Mehr als nur Tomaten. Die Frauen-/Lesbenbewegung in Frankfurt am Main im Überblick

verfasst von
  • Anne Ott
  • Jessica Bock
veröffentlicht 12. Juni 2020
Frankfurt am Main war seit den späten 1960er-Jahren eines der wichtigen Zentren der neuen Frauen-/Lesbenbewegung. Dieser Beitrag gibt einen Überblick über die wichtigen Akteurinnen, Institutionen und Entwicklungen, die bis heute kaum erforscht sind.

Tomaten und Flugblätter

In den späten 1960er-Jahren galt die Main-Metropole Frankfurt neben West-Berlin als ein Zentrum der sich neuformierenden Frauen-/Lesbenbewegung. Insbesondere zwei Ereignisse haben sich in das westdeutsche Frauenbewegungsgedächtnis eingeschrieben: der Tomatenwurf und die Flugblattaktion des Frankfurter Weiberrats.

Vom 12. bis 16. September 1968 tagte in Frankfurt am Main die 23. Delegiertenkonferenz des SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund). Die Filmstudentin und Mitbegründerin des Aktionsrates zur Befreiung der Frauen, Helke Sander, gelang es, mit der Unterstützung von Sigrid Rüger eine Rede zu halten. Darin warf sie den männlichen Genossen im SDS vor, die Diskriminierung von Frauen und das Problem der Kinderbetreuung zu ignorieren und betonte, dass Haushalt und Kindererziehung keine Privatsache seien. Als der rein männliche SDS-Vorstand sich anschickte, ohne Fragen und Diskussionen über die Rede Sanders zur Tagungsordnung überzugehen, griff Sigrid Rüger in ihre Einkaufstüte und bewarf das Podium wütend mit Tomaten.1

Sowohl die Rede als auch die Tomatenaktion verbreiteten sich unter den Frauen rasant. Kurz darauf gründeten sich in weiteren Städten neue Frauengruppen. An der Frankfurter Universität formierte sich der sogenannte ‚Frankfurter Weiberrat‘. Zu den Gründerinnen gehörte unter anderem Silvia Bovenschen, die sich mit ihren Büchern zu einer der wichtigsten Intellektuellen in Deutschland entwickelte. Berühmtheit erlangte der Frankfurter Weiberrat durch seinen ‚Rechenschaftsbericht‘. Darin thematisierten die Frauen ihre eigenen Unterdrückungserfahrungen und kritisierten die autoritären Verhaltensweisen der Genossen. Der Text gipfelte in der Losung „Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen!“.2  Der Weiberrat illustrierte seine ‚Forderung‘ mit einer Karikatur einer ‚weiblichen Penisjägerin‘. Die Gruppe verteilte ihr Flugblatt am 20. November 1968 auf der SDS-Konferenz in Hannover. Das Pamphlet rief nicht nur bei den Männern ablehnende Reaktionen hervor, sondern polarisierte auch innerhalb der Frauen. Während sich viele Feministinnen – teilweise bis heute – von diesem Flugblatt distanzierten, sahen andere Frauen wie Silvia Bovenschen darin eine gelungene Provokation.3

Frauenzentrum, Frauenhaus und La Gata

Seit Beginn der 1970er-Jahre entwickelte sich in Frankfurt am Main eine vielfältige, lokal und überregional agierende Frauenbewegung. An ihrer Entstehung und Ausdifferenzierung hatten Lesben einen großen Anteil. Zeitweilig existierten in Frankfurt am Main acht Frauen-/Lesbengruppen wie zum Beispiel das Frauenforum, der Interessenkreis Frauenemanzipation und die Rote Zelle Frau.4  Zu diesen Gruppierungen kamen zahlreiche Fraueneinrichtungen, so das 1973 gegründete Frauenzentrum in der Eckenheimer Landstraße. Drei Jahre später, 1976, öffneten das Lesbenzentrum und im Frankfurter Stadtteil Bockenheim ein Frauenbuchladen ihre Pforten. Der Verein Frauen helfen Frauen gründete 1978 ein Haus für geschlagene Frauen und ihre Kinder.5

Wie in vielen anderen Großstädten auch erlebten die Frauen- und Lesbenkneipen mit der neuen Frauenbewegung eine neue Blütezeit. In Hamburg stand Ingrid Sonja Liermann hinter dem Tresen in den Ika-Stuben – ein Lokal, das bereits seit den 1950er-Jahren von lesbischen Frauen besucht wurde. In West-Berlin gründete ein Kollektiv aus lesbischen Frauen den ‚Blocksberg‘. 

