Der Beitrag der bürgerlichen Frauenbewegung zur Entwicklung der Sozialen Arbeit
Vom „Wohltätigkeitssport“1 zur Sozialen Frage
Bürgerlichen Frauen aus höheren Beamten-, Offiziers- und Kaufmannsfamilien waren im ausgehenden 19. Jahrhundert weder Erwerbsarbeit noch ein Studium erlaubt, es gab jedoch einen erheblichen Teil von Mädchen und Frauen, die unter der aufgezwungenen Untätigkeit und Langeweile sowie einer schlechten finanziellen Situation litten. „Man fütterte Kanarienvögel, begoß Blumentöpfe, stickte Tablettdeckchen und ‚wartete‘. […] Es war ein so unerträglicher Zustand für tätige wie nachdenkliche Naturen, daß vielen langsam der Glaube an einen Sinn des Lebens verloren ging.“2
Alice Salomon, eine der führenden Persönlichkeiten bei der Entwicklung der Sozialen Arbeit als Frauenberuf, kritisierte die Widersprüchlichkeit zwischen dem erzwungenen Müßiggang bürgerlicher Frauen und Mädchen und der Überlastung der Arbeiterfrauen mit der damit verknüpften Gefährdung des Familienlebens3. Dabei war für bürgerliche Frauen im ausgehenden 19. Jahrhundert private Wohltätigkeit durchaus üblich, sie engagierten sich im Rahmen Vaterländischer Frauenvereine, diakonischer Arbeit, in Volksküchen, Kindergärten und anderen Einrichtungen.4
Kritisiert wurde von radikalen wie gemäßigten Vertreterinnen der Frauenbewegung die ungeordnete Vielfalt dieser Aktivitäten5, die sie mit „Wohltätigkeitssport“, „gemeinnütziger Dilettantismus“ oder auch „Basarbazillus“ umschrieben.6 Eine Professionalisierung der Wohlfahrtspflege und systematische Ausbildung sollten der laienhaften Wohlfahrtsarbeit von Frauen ein Ende bereiten, die Überzeugung von der Notwendigkeit war dabei in der Frauenbewegung konfessions- und bewegungsflügelübergreifend einhellig. Propagiert wurde eine fachliche Ausbildung für Mädchen und Frauen, die auf gesicherten Wissensbeständen aufbauen und „Not nicht nur lindern, sondern durch methodisches Vorgehen die Menschen in die Lage versetzen sollte, ihr Leben ohne Unterstützung zu führen“7.
Von den Kursen für junge Frauen zu Sozialen Frauenschulen
Eine solcherart fundierte professionelle Soziale Arbeit von Frauen sollte zur Lösung der Sozialen wie auch der Frauen-Frage beitragen, drei Ziele standen dabei im Fokus:
- Die Verbesserung der Stellung der Frau im Berufs- und Bildungswesen und die damit verbundene Schaffung von sinnvollen Tätigkeiten für bürgerliche Frauen,
- Ermöglichung der Teilhabe von Frauen an staatsbürgerlichen Pflichten und Aufgaben (wie in der Armenfürsorge) und damit letztlich auch veränderte Beteiligungsrechte in Ehe und Familie,
- Lösung der Sozialen Frage durch die Verbesserung der Lebensführung der Arbeiterklasse.
Den Beginn der Ausbildung einer auf wissenschaftlicher Basis fundierten Sozialen Arbeit für Frauen markierten die 1893 in Berlin gegründeten Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit8 mit ihren Vorträgen und späteren Jahreskursen, denen die Sozialen Frauenschulen folgten. Hier ging es um die Aneignung von Wissen wie auch um die Einübung von Einstellung und Haltung: „Es gilt, Schülerinnen auf eine Arbeit vorzubereiten, die nicht nur die Leistung, sondern auch die Gesinnung schätzt; für die der Zustand der Seele nichts Gleichgültiges, oder Nebensächliches ist. Sie darf deshalb nicht nur die Methoden der Pädagogik, die Technik sozialer Arbeit lehren; sie soll nicht nur Wissen vermitteln, sondern eine Pflanzstätte sozialer Gesinnung werden.“9
Aus den Jahreskursen der Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit, die wesentlich von Vertreterinnen der Frauenbewegung wie Jeanette Schwerin, Minna Cauer, Henriette Goldschmidt oder Franziska Tiburtius getragen wurden, entstand 1908 in Gemeinschaft mit dem Pestalozzi-Fröbel-Haus die erste überkonfessionelle Soziale Frauenschule in Berlin unter der Leitung von Alice Salomon. Zu diesem Zeitpunkt hatte Soziale Arbeit als ein moderner Beruf für Frauen bereits erste Konturen und eine zunehmende Anerkennung gewonnen, und der Ruf nach bezahlter Fürsorgetätigkeit für Frauen wurde lauter. Hier kreuzten sich wieder die Bestrebungen der Frauenbewegung und der Begründungen der Sozialen Arbeit.
