Das Recht auf Mitbestimmung

Der Bund Deutscher Frauenvereine (BDF) wurde 1894 als Dachorganisation der deutschen Frauenbewegung gegründet und erarbeitete eigene Positionen zum § 218. Die Historikerin Prof. Dr. Angelika Schaser skizziert die intensiven Rechtsdebatten.

Für seine inhaltliche Arbeit richtete der BDF sogenannte Kommissionen ein, die zu bestimmten Schwerpunkten arbeiteten. Zu ihnen zählten die Rechtskommissionen. Welche Aufgabe hatte sie und wer war hier aktiv?

Vertreterinnen der deutschen Frauenbewegung, die von Clara Zetkin gerne als ‚bürgerliche‘ oder ‚Damenbewegung‘ diffamiert wurde, gründeten 1894 einen nationalen Dachverband, um 1897 der Internationalen Frauenbewegung (International Council of Women) als dritter Nationalbund nach den USA und Kanada beizutreten. Erklärtes Ziel des Dachverbandes war „die Regelung und Besserung der Rechtslage der Frauen“.1  Die Gründung des BDF wurde genutzt, in die Diskussionen um die neu für das Kaiserreich zu schaffenden Gesetzesbücher, das BGB und das RStGB , mit eigens geschaffenen Rechtskommissionen  einzutreten. Eine führende Rolle spielte in diesen Rechtskommissionen Marie Stritt (1855–1928), die bereits 1894 in Dresden einen ersten Rechtsschutzverein für Frauen gegründet hatte, der den Auftakt für ein sich landesweit rasch ausbreitendes Netz von Rechtsberatungsstellen gab.2  Die ehemalige Schauspielerin und Mutter zweier Kinder gab ihre Bühnenkarriere 1889 auf und engagierte sich seit dem Umzug der Familie nach Dresden (1890) in der Frauenbewegung. 

Bericht der Rechtskommission in der Extra-Beilage des Centralblattes des BDFs, Berlin 1909
Hannah Bieber-Böhm beantragt die Gründung von thematisch arbeitenden Kommissionen, Berlin 1895

Als der BDF 1895 eine erste Rechtskommission einsetzte, wurde Stritt die Leitung dieser Kommission übertragen.3  1896, als das BGB in erster und zweiter Lesung diskutiert wurde, richtete der BDF eine zweite, größere juristische Kommission ein. Auch in dieser arbeitete Stritt mit, geleitet wurde sie aber von der Berliner Lehrerin Marie Raschke  (1850–1935), die 1896 als Gasthörerin an der Universität ein Jurastudium aufnahm.  Die Intention zur Gründung dieser Rechtskommissionen im BDF speiste sich aus zwei Quellen: dem Bedürfnis, Frauen aller Schichten Rechtsauskünfte und Rechtsberatung geben zu können, und dem Ziel, die neu zu schaffende Gesetzgebung des Kaiserreichs zu Gunsten der Frauen zu beeinflussen. Der Protest der Kommissionen richtete sich im Wesentlichen gegen die „dauernde Bevormundung der Ehefrau und Mutter“, gegen mindere Rechtsstellung bezüglich des eigenen Vermögens und der Kinder sowie gegen die geplante Neuregelung der Ehescheidung und Rechtsstellung der unehelichen Kinder . Die inhaltlichen Schwerpunkte der Rechtsberatungsstellen lagen in den Bereichen des Arbeits- und Sozialrechts sowie der familienrechtlichen Probleme.4

Brief an Marie Munk über die Einsetzung einer Kommission für die Reform des Familienrechts, Mannheim 1919

Es gab also nicht nur eine Rechtskommission, sondern der BDF setzte aus gegebenen Anlässen immer wieder neue Rechtskommissionen ein, die zum Teil auch parallel nebeneinander arbeiteten. 1918 listet das Jahrbuch des BDF eine Kommission zur Frage der Prostitution und der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten mit der Vorsitzenden Paula Mueller sowie eine zur Frage der unehelich Geborenen, zugleich Kommission zur Frage der familienrechtlichen Stellung der Frau  mit der Vorsitzenden Marie Stritt auf.5 1919, nach der Verabschiedung der Weimarer Verfassung, nannte das Jahrbuch des BDF erstmals unter seinen sechs bestehenden Bundeskommissionen keine Rechtskommission und auch keine Kommission zur Prostitutionsfrage.6  Als 1927 ein Jahrbuch erschien, das die Jahre 1921 bis 1927 zusammenfasste, wurden nun die deutschen Frauen aufgeführt, die in den ständigen Ausschüssen im Internationalen Frauenbund vertreten waren: Camilla Jellinek  im Ausschuss Gesetze und rechtliche Stellung der Frau, Marie Stritt im Ausschuss Stimmrecht und gleiche Bürgerrechte und Anna Mayer im Ausschuss Gleiche Moral und gegen den Mädchenhandel.7

Unterlagen der Kommission zur Bearbeitung des Gesetzentwurfs über die unehelichen Kinder, o.J.