Der Bedarf nach einer eigenen Lokalität für Lesben existierte auch in Frankfurt. „Ich hatte damals’ ne Freundin, die Elena, (…) die hat damals zu mir gesagt: ‚Mensch, Ricky, wir haben hier nix. Wir sind mal bei den Männern geduldet (…)  Meinst du net, du könntest ein Lokal aufmachen für Frauen?‘“, berichtet Ricky über die Anfänge der Lesbenkneipe La Gata.6  1971 übernahm sie mit ihrer damaligen Freundin das Lokal in der Seehofstraße 9. Neben dem regulärem Barbetrieb fanden dort Spiele- und Tanzabende statt. Frauen – gleich ob heterosexuell oder lesbisch – fanden hier einen Ort, um ungestört mit ihren Freundinnen zu feiern und zu reden. Heute gehört La Gata weltweit zur ältesten kontinuierlich betriebenen Lesbenkneipe.

Keine Schminktipps – das Frankfurter Frauenblatt

Wie in so vielen anderen Städten auch, entstand in Frankfurt am Main eine eigene Bewegungsöffentlichkeit in Form von feministischen Zeitschriften. 1978 erschien die erste Ausgabe des Frankfurter Frauenblattes. Die Zeitung erschien monatlich mit einer Auflage von 1.500 Stück und kostete 2,50 DM. „Wir berichten (…) über Frauenhäuser und die Situation ausländischer Arbeiterinnen, über Neues aus der Frauenbewegung und ihre politische Arbeit. Wir informieren im Frauenblatt auch über Veranstaltungen und stellen Verbindungen zwischen Frauengruppen und -zentren her“, schreibt Cornelia Arnhold, eine der Redakteurinnen, in einem Artikel in der Wochenzeitung Die Zeit7 .  Die Produktionsbedingungen glichen denen vieler anderer lokaler feministischer Zeitungsprojekte. Die Herstellung „neben der Pflege von Beruf, Studium, Ehe/Freundschaft und Kindern ist manchmal mühsam. Und es ist eine Arbeit, die wie Haushaltsarbeit unbezahlt geleistet werden muß. Dort notgedrungen, hier freiwillig.“8  Trotz dieser prekären Herstellungsbedingungen erschien das Frankfurter Frauenblatt bis 1992 und liegt nahezu vollständig in zahlreichen Beständen der i.d.a.-Einrichtungen vor.

Von Antimilitarismus bis Walpurgisnacht

Die 1980er-Jahre begannen mit dem Ausbau von bundesweiten und internationalen lesbischen Netzwerken.9  Politisch und gesellschaftlich war die Zeit geprägt von öko- und friedenspolitischen Themen, die auch in der Lesbenbewegung Widerhall fanden.10  Der Protest gegen Militarismus und Atomkraft gehörte genauso zu den Themen der Lesbenbewegung wie Gen- und Reproduktionstechnologien, Gewalt an Frauen, Mädchen, Lesben und der Kampf für die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs.11  Auch Frankfurter Lesben waren bei Treffen wie dem antimilitaristischen FrauenLesbenMädchen Widerstandscamp im Hunsrück mit dabei und berichteten von den Zusammenkünften und Entwicklungen. Die alljährlichen Walpurgisnachtdemonstrationen am 30. April fanden auch in Frankfurt statt und waren Ausdruck des Kampfes gegen die Gewalt an Frauen, Mädchen und Lesben.