Die Soziale Frauenschule konnte auf ein Ausbildungskonzept zurückgreifen, das sich seit Beginn der Tätigkeit der Mädchen- und Frauengruppen entwickelt hatte und eine wichtige Grundlage für die neue zweijährige Ausbildung darstellte. Die Ausbildung war in eine Unter- und eine Oberstufe gegliedert. In der Unterstufe sollten pädagogische und hauswirtschaftliche Fächer auf die Tätigkeiten in der Jugendfürsorge und im Haushalt vorbereiten sowie die Grundlagen einer „wirksamen sozialen Fürsorgetätigkeit“10 vermitteln. Die Oberstufe stellte dann die eigentliche Fachausbildung dar: „Volkswirtschaftslehre, Bürgerkunde und Familienrecht, Sozialethik, Pädagogik, Soziale Hygiene, Einführung in die Probleme der sozialen Arbeit, Theorie und Geschichte des Armenwesens und der Armenpflege, Theorie der Jugendfürsorge“.11 Praktika in der Jugendfürsorge, Armenpflege, Volksbildung oder Arbeiterwohlfahrt kamen hinzu. Beispiele für Praxisausbildungsstätten sind zum Beispiel das von Anna von Gierke geleitete Projekt Verein Jugendheim Charlottenburg, das Kindergärten und Horte und die entsprechenden Ausbildungsseminare unterhielt, und die Wohlfahrtsstelle des Berliner Landesjugendamtes im Polizeipräsidium, die seit ihrer Gründung Anfang der 20er-Jahre Schülerinnen der Sozialen Frauenschule ausbildete.
Bis zum Ersten Weltkrieg wurden 14 weitere Soziale Frauenschulen in verschiedenen Städten – unter anderem in Hamburg und München – gegründet.12 Ab 1917 organisierten sie sich in der von Alice Salomon gegründeten ‚Konferenz der sozialen Frauenschulen Deutschlands‘, um Lehrpläne und Unterrichtsmethoden abzugleichen, eine gegenseitige Anerkennung der Ausbildung, Qualifikation und Bezahlung der Lehrkräfte abzustimmen oder eine gemeinsame Stellenvermittlung auf den Weg zu bringen.
„Die Sozialarbeit ist das Amerika der Frauen“
„Die Sozialarbeit ist das Amerika der Frauen“, mit diesem Zitat Frieda Duensings, Direktorin der Sozialen Frauenschule München, begann Alice Salomon im Juli 1932 einen Vortrag vor der Internationalen Konferenz der Sozialen Frauenschulen zum Thema Ausbildung leitender Kräfte für die soziale Arbeit.13 Duensings Euphorie hatte sich auf die Möglichkeiten der Frauen zur Pionierarbeit, zur Eroberung und Eigengestaltung immer neuer Arbeitsfelder bezogen, Alice Salomon beschäftigte sich unter dieser Überschrift mit der weiteren Professionalisierung der Ausbildung zur Sozialen Arbeit, nämlich der Etablierung von Forschung und die Ausbildung für höher qualifizierte Stellen, die nicht allein an den Universitäten stattfinden sollten.
Forschung gehörte seit Beginn der Bestrebungen nach Etablierung Sozialer Arbeit als Beruf zum Selbstverständnis ihrer frauenbewegten Protagonistinnen, und um eine stärker wissenschaftliche Ausbildung, Forschungsaktivitäten sowie die Ausbildung für Lehrerinnen an den Sozialen Frauenschulen zu etablieren, wurde 1925 in Berlin die ‚Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit‛14 gegründet. Die Akademie, an der zum Beispiel Alice Salomon, Marie Baum, Hilde Lion, Margarete Meusel, Hildegard von Gierke, Siddy Wronsky, Helene Weber und Gertrud Bäumer tätig waren, bot verschiedene Fort- und Weiterbildungsangebote für unterschiedliche Zielgruppen an: Jahreskurse für ausgebildete Wohlfahrtspflegerinnen, Jugendleiterinnen, Lehrerinnen, Nachmittags- und Wochenkurse für an Weiterbildung Interessierte, wissenschaftliche Kurse für Mütter. Die Forschungsabteilung der Akademie startete 1926 Forschungen über ‚Bestand und Erschütterung der Familie in der Gegenwart‘. 1933 wurde die Akademie in einer geheimen Sitzung von Alice Salomon aufgelöst, um der Liquidierung durch die nationalsozialistische Regierung zu entgehen und um die jüdischen Mitarbeiterinnen zu schützen.
