Die Grünen Hefte. INFORMATIONEN. Die Frau in der sozialistischen Gesellschaft
INFORMATIONEN. Die Frau in der sozialistischen Gesellschaft, die sogenannten Grünen Hefte (grüner Einband, Format DIN A5), erschienen von 1965 bis 1990, meistens sechs Mal im Jahr, mit einer Auflage bis zu 1.100 Stück. Sie gehörten zur Grauen Literatur, das heißt, sie waren im Buchhandel und an Kiosken nicht erhältlich. Sie wurden unentgeltlich verteilt an Organisationen in Wissenschaft, Verwaltung und Politik sowie an Großbetriebe mit hoher weiblicher Belegschaft. Die INFORMATIONEN wurden im Eigenverlag vom Wissenschaftlichen Beirat (später Rat) ‚Die Frau in der sozialistischen Gesellschaft‘ herausgegeben.
1963 hatte die SED auf ihrem VI. Parteitag den umfassenden Aufbau des Sozialismus beschlossen. Danach setzte in der DDR ein Boom mittelfristiger Prognosen (1970–1980) für alle gesellschaftlichen Bereiche ein. Das betraf auch die Lage der Frauen. Die wesentlichen Forderungen der bürgerlichen und proletarischen Frauenbewegungen, zum Beispiel gleiche Bildung, gleiches Recht auf Arbeit, gleicher Lohn für gleiche Arbeit, Mutterschutz, Kinderversorgung, waren juristisch1, einige auch praktisch erfüllt. Die Frage war nun: Wie weiter mit der Frauenemanzipation?
1964, zu einem im internationalen Vergleich sehr frühen Zeitpunkt, beschloss der Ministerrat der DDR – auf Vorschlag der Frauenkommission des Zentralkomitees (ZK) der SED – den Wissenschaftlichen Beirat ‚Die Frau in der sozialistischen Gesellschaft‘ zu gründen. Dieser hatte den Auftrag, die Lage der Frauen und Mädchen in der DDR und die Entwicklung der Familie zu analysieren. An eine spezielle Disziplin Frauenforschung war damals nicht gedacht. Gemäß der Unterordnung der Frauen- unter die Klassenfrage sollte die Analyse der Stellung der Frau weiterhin als wesentlicher Teilkomplex in die Erforschung der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung einbezogen werden. Im Unterschied zu den Wissenschaftlichen Räten waren für den Beirat eigenständige finanzielle, materielle und personelle Forschungskapazitäten nicht vorgesehen. Das erwies sich als problematisch.
Politisch und wissenschaftlich wurde der Beirat hoch angebunden. Er unterstand direkt dem Ministerrat der DDR und war beim Präsidenten der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ab 1972 Akademie der Wissenschaften der DDR, angesiedelt. Beiratsvorsitzende waren die jeweiligen Akademie-Präsidenten. Sie waren dem Ministerrat rechenschaftspflichtig und beauftragt, die Forschungsergebnisse zu veröffentlichen. Über diese Möglichkeit, Pläne und Ergebnisse auf höchster Ebene bekannt zu machen und zu diskutieren, verfügte kein anderer gesellschaftswissenschaftlicher Rat. Stellvertretende Beiratsvorsitzende war Dr. sc. jur. Anita Grandke (Familienrecht) von der Humboldt-Universität zu Berlin. Die wissenschaftliche Leitung und die Verantwortung für den Inhalt der INFORMATIONEN hatte (bis 1990) die kurz zuvor zum Thema sozialistische Familie promovierte Soziologin Herta Kuhrig inne.
Dem Beirat gehörten 17 weibliche und 11 männliche Mitglieder an. Sie vertraten wissenschaftliche Institutionen, gesellschaftliche Organisationen, Medien und Betriebe.2
Nach diesem Konzept sind die Themen, wie Medizin, Arbeit, Familie, Hausarbeit, Kindererziehung oder Vereinbarkeitsproblematik, in den INFORMATIONEN durchgehend sowohl multidisziplinär als auch praxisnah und geben so einen facettenreichen Überblick über die Stellung der Frauen in der Gesellschaft.