Lesben Frauen Mädchen Widerstandscamp: Entstehungsgeschichte, zusammengestellt von Ursula Kornfeld
Plakat zur Walpurgisnacht, 1982

Lebendiges Lesben Leben und LIBS

Im Zusammenhang mit der Ausdifferenzierung der Gruppen und der Bereitstellung kommunaler Mittel gerieten in Frankfurt Ende der 1980er- und zu Beginn der 1990er-Jahre die Lesben erneut in Bewegung. Am 15. November 1989 gründete sich der Verein Lebendiges Lesben Leben (LLL). Das Ziel der Gründerinnen bestand darin, „einen Raum zu schaffen für die psychosoziale Beratung lesbischer Frauen, um über weibliche Homosexualität aufzuklären und Vorurteile über Lesben abzubauen und für die Förderung von Kunst und Kultur“.12  Zusätzlich richteten sie ein Lesbenarchiv ein, das eine umfangreiche Sammlung zur Lesbenbewegung in und um Frankfurt beherbergt. Nur wenige Jahre später, 1990/1991, entstand innerhalb des LLL-Vereins die LESBEN Informations- und Beratungsstelle (LIBS). Die Idee war, eine Anlaufstelle für Lesben zu schaffen, wo sie Beratung in Anspruch nehmen, gemeinsam Freizeitaktivitäten verfolgen und Workshops besuchen konnten.13  Ein weiterer Schwerpunkt lag außerdem auf dem Zusammenschluss von Generationengruppen.14  Am 16. Februar 1992 gründete sich LIBS als ein eigenständiger Verein. Mit Blick auf die Förderung berichtet eine Zeitzeugin über die 1970er- und frühen 1980er-Jahre: „Da war überhaupt nicht daran zu DENKEN, dass man von der Stadt Frankfurt für so was GELD kriegt.“15  Anfang der 1990er-Jahre hatte sich die Situation verändert: „Und ich glaube (…) alleine dadurch, dass die Stadt GELD gegeben hat für so’ne Einrichtung, das ist ja immer so’n Zeichen von Akzeptanz (…).“16

Lesbisch-Schwule Zusammenarbeit in der Kritik

Ein Streitthema, das sich kontinuierlich durch die Frankfurter Lesbenbewegung der 1980er- und 1990er-Jahre zog, war die Frage nach der Autonomie und der Kooperation mit männlichen Homosexuellen.17  1989 begann der Verein LLL e.V. (Lebendiges Lesben Leben) mit der Planung für ein lesbisches Kulturzentrum. Hierzu fanden mehrere sogenannte ‚lesbenpolitische Mittwoche‘ statt. Bei diesen Treffen diskutierten die Lesben heftig darüber, in welcher Form und mit welchen Kooperationspartner/innen ein Kulturhaus errichtet werden sollte. Während die Lesben von LLL e.V. betonten, dass sie auch in der Kooperation mit schwulen Männern autonom blieben und die Zusammenarbeit gleichberechtigt sei, kritisierten andere Lesben und Frauen, dass Lesben in dieser Kooperation die ewig ‚Mitgemeinten‘ seien und ihre Unabhängigkeit verlieren würden.18  Das Frankfurter Frauenblatt berichtete über diesen Konflikt und gab beiden Parteien Raum für Reaktion und Selbstdarstellung. 

Am 27. Mai 1991 wurde das Lesbisch-Schwule Kulturhaus (LSKH) eröffnet und befindet sich bis heute in Trägerschaft des LLL-Vereins.19  In den darauffolgenden Jahren entwickelte sich das LSKH zu einem wichtigen Aktions- und Treffzentrum für Frankfurts Lesben und Schwule. 