Im BDF arbeiteten in diesen Jahren Facharbeitsgemeinschaften und Ausschüsse zu verschiedenen Themen, darunter ein Ausschuss zur Bearbeitung des Gesetzentwurfes über die unehelichen Kinder unter Leitung von Gertrud Bäumer und einer zur weiteren Bearbeitung der §§ 228 und 229 (RStGB) unter Leitung von Else Ulich-Beil.8

Zur geplanten Reform des RStGB erarbeitete die Rechtskommission zu den ‚frauenrelevanten‘ Paragrafen eigene Vorschläge. Besonders kontrovers wurde der § 218 diskutiert. Welche Positionen trafen in der Rechtskommission des BDF aufeinander?

Die Frage der Abtreibung war im BDF von Beginn an kontrovers diskutiert  worden. 1908 hatten sich die Mitglieder der Rechtskommission, darunter Marie Stritt und Camilla Jellinek, klar für die Abschaffung des § 218 eingesetzt. Dies hat Julie Eichholz, geb. Levy (1852–1918), die Gründerin des Hamburger Rechtsschutzvereins für Frauen, 1908 in einer ausführlichen Stellungnahme zum StGB für die Generalversammlung des BDF festgehalten.9  Dort stellte sie fest, dass das RStG „vollständig das Gepräge eines Männerrechts“10  trüge. Auf der Generalversammlung in Breslau 1908 wurde jedoch mit knapper Mehrheit folgender Beschluss gefasst: „Herabsetzung der Strafe, Absetzung der Zuchthausstrafe, Recht und Pflicht des Arztes zur Vornahme des Aborts nach Beschluß einer Kommission in folgenden Fällen: a) wenn die Vollendung der Schwangerschaft mit Gefahr für Leben und Gesundheit der Mutter verbunden ist; b) wenn zu erwarten steht, daß das Kind körperlich oder geistig schwer belastet ins Leben treten wird; c) in festgestellten Fällen von Vergewaltigung.“11  Die Streichung des § 218, die die Rechtskommission vorgeschlagen hatte, scheiterte im Wesentlichen an den Stimmen des 1908 in den BDF eingetretenen Deutsch-Evangelischen Frauenbundes (DEF). Hier rächte sich, dass der BDF dem mitgliederstarken DEF beim Eintritt eine hohe Stimmenzahl in den Generalversammlungen gewährt hatte.

Auf welchen Vorschlag zum § 218 konnte sich die Rechtskommission einigen?

Die Rechtskommission hatte sich 1908 für die Abschaffung des § 218 eingesetzt. Diese Position der Rechtskommission war jedoch auf den Mitgliederversammlungen des BDF nicht mehrheitsfähig. Für das RStGB, das bereits am 1. Januar 1872 in Kraft getreten war, wurden 1909 und 1913 umfangreiche Reformvorschläge erarbeitet, die jedoch im Kaiserreich nicht mehr umgesetzt wurden. In diesem Zusammenhang hatte der BDF 1909 eine Petition zur Revision des Strafgesetzbuches und der Strafprozessordnung erstellt und dazu im Anhang die bestehenden Paragrafen und die vom BDF gewünschten Änderungen gegenübergestellt.12  Der BDF forderte in dieser Broschüre nicht nur die Zulassung von Frauen zu den Ämtern im Strafgerichtsverfahren, sondern begründete auch die von der Generalversammlung des BDF im Jahre 1908 verlangte Strafminderung bei Abtreibungen ausführlich. Zum einen wurde darauf verwiesen, dass es im Fall des § 218 zur Anklage in der Regel nur durch Denunziationen kam und diese Denunziationen „fast immer von Gehässigkeit oder Rachsucht diktiert“13  wurden und vor allem in den ärmeren Bevölkerungsschichten vorkamen. „Die sozialen Verhältnisse stempeln den § 218 in gewissem Sinne zu einem Klassengesetz“.14  Weiter forderte der BDF für die Richter die Möglichkeit, „größtmögliche Milde walten lassen“ zu können, das Leben einer Mutter höher bewerten zu können als das eines ungeborenen Kindes und aus ‚rassenhygienischen Gründen‘  die Abtreibung straflos zu gestatten, wenn „ein körperlich oder geistig schwer belastetes Kind ins Leben treten wird“.15  Im Falle eines Ehemannes, der der Trunksucht verfallen war oder an der Syphilis litt, sollte die Abtreibung ebenso straflos bleiben wie im Falle einer Vergewaltigung.16  Nicht nur bei diesem Paragