„So entsteht eine Legende!“ – Digitalisierung der Programmbestände von musica femina münchen
2022 feiert der Verein musica femina münchen (mfm) sein 34-jähriges Bestehen und damit auch die Musik von Frauen für und in München. 34 Jahre Pionierinnenarbeit – bis heute. Bis heute? Das belegt eine Studie von Melissa Panlasigui, die im März 2021 erschien und im Auftrag von musica femina münchen und des Archivs Frau und Musik Frankfurt am Main entstand. Dafür untersuchte Melissa Panlasigui rund 130 deutsche Berufsorchester nicht nur auf Personaldaten in Leitungspositionen, sondern vor allem auf den Anteil von Komponistinnen in den Konzertprogrammen. Sie kam zu dem Schluss, dass Werke von Komponistinnen in den großen Abonnementreihen weniger als zwei Prozent ausmachten, der Frauenanteil am Dirigierpult sieben Prozent betrug.1 Die Zahlen unterstreichen die noch immer immens wichtige Arbeit von mfm für die Verbreitung von Musik von Frauen.
Daher wussten die Münchener Musikfrauen um die Bedeutung guter Dokumentation nicht nur von Aufführungen, sondern vorausschauend auch als Grundlage für Forschung zukünftiger Generationen.
Bausteine für eine tragfähige Stadt der Frauen
München hat eine reichhaltige Frauenemanzipationsgeschichte, zum Beispiel mit der Schauspielerin und Juristin Dr. Anita Augspurg (1857–1943) und den Frauen um Sophia Goudstikker (1865–1924), deren Fotoatelier Elvira bedeutendes Zentrum dieser fortschrittlichen Denkerinnen und Pionierinnen in der sogenannten Ersten Frauenbewegung war. Informationen liefert dazu auch die LGBTIQ-Chronik des Forums Queeres Archiv München, in dem sich einzelne emanzipatorische Stationen auch zur Frauenmusikgeschichte nachlesen lassen2. Außerdem wird in Band 5 der ThemenGeschichtsPfade auf die Bedeutung von mfm für die Stadt München eingegangen.3 2014 feierte zudem der Stadtbund Münchner Frauenverbände sein 100-jähriges Bestehen, in dem mfm langjähriges Mitglied ist und der zum Erhalt von mfm in einer Vereinskrise Ende der 2000er-Jahre beitrug. 1982 gründete sich in der Zweiten Welle der Frauenbewegung unter anderem das Kommunikationszentrum für Frauen zur Arbeits- und Lebenssituation (Kofra) und 1985 die Sirenen – Münchener Musikfrauen, die sich im Kofra trafen, um sich auszutauschen und Workshops anzubieten. Noch vor mfm-Gründung trafen sich dort auch spätere mfm-Vorstandsfrauen aus dem klassischen Musikbereich.
Die Sirenen veranstalteten vom 30. April bis 3. Mai 1987 ein Frauenmusikfestival mit Schwerpunkt Rockmusik, wovon ein Programmheft zeugt – ihm gingen bereits weitere Frauenmusikfestivals voraus. Am letzten Tag dieses Festivals wurde auch klassische Musik von Komponistinnen in der Musikhochschule Arcisstraße geboten. Renate Lettenbauer, Musik-Pionierin der ersten Stunde, erzählte dazu: „Eine der Mitfrauen [der Sirenen, Anm. der Autorin], Margaret Minker, befand, dass ihr die klassische Musik insgesamt zu kurz käme und dass sie gerne einen größeren Rahmen für Komponistinnen in diesem Bereich schaffen würde. Also wagten wir den Test und organisierten gemeinsam ein Konzert im Carl-Orff-Saal im Münchener Gasteig, bei dem nur Werke von Komponistinnen aufgeführt wurden. Interpretinnen waren ein Streichquartett und ich als Sängerin mit meiner Pianistin.“4 Highlight dieses ersten Konzerts, das zum Internationalen Frauentag 1988 mit 400 verkauften Eintrittskarten ein großer Erfolg wurde, war Fanny Hensels Klavierquartett As-Dur (1822) – als Uraufführung.
„Im Herbst desselben Jahres gründeten wir den Verein musica femina münchen“5, so Renate Lettenbauer. Gründungsmitglieder waren/sind Margaret Minker (Initiatorin, 1. Vorsitzende), Bettina Rumpler (2. Vorsitzende), Renate Lettenbauer (3. Vorsitzende), Dr. Helga Kästner, Inge Köhle, Anni Kraus, Elisabeth Prossel und Susanne Weinhöppel6. 1995 gründete mfm das Komponistinnen-Archiv München (KAM), dessen Bestand sich bereits seit 2001 im Frankfurter Archiv Frau und Musik befindet und inhaltlich von den nun digitalisierten Programmmaterialien abweicht durch zum Beispiel Ergänzung von Zeitungsberichten über die Konzerte und alles, was Komponistinnen in dieser Zeit generell betraf und für mfm interessant war. Im KAM finden sich auch Daten über Komponistinnen und die Fundorte ihrer Werke in München aus den mfm-Beständen und Münchener Bibliotheken sowie Korrespondenz mit Komponistinnen und Zeitungsmeldungen zu diesem Thema, gesammelt in der Geschäftsstelle von mfm.