Stand: 12. Juni 2020
Verfasst von
Anne Ott

geb. 1996, Studium der Soziologie und Politikwissenschaft in Frankfurt am Main, queere Aktivist*in, Koordinator*in des Bildungs- und Antidiskriminierungsprojekts SCHLAU Frankfurt, Organisator*in des Bündnis Akzeptanz und Vielfalt Frankfurt

Jessica Bock

geb. 1983, Studium der Mittleren und Neueren Geschichte, Promotion zur ostdeutschen Frauenbewegung von 1980 bis 2000 am Beispiel Leipzigs an der TU Dresden, wissenschaftliche Mitarbeiterin beim DDF im Bereich neue und ostdeutsche Frauenbewegung

Empfohlene Zitierweise
Anne Ott/Jessica Bock (2020): Mehr als nur Tomaten. Die Frauen-/Lesbenbewegung in Frankfurt am Main im Überblick, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/mehr-als-nur-tomaten-die-frauen-lesbenbewegung-frankfurt-am-main-im-ueberblick
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Fußnoten

  • 1Siehe hierzu ausführlich: Heinrich-Böll-Stiftung / Feministisches Institut (Hg.): Wie weit flog die Tomate. Eine 68erinnen-Gala der Reflexion, Berlin 1999; Kätzel, Ute: Die 68erinnen. Porträt einer rebellischen Generation, Berlin 2002.
  • 2Lenz, Ilse (Hg.): Die neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Eine Quellensammlung, Wiesbaden 2010, S. 62 f.
  • 3Ebenda.
  • 4Grunenberg, Nina: Mit schwesterlichen Grüßen, in: Die Zeit, Zugriff am 10.6.2020 unter https://www.zeit.de/1974/14/mit-schwesterlichen-gruessen/komplettansicht.
  • 5Wischermann, Ulla: Vom Weiberrat zur Frauenprofessur. Die Neue Frauenbewegung und der 1968er-Aufbruch, in: Forschung Frankfurt, Zugriff am 10.6.2020 unter http://www.fb03.uni-frankfurt.de/72755454/FoFra_2018_01_Vom_Weiberrat_bis_zum_Professor.pdf, S. 62–66, hier S. 65.
  • 6Lesbenarchiv Frankfurt/Main, Interview mit ‚Ricky‘, Transkript, S. 1.
  • 7Arnhold, Cornelia: Zehn Frauen machen eine Zeitung, in: Die Zeit, Zugriff am 10.6.2020 unter https://www.zeit.de/1981/40/zehn-frauen-machen-eine-zeitung/komplettansicht.
  • 8Ebenda.
  • 9Jäger, Susanna: Doppelaxt oder Regenbogen?, Zur Genealogie lesbisch-feministischer Identität, Tübingen 1998, S. 69.
  • 10Dennert, Gabriele et al.: Kämpfe und Konflikte um Macht und Herrschaft. Lesbenbewegung in der BRD der 80er Jahre, in: Dennert, Gabriele et al. (Hg.): In Bewegung bleiben. 100 Jahre Politik, Kultur und Geschichte von Lesben, Berlin 2007, S. 126‒159, hier S. 126.
  • 11Ebenda.
  • 12o. A.: Der Verein, abgerufen am 10.6.2020 unter http://www.lll-frankfurt.de/der-verein/.
  • 13LESBEN Informations- und Beratungsstelle e.V.: 20 Jahre LIBS. Neue Sicht- und Unsichtbarkeiten lesbischer und bisexueller Mädchen, Frauen und Transgender, Frankfurt a.M. 2012, S. 4 f.
  • 14Ebenda.
  • 15Lesbenarchiv Frankfurt/Main, Interview mit LIBS, Transkript, S. 9.
  • 16Ebenda, S. 7.
  • 17Awe: Die Lesben und die Politik, in: Frankfurter Frauenblatt, 8. Jg., 1990, H. 1, S. 12 f; Dennert: Kämpfe und Konflikte, S. 142; Jäger: Doppelaxt oder Regenbogen?, S. 87 und S. 90.
  • 18Awe: Die Lesben und die Politik; Richter, Hanneliese: Leserinnenbrief, in: Frankfurter Frauenblatt, 8 Jg., 1990, H. 2, S. 10.
  • 19Göritz, Uwe: Das Lesbisch-Schwule Kulturhaus von 1991 bis 1999, Zugriff am 10.6.2020 unter http://www.lskh.de/kulturhaus/.