Zwischen ‚geistiger Mütterlichkeit‘ und ‚geistigem Kämpfertum‘
Im Prozess der Etablierung Sozialer Arbeit als (Frauen-)Beruf kreuzten sich aus den Reihen ihrer frauenbewegten Unterstützerinnen zwei Ideen, die ‚geistige Mütterlichkeit‘ und das ‚geistige Kämpfertum‘. Bei der Idee der ‚geistigen Mütterlichkeit‘, weitergedacht als Grundlage der spezifischen Eignung von Frauen für die Soziale Arbeit, sollten Frauen wie in der Familie auch in Gemeinwesen und Staat versöhnende und ausgleichende Funktionen übernehmen. Jeanette Schwerin begründete die besondere Qualifikation von Frauen für die Soziale Arbeit mit ihrer „raschen Kombinationsgabe“ und ihrem „großen Anpassungsvermögen“, sie verband damit die Fähigkeit, „mit ihren armen Schwestern ganz anders zu sprechen als der klügste Mann, der gemeinsame Boden, auf dem sie als Frau und Mutter mit ihnen steht, befähigen sie […] in hohem Grade dieses Amtes zu walten“.15 Soziale Arbeit wurde für die Frauenbewegung so zu einem Betätigungsfeld, bei der „die Frauen kraft ihrer Eigenart Besseres als auf den meisten anderen Lebensgebieten leisten, bei der sie ihre Gaben ganz entwickeln und nützen, etwas vollbringen können; bei der sie – ihr Geschlecht – den Männern überlegen, bei der sie für die Kultur unentbehrlich sind“.16
Die Idee des ‚geistigen Kämpfertums‘ wurde von Gertrud Bäumer sicher nicht ohne Absicht konträr zur ‚geistigen Mütterlichkeit‘ formuliert: „Das Ideal, das die soziale Arbeit verwirklichen soll – am Hilfsbedürftigen, am Helfer selbst, an der Gesellschaft und ihren Zuständen, entsteht aus der Weltanschauung in ihrer Anwendung auf das bürgerlich-soziale Leben. Soziale Berufsarbeit ist Idealismus in diesem Sinne, sie bedarf der Führung durch einen klaren und starken Glauben, ein festbegründetes, einheitliches geistig-sittliches Wertebewußtsein. […] Ihre Wärme darf nicht ein Fieber der Empfindsamkeit, sondern sie muß die Glut des geistigen Kämpfers sein.“17 Zu diesem Gegensatzpaar kamen aus den Reihen der Frauenbewegung weitere Begriffe wie etwa die „soziale Frauenpersönlichkeit“ nach Alice Salomon18 oder der „lebendige Helferwillen“ von Marie Baum19, sie bilden die Breite identitätsstiftender Vorstellungen im frauenbewegten Diskurs ab, aber auch strategische Überlegungen mit Blick auf die Etablierung Sozialer Arbeit als Frauenberuf.
Letztendlich war es der Verdienst der bürgerlichen Frauenbewegung, dass sie die Soziale Arbeit mit Ausbildungseinrichtungen, Praxisprojekten, Methoden und Forschungszugängen als Frauenberuf entwickelt und für viele Frauen, zunächst des Bürgertums, später auch aus anderen Schichten, ein neues Berufsspektrum erschlossen hat.20
Fußnoten
- 1 Cauer, Minna: Wohltätigkeit, in: Die Frauenbewegung, 10. Jg., 1904, S. 114 ff, hier S. 114.
- 2 Salomon, Alice: Zwanzig Jahre Soziale Hilfsarbeit. Anläßlich des zwanzigjährigen Bestehens der „Mädchen und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit“ in Berlin im Auftrage des Vorstands verfaßt, Karlsruhe 1913, S. 3.
- 3 Ebenda, S. 3 ff.
- 4 Bake, Rita / Kiupel, Birgit: Einsichten. Von realen und idealen Frauen im Hamburger Rathaus Hamburg 2016, S. 18 f. https://www.hamburg.de/contentblob/7084458/ca9bfb4029cc80ba7c77be488d9aea89/data/einsichten-rathaus-frauenrundgang.pdf.
- 5 Salomon, Alice: Soziale Frauenbildung, Leipzig/Berlin 1908, S. 40 ff.
- 6 Cauer: Wohltätigkeit, S. 114.
- 7 Wagner, Leonie: Soziale Arbeit im Kontext der bürgerlichen Frauenbewegung, in: Graßhoff, Gunther et al. (Hg.): Soziale Arbeit. Eine elementare Einführung, Wiesbaden 2018, S. 259 272, hier S. 261.
- 8 Salomon: 20 Jahre Soziale Hilfsarbeit.
- 9 Dies.: Zur Eröffnung der sozialen Frauenschule, in: Die Frau, 16. Jg., Nov. 1908, Nr. 2, S. 103–107, hier S. 107.
- 10 Salomon: Frauenbildung, Anhang S. 94.
- 11 Ebenda, S. 94 ff.
- 12 Reinicke, Peter: Die Ausbildungsstätten der sozialen Arbeit in Deutschland 1899–1945, Freiburg 2012, S. 23 ff.
- 13 Salomon, Alice: Die Ausbildung leitender Kräfte für die soziale Arbeit, in: Zweite Internationale Konferenz für soziale Arbeit. Frankfurt a.M., 10.–14. Juli 1932, Karlsruhe 1933, S. 799–804; Nachdruck in: Muthesius, Hans (Hg.): Alice Salomon. Die Begründerin des sozialen Frauenberufs. Ihr Leben und ihr Werk, Köln/Berlin 1958, S. 262–267.
- 14 Feustel, Adriane: Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit 1925-1933. Verhandlungs- und Sitzungsprotokolle, Jahresberichte, Dozentenkonferenzen, Lehrpläne, Berlin 1992.
- 15 Schwerin, Jeanette: Armut und Armenpflege, in: Die Frau, 2. Jg., 1894/95, H. 3, S. 86–90, hier S. 89.
- 16 Salomon: 20 Jahre Soziale Hilfsarbeit, S. 102.
- 17 Bäumer, Gertrud: Die Ziele der sozialen Frauenschule und des sozialpädagogischen Instituts in Hamburg, in: Die Frau, 24. Jg., 1917, S. 338–341, hier S. 340.
- 18 Lange-Appel, Ute: Von der allgemeinen Kulturaufgabe zur Berufskarriere im Lebenslauf: eine bildungshistorische Untersuchung zur Professionalisierung der Sozialarbeit, Frankfurt a.M. 1993, S. 33.
- 19 Hering, Sabine: Die Frauenbewegung, der soziale Frauenberuf und die langen Schatten der Armenpflege, in: Franke-Meyer, Diana / Kuhlmann, Carola: Soziale Bewegungen und Soziale Arbeit. Von der Kindergartenbewegung zur Homosexuellenbewegung, Wiesbaden 2018, S. 141–154, hier S. 149 f.
- 20 Wagner, Leonie / Wenzel, Cornelia: Frauenbewegungen und Soziale Arbeit, in: Wagner, Leonie (Hg.): Soziale Arbeit und Soziale Bewegungen, Wiesbaden 2009, S. 21–71.
Ausgewählte Publikationen
-
Salomon, Alice: Soziale Frauenbildung, Leipzig [u.a.] 1908.
-
Salomon, Alice: Zwanzig Jahre Soziale Hilfsarbeit, Karlsruhe 1913.
-
Reinicke, Peter: Die Ausbildungsstätten der sozialen Arbeit in Deutschland 1899–1945, Freiburg 2012.
-
Muthesius, Hans (Hg.): Alice Salomon. Die Begründerin des sozialen Frauenberufs. Ihr Leben und ihr Werk, Köln/Berlin 1958.
-
Feustel, Adriane: Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit 1925-1933. Verhandlungs- und Sitzungsprotokolle, Jahresberichte, Dozentenkonferenzen, Lehrpläne, Berlin 1992.
-
Lange-Appel, Ute: Von der allgemeinen Kulturaufgabe zur Berufskarriere im Lebenslauf: eine bildungshistorische Untersuchung zur Professionalisierung der Sozialarbeit, Frankfurt a.M. 1993.
-
Hering, Sabine: Die Frauenbewegung, der soziale Frauenberuf und die langen Schatten der Armenpflege, in: Franke-Meyer, Diana / Kuhlmann, Carola: Soziale Bewegungen und Soziale Arbeit. Von der Kindergartenbewegung zur Homosexuellenbewegung, Wiesbaden 2018, S. 141–154.
-
Wagner, Leonie / Wenzel, Cornelia: Frauenbewegungen und Soziale Arbeit, in: Wagner, Leonie (Hg.): Soziale Arbeit und Soziale Bewegungen, Wiesbaden 2009, S. 21–71.