917 gehörte sie zu den Gründer*innen der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD), die sich von den Mehrheitssozialisten (MSPD) abspaltete.
Im Parlament für die USPD
Mit der Novemberrevolution endete 1918 die Monarchie in Deutschland. An den ersten freien, gleichen, geheimen und direkten Wahlen konnten erstmals auch Frauen teilnehmen. Luise Zietz vertrat die USPD in der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung von Weimar und ab 1919 als Abgeordnete im Reichstag. So engagiert wie in der Partei trat sie auch im Parlament auf. Ihre Zwischenrufe waren gefürchtet, ihr Auftreten wurde als wenig weiblich empfunden – ein Urteil, mit dem energische Politikerinnen bis heute konfrontiert werden. Luise Zietz bedauerte heftig, dass es den Frauen im Parlament so selten gelang, parteiübergreifend zu agieren. „Ein Zusammengehen aller weiblichen Abgeordneten, um für ihre ‚ärmeren Schwestern‘ etwas durchzusetzen, oder um für alle Frauen eine Umgestaltung des kapitalistisch zugeschnittenen bürgerlichen Rechts zu erreichen, war unmöglich.“10 Das zeigte sich zum Beispiel, als die Rechte unehelicher Kinder und lediger Mütter oder die Abschaffung der Reglementierung der Prostitution verhandelt wurden. Auch die Ausweitung des Mutterschutzes und die Erhöhung des Krankengeldes konnte die sozialdemokratische Fraktion nicht durchsetzen. „Kapitalsinteressen wurden höher bewertet als warmes Menschenleben“11, warf sie ihren Kolleginnen aus den bürgerlichen Parteien vor.
Ob sie im Laufe der Zeit vielleicht doch mehr hätte erreichen können, muss dahingestellt bleiben. Luise Zietz blieben gerade einmal zwei Jahre als Abgeordnete. Sie starb überraschend im Januar 1922 im Alter von nur 56 Jahren.
‚In den Sielen gestorben ‘
In der Reichstagssitzung am 26. Januar erlitt sie einen Herzinfarkt und starb am nächsten Tag. „The prominent leader of the Independent Socialists Party and pioneer for women’s freedom [...] like a brave soldier has sunk on the battlefield”12, schrieb Marie Stritt, ehemals Präsidentin des Weltbundes für Frauenstimmrecht, in ihrem Nachruf. „Solange sie lebte, schaffte sie: der Tod nur konnte sie zur Ruhe zwingen“13, war der Kommentar der Genossin Clara Bohm-Schuch. In vielen Nachrufen wurde gleichermaßen bedauert wie gewürdigt, dass der frühe Tod von Luise Zietz ihrem unermüdlichen Einsatz und ihrem enormen Arbeitspensum geschuldet war. Es herrschte aber an ihrem Grab auch eine ganz überraschende Einigkeit: Alle drei sozialistischen Parteien14, MSPD, USPD und KPD, sandten Kränze und lobten die verstorbene Genossin in seltener Einmütigkeit. Und die weiblichen Reichstagsabgeordneten hatten – nun endlich fraktionsübergreifend – einen gemeinsamen Kranz mit weißen Schleifen geschickt! Die Beisetzung muss eine Großveranstaltung gewesen sein. „Die Spitze des Zuges bildete eine Kapelle der Straßenbahner. Mit zahlreichen, meist umflorten roten Fahnen folgte die Jugend, vor Urnen- und Kranzwagen, Zentrale und Fraktion unserer Partei, die Kranzdeputationen.“15 Auswärtige Delegationen hatten vorab Karten für die Teilnahme buchen müssen.
Angesichts dieses Aufmarsches und der zahlreichen zeitgenössischen Würdigungen befremdet es heute, dass auch Luise Zietz, wie so viele Protagonistinnen der proletarischen Frauenbewegung, in der historischen Wahrnehmung unverdienterweise ein wenig hinter Clara Zetkin verblasst. Dazu mag auch beigetragen haben, dass ihr Nachlass nicht überliefert wurde. Die Rekonstruktion ihres Lebens und Wirkens kann sich nur auf ihre Publikationen und die Erzählungen von Zeitgenoss*innen stützen. Alle sozialdemokratischen, sozialistischen und kommunistischen Parteien haben Luise Zietz im Laufe der Zeit als Ahnfrau der Partei für sich reklamiert. Ihr Grab liegt in der Ringmauer der Gedenkstätte der Sozialisten in Berlin-Friedrichsfelde.