1965 erschien das konzeptionell wichtige Heft 1. Neben den Angaben zu geplanten Arbeitsweisen, Struktur und Daten zum damaligen Wissenschaftsstand enthält es kritische Analysen zur Lage der Frauen und Mädchen und nennt Schwerpunkte für die künftige Forschung. Diese Analyse war ein frauenpolitisch mutiger und wissenschaftlich weitsichtiger Vorstoß, der die Hoffnungen des Augenblicks widerspiegelte. Das Konzept war ein „auch im internationalen Maßstab der Zeit bahnbrechendes Forschungsszenario einer – selbstverständlich ohne den noch gar nicht existenten Terminus zu benutzen – genderstudy“.3
Die INFORMATIONEN zeigen auch, dass, in welchem Tempo und in welcher Weise die (partei-)politischen Entwicklungen Einfluss auf die Erforschung der Situation von Frauen und Familie hatten.
Schon 1966 folgte ein zweiter Ministerratsbeschluss, in dem der Auftrag an den Beirat neu formuliert wurde: Zu erforschen sei die ‚Entwicklung der ganzen Volkswirtschaft und ihrer Teilbereiche‘. Angesichts der Konzentration auf die Bereiche Frau, Berufsarbeit/-ausbildung, Vereinbarkeitsproblematik wurde der Beirat 1967 neuformiert. Er setzte sich zusammen aus 20 Frauen und 18 Männern, die den Ministerrat, die Staatliche Plankommission, die zuständigen Fachministerien, die Frauenkommission beim ZK der SED, den FDGB, die Frauenzeitschrift Für Dich, den Wissenschaftlichen Rat für Soziologie sowie die Akademie, Universitäten, Institute und wissenschaftliche Gesellschaften vertraten. Der gravierende Mangel an Forschungskapazitäten wurde nicht behoben, aber zu lösen versucht, indem Forschungseinrichtungen von Großbetrieben mit hohem Frauenanteil die Themen vor Ort erforschen sollten.4 Das hatte zur Folge, dass die Grundlagenforschung ins Aus gestellt und die akademischen Forschungseinrichtungen ihre Ergebnisse in Fachzeitschriften veröffentlichten. Die gesellschaftswissenschaftlichen Institutionen der Universitäten und Akademien schränkten die Untersuchung zu Frauenfragen ein, überzeugt, der Beirat sei zuständig für die Frauenforschung.
Bereits im März 1967 reagierte der Beirat. Auf einer Arbeitstagung wurde die Marginalisierung der Frauenfragen kritisiert, die Kompetenz des Beirats erneut definiert und der Forschungsauftrag wieder weiter gefasst: Der Fokus müsse darauf gerichtet werden, „alle Fähigkeiten und Talente der Frau zu entfalten und ihre Anwendung zu gemeinsamen gesellschaftlichen und privaten Interessen zu sichern“.5 Am meisten Forschungsarbeit wurde geleistet zu den Themen Berufsarbeit; Voll-, Teilzeit-, Schichtarbeit von Frauen sowie ihre Auswirkungen auf die Frauen, Familien, Kinder, Berufsausbildung, Studium, Qualifizierung, Frauen in leitenden Positionen, Gesundheit, Familien- und Partnerschaftskonflikte, Sexualerziehung und nicht zuletzt private Hausarbeit, wozu regelmäßige Befragungen erhoben wurden.
1971 beschloss der VIII. Parteitag der SED die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die sozialpolitischen Maßnahmen sollten gegen die drohenden ungünstigen demografischen Verschiebungen wirken, die Geburtenfreudigkeit erhöhen, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie gewährleisten. 1972 nahm die Volkskammer das Gesetz über den (kostenlosen) Schwangerschaftsabbruch an.