Wunsch nach Fortschritt
Als Idee von Mary Ellen Kitchens – im Vorstand des Internationalen Arbeitskreis Frau und Musik/Archiv Frau und Musik und einst auch im Vorstand von mfm – entstand das DDF-Projekt #WIMUGG! – Women in Musik: gehört, gesehen! (Projektförderung 2022), in dem konzertbezogene Medien im Fokus standen.7 In diesem Rahmen übergaben im Frühsommer 2022 Anne Holler-Kuthe und Susanne Wosnitzka (beide im mfm-Vorstand) persönlich sieben Leitz-Ordner voller Programmhefte dem Archiv Frau und Musik, damit diese digitalisiert werden konnten. Eine Besonderheit ist ein zauberhaftes Konzerttagebuch in DIN-A4-Größe aus der Anfangszeit von mfm, enthusiastisch mit Eindrücken und Devotionalien bestückt, die von einer unglaublichen Aufbruchstimmung zeugen. „So entsteht eine Legende“, ist einer der begeisterten und auf die in München herausragenden Leistungen bezogenen Aussprüche der mfm-Frauen im Konzerttagebuch.8
Dieses sogenannte Logbuch ist die bedeutendste Quelle des frühen Schaffens von mfm. Akribisch und in gut lesbarer Handschrift Margaret Minkers wurden liebevoll Zeitungsartikel zu Komponistinnen und Werkaufführungen, Eintrittskarten, Zitate von Zuhörenden („Sowas Tolles hab‘ ich schon lang nicht mehr gehört – dafür geb‘ ich jederzeit die Philharmonie her!“9), die erste Satzung, Selbstzweifel und -kritik, Vorschläge für Publikationsanschaffungen, eingeklebte Fotos von Aufführungen bis hin zu Rücktrittsforderungen an den Dirigenten Sergiu Celibidache eingebracht. Dieser hatte die Posaunistin Abbie Conant misogyn herabgewürdigt und ungerechtfertigt gehaltlich zurückgestuft.10 Dieses Logbuch reicht bis zum 13. März 1992 – an diesem Tag ändert sich die Handschrift und enden die Eintragungen. Weshalb es nicht fortgeführt wurde, ist unklar.
Einblicke in historische Programmgestaltung
Man kann daran auslesen, dass in den ersten 10 Jahren die mfm-Konzerte auf zwei pro Jahr beschränkt waren; 1992 einigte man sich auf das Format der Gesprächskonzerte, weil Informationen über Komponistinnen nach wie vor rar waren. Laut Juliane Brumberg war das Ziel von mfm, eine ausgewogene Mischung von älteren Kompositionen, vor allem des 18. und 19. Jahrhunderts, sowie Werken zeitgenössischer Komponistinnen beziehungsweise von mfm-Mitgliedern aufzuführen, wovon die Programmhefte zeugen.11 Bis zum 19. Konzert 1997 liegen die Programmhefte in abwechselnd farblicher Außengestaltung, handschriftlich gezeichnet und schreibmaschinenbeschrieben vor – dies waren die Mittel dieser Zeit, als Frauen so gut wie alles selber machten, wohl auch wegen beschränkter Finanzen. Zum 10-jährigen Jubiläum 1998 erschien nicht nur die erste professionelle Print-Produktion der Reihe, sondern erstmals ein Name für die mfm-Konzertreihe: KlangNetze, der sich allerdings nicht gehalten hat. Was sich seitdem aber ergeben hat: Netzwerke, die tragen – in Verbundenheit mit vielen Frauenmusik- und Gleichstellungsinstitutionen.
Für diese Pionierinnenarbeit wurde mfm mit dem Anita-Augspurg-Preis der Stadt München für das Jahr 1998 ausgezeichnet. Im Jahr 2008 – nach dem 20-jährigen mfm-Jubiläum – drohte dem Verein jedoch das Aus: Aus einem Protokoll zur jährlichen Hauptversammlung geht hervor, dass für den bisherigen Vorstand die intensive ehrenamtliche Arbeit zunehmend zur Belastung wurde und sich für Vorstandsneuwahlen intern keine weiteren Freiwilligen fanden. Der Stadtbund Münchner Frauenverbände wurde um Hilfe angefragt. Auf diese Weise wurde eine neue Kraft in der Informatikerin und Netzwerkerin Anne Holler-Kuthe gefunden, die die Vereinsarbeit zusammen mit den ebenfalls Hinzugekommenen – Theaterwissenschaftlerin Rose Kaiser, Hornistin Andrea Lässig, Industriekauffrau Marie-Pierre Beckius – und einem künstlerischen Beirat neu aufstellte. Mit dieser frischen Energie konnte der Verein gerettet werden. Seit 2002/2003 vergibt mfm regelmäßig eine Auftragskomposition, interpretiert durch das Münchener Kammerorchester im Prinzregententheater.
Grundlage und Ausblick
Die 25-Jahr-Feier 2013 im Gasteig bescherte einen erneuten Schub; ein weiteres Highlight waren Aufführungen mehrerer kammermusikalischer Werke der – von der damals neuen mfm-Vorstandsfrau Susanne Wosnitzka erforscht12 – für einige Zeit in München lebenden ersten Schönberg-Studentin Vilma von Webenau (1875–1953). Im Rahmen der großen Sonderausstellung des Münchner Stadtmuseums Ab nach München! Künstlerinnen um 1900 erklangen sie in einem ausverkauften Vortragskonzert als deutsche Erstaufführungen. Die 30-Jahr-Feier 2018 bestand aus zwölf Uraufführungen von Werken von mfm-Mitgliedern in der Black Box des Gasteigs unter Mitgestaltung der Cellistin Katharina Deserno.
Eine wissenschaftliche Publikation zur Geschichte und Bedeutung von musica femina münchen steht noch aus. Durch die Digitalisierung der wichtigsten Materialien ist dahingehend aber nun ein bedeutender Schritt getan.
- Susanne Wosnitzka
- Digitales Deutsches Frauenarchiv
- CC BY-SA 4.0
Fußnoten
- 1 Vgl. Panlasigui, Melissa: Women in High-Visibility Roles in German Berufsorchester. Sonderveröffentlichung musica femina münchen/Archiv Frau und Musik. München 2021, Zugriff am 18.01.2024, unter: https://www.musica-femina-muenchen.de/wp-content/uploads/2021/02/Panlasigui-Women-in-High-Visibility-Roles-in-German-Berufsorchester.pdf.
- 2 Vgl. Forum Queeres Archiv München (Hg.): LGBTIQ-Chronik, Zugriff am 05.12.2022, unter: https://forummuenchen.org/lgbtiq-chronik/.
- 3 Vgl. Landeshauptstadt München: ThemenGeschichtsPfad. Die Geschichte der Frauenbewegung in München. München 2014, S. 204.
- 4 Vgl. Brumberg, Juliane: Frauen in der Musik sichtbar machen: Die Sängerin und Musikpädagogin Renate Lettenbauer, in: Göttert, Christel (Hg.): bzw weiterdenken, Artikel vom 16.11.2020, Zugriff am 18.1.2024, unter: https://www.bzw-weiterdenken.de/2020/11/frauen-in-der-musik-sichtbar-machen-die-saengerin-und-musikpaedagogin-renate-lettenbauer/.
- 5 Vgl. Ebenda.
- 6 Vgl. Archiv Frau und Musik, 19871992, mfm-Logbuch, S. 27.
- 7 Vgl. Archiv Frau und Musik: Artikel #WIMUGG! – Women in Music: gehört, gesehen!, Zugriff am 18.1.2024, unter: https://www.archiv-frau-musik.de/wimugg-women-in-music-gehoert-gesehen.
- 8 Zitat aus dem Archiv Frau und Musik, 19871992, mfm-Logbuch, S. 43.
- 9 So der damalige Inspizient des Gasteig. Vgl. Archiv Frau und Musik, 19871992, mfm-Logbuch, S. 16.
- 10 Vgl. eingeklebte Zeitungsartikel ins Archiv Frau und Musik, 19871992, mfm-Logbuch, S. 106–108 sowie DER SPIEGEL, 44/1991 (ohne Autor*in), Zugriff am 18.1.2024 https://www.spiegel.de/kultur/aus-dem-blech-gefallen-a-6d822392-0002-0001-0000-000013492351.
- 11 Vgl. Brumberg, Juliane: Frauen in der Musik sichtbar machen: Die Sängerin und Musikpädagogin Renate Lettenbauer, in: Göttert, Christel (Hg.): bzw weiterdenken, Artikel vom 16.11.2020, Zugriff am 18.1.2024, unter: https://www.bzw-weiterdenken.de/2020/11/frauen-in-der-musik-sichtbar-machen-die-saengerin-und-musikpaedagogin-renate-lettenbauer/.
-
12
Vgl. Wosnitzka, Susanne: Vilma Weber von Webenau – verwehte Spuren?, in: Archiv Frau und
Musik Frankfurt/Main (Hg.): VivaVoce Nr. 99, 2/2014, S. 2–5, und dies.: „Gemeinsame Not verstärkt den Willen“. Musikerinnen-Netzwerke in Wien, in: Babbe, Annkatrin/Timmermann, Volker (Hg.): Musikerinnen-Netzwerke im 19. Jahrhundert (= Schriftenreihe des Sophie Drinker Instituts, Bd. 10), Oldenburg 2015, S. 127–146.