Netzwerk von Luise Zietz
Zitate von Luise Zietz
Biografie von Luise Zietz
Fußnoten
- 1 Zietz, Luise: Wie wir Kinder beim Brotverdienen helfen mußten, in: Die Kämpferin, 1919, H. 2; nachgedruckt in: Emmerich, Wolfgang (Hg.): Proletarische Lebensläufe, Band 1, Reinbek 1974, S. 180‒182.
- 2 Juchacz. Marie: Sie lebten für eine bessere Welt, Hannover 1971, S. 64.
- 3 Vgl. dazu: Notz, Gisela: Alle, die ihr schafft und euch mühet im Dienste anderer, seid einig! Luise Zietz, geb. Körner (1865-1922), in: JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 2. 2003, S. 143.
- 4 Zietz, Luise: Landarbeiter und Sozialdemokratie, Zugriff am 16.08.2021 unter https://digitalisate.sub.uni-hamburg.de/de/nc/detail.html?tx_dlf%5Bid%5D=46431&tx_dlf%5Bpage%5D=1&tx_dlf%5Bpointer%5D=0
- 5 Zietz, Luise: Zur Frage der Frauenerwerbsarbeit während des Krieges und nachher, Zugriff am 16.08.2021 unter https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb11127837?page=,1
- 6 Heymann, Lida Gustava: Luise Zietz, in: Die Frau im Staat, 4. Jg. 1922, H. 3, S. 5.
- 7 Zitiert nach: Juchacz, Marie: Sie lebten für eine bessere Welt, S. 66.
- 8 Zietz, Luise: Die sozialdemokratischen Frauen und der Krieg, Berlin 1915, S. 4.
- 9 Ebenda, S. 4 f.
- 10 Zietz, Luise: Die Frauen im Reichsparlament, in: Die Vorkämpferin, Band 15, 1920, H. 6, S. 2.
- 11 Ebenda, S. 3.
- 12 Stritt, Marie: Nachruf in: International Women’s News, Zugriff am 21.2.2022 unter: https://frauabgeordnete.wordpress.com/2021/04/27/twitterthread-luisezietz/.
- 13 Bohm-Schuch, Clara: Luise Zietz zum Gedächtnis, in: Vorwärts vom 2.2.1922, Zugriff am 21.2.2022 unter: https://frauabgeordnete.wordpress.com/2021/04/27/twitterthread-luisezietz/.
- 14 Aufgrund unterschiedlicher Positionen zum Krieg hatte sich die SPD 1917 in Mehrheitssozialisten (MSPD) und Unabhängige Sozialdemokratie (USPD) gespalten; aus den Reihen letzterer entstand 1919 die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD). Näheres dazu: https://de.wikipedia.org/wiki/Sozialdemokratische_Partei_Deutschlands#1914_bis_1919:_Erster_Weltkrieg,_Spaltung,_Novemberrevolution (Zugriff am 21.2.2022).
- 15 Die Freiheit, 6. Februar 1922, Zugriff am 13.08.2021 unter: https://frauabgeordnete.wordpress.com/2021/04/27/twitterthread-luisezietz/.
Ausgewählte Publikationen
-
Notz, Gisela : Alle, die ihr schafft und euch mühet im Dienste anderer, seid einig! Luise Zietz, geb. Körner (1865–1922), in: JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 2. 2003, S. 135‒149.
-
Spillner, Marina: Zietz, Luise (geb. Körner). In: Manfred Asendorf, Rolf von Bockel (Hrsg.): Demokratische Wege. Deutsche Lebensläufe aus fünf Jahrhunderten, Stuttgart, Weimar 1997, S. 709‒711.