Zur Erforschung der gesellschaftlichen Folgen dieses Gesetzes und seiner flankierenden sozialpolitischen Maßnahmen wurde 1974 der Rat für Sozialpolitik und Demografie gegründet, angesiedelt beim Wissenschaftlichen Rat für Wirtschaftswissenschaften, und 1978 das Institut für Soziologie und Sozialpolitik, angesiedelt beim Forschungsbereich Gesellschaftswissenschaften der Akademie. Ebenfalls 1978 brachte der Beirat den Sammelband Zur gesellschaftlichen Stellung der Frau in der DDR 6 heraus, in dem in acht Kapiteln ein Überblick über den Forschungsstand zu folgenden Themen gegeben wurde: Gleichberechtigung; Recht auf Arbeit für Frauen; Frauen in der sozialistischen Landwirtschaft; Bildung; Ehe und Familie; gesellschaftliche Kindereinrichtungen; Reduzierung der Hausarbeit; Gesundheit von Frauen und Mädchen.
1981 wurde der Beschluss aus dem Jahr 1966 aufgehoben und damit auch die direkte Unterstellung unter den Ministerrat. Der Wissenschaftliche Rat ‚Die Frau in der sozialistischen Gesellschaft‘ wurde gebildet, in das neu gegründete Institut für Soziologie und Sozialpolitik der Akademie eingegliedert und neu zusammengesetzt. Vorsitzende und verantwortliche Redakteurin der INFORMATIONEN blieb Prof. Dr. Herta Kuhrig. Der Forschungsauftrag wurde den Großbetrieben abgenommen und an wissenschaftliche Institutionen (zurück)delegiert. Der Rat hatte nun 36 Mitglieder, davon 23 Frauen, unter ihnen17 Doktorinnen, davon acht Professorinnen.7
Der Direktor des Instituts für Soziologie und Sozialpolitik der Akademie schlug dem Rat eine Reihe neu akzentuierter Forschungsschwerpunkte vor, darunter die weitere Minderung der sozialen Unterschiede, die Freisetzung von Arbeitskräften durch die wissenschaftlich-technische Entwicklung, Frauen in leitenden Positionen, Wohnbedingungen von Familien mit Kindern, Zeitverwendung von Familien mit Kindern, insbesondere der werktätigen Mütter, zunehmende Tendenz von Geburten durch nicht verheiratete Frauen, Alternsforschung.
Etwa ab Mitte der 1980er-Jahre wurde der Ton in den INFORMATIONEN kritischer. Es tauchten Themen auf, die bis dahin ausgespart worden waren, beispielsweise Ökologie und Umweltbewusstsein, Drogenkonsum von Jugendlichen, gefährliche Gruppenbildungen, Gleichberechtigung in der Sprache, Homosexualität und die soziale Lage von homosexuellen Frauen und Männern.
Auffällig ist auch – neben vermehrten Informationen über die UNO und die IDFF – die Zunahme an Informationen zur Lage der Frauen in anderen sozialistischen, kapitalistischen und Entwicklungsländern sowie kritische Beiträge über feministische Frauenforschung und (vornehmlich) linke Frauenkonferenzen in kapitalistischen Ländern. In der allerletzten Phase der DDR wurden konzeptionelle Ansätze für eine kritische Frauenforschung folgender Themen veröffentlicht:
- Untersuchung der Geschlechtersozialisation in der DDR(H3/89),
- Untersuchung von individuellen Lebens- und Konfliktbewältigungen von Frauen, darin eingeschlossen die Flucht in Krankheiten (H5/89),
- Untersuchung der männlichen Kodierung Er - Sprache in der DDR (H4/88, H1/90),
- Eröffnung einer Debatte zu Marxismus und Frauenfrage in der DDR(H1/90),
- Erarbeitung einer Theorie der gesellschaftlichen Reproduktion (H1/90).
Alle Vorschläge benannten offene Fragen in der Frauenforschung der DDR. Dennoch ist es richtig, dass in den INFORMATIONEN in den 25 Jahren ihrer Existenz eine große Zahl von Fragen zur Lage der Frauen und Mädchen aufgegriffen, diskutiert und der intendierte Charakter von Information, Interdisziplinarität und Meinungsbildung durchgehalten wurde.
Fußnoten
- 1 Siehe dazu die Verfassung der DDR vom 7.10 1949: „Artikel 7 (2) Alle Gesetze und Bestimmungen, die der Gleichberechtigung der Frau entgegenstehen, sind aufgehoben. – Artikel 30(2) Gesetze und Bestimmungen, die die Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Familie beeinträchtigen, sind aufgehoben. – Artikel 33(1) Außereheliche Geburt darf weder dem Kinde noch seinen Eltern zum Nachteil gereichen. (2) Entgegenstehende Gesetze sind aufgehoben“. – 1950 war das „Gesetz zum Schutz von Mutter und Kind und die Rechte der Frau“ erschienen, 1961 das Kommuniqué „Die Frauen, der Frieden und der Sozialismus“.
- 2 INFORMATIONEN, 1965, H. 1, S. 4‒6.
- 3 Budde, Gunilla-Friederike: Frauen der Intelligenz, Göttingen 2003, S. 66.
- 4 INFORMATIONEN, 1966, H. 6.
- 5 INFORMATIONEN, 1967, H. 1‒3.
- 6 Kuhrig, Herta / Speigner, Wulfram (Hg.): Gleichberechtigung der Frau. Aufgaben und ihre Realisierung in der DDR, Leipzig 1978. Unter dem Titel „Wie emanzipiert sind die Frauen in der DDR? Beruf, Bildung, Familie“ erschien das Buch 1979 beim Verlag Pahl-Rugenstein in Köln.
- 7 INFORMATIONEN, 1981, H. 5, S. 8‒10.
Ausgewählte Publikationen
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Bomke, Heidrun; Heinzel, Friederike: Einblicke. Frauenforschung in Sachsen-Anhalt. Band 1. Magdeburg 1997, 167 S.
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Diemer, Susanne: Patriarchalismus in der DDR. Opladen 1994.
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Dölling, Irene: Ostdeutsche Frauenforschung. Be-/Gefangenheit in Denkmustern der industriegesellschaftlichen Moderne, in: Binder, Beate et. al. (Hg.): Travelling Gender Studies. Grenzüberschreitende Wissens- und Institutionentransfers, Münster 2011, S. 38-48.
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Dölling, Irene: Aufbruch nach der Wende. Frauenforschung in der DDR und in den neuen Bundesländern, in: Helwig, Gisela / Nickel, Hildegard M. (Hg.): Frauen in Deutschland 1945-1992, Bonn 1993, S. 397-407.
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Dölling, Irene: Situation und Perspektiven von Frauenforschung in der DDR, in: Bulletin ZiF, Berlin, 1. Jg., 1990, H. 1, S. 1-25.
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Grandke, Anita (Hg.): Frau und Wissenschaft. Referate und ausgewählte Beiträge. Protokoll der Arbeitstagung des Wissenschaftlichen Beirates „Die Frau in der sozialistischen Gesellschaft“ bei der DAdW zu Berlin, März 1967, zum Thema: Die gesellschaftliche Stellung der Frau in der DDR und die Aufgaben der Wissenschaft, Berlin 1968.
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Kaufmann, Eva et. al.: "Als ganzer Mensch leben", Berlin 1997.
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Nickel, Hildegard Maria: 20 Jahre Frauen Ost und West. Erkenntnisse und Aussichten. Wissenschaft, in: Überparteiliche Fraueninitiative Berlin - Stadt der Frauen (Hg.): Frauen sichten Politik. West-Ost 1989-2009. Dokumentation der Veranstaltung am 13./14.11.2009, Berlin 2010, S. 39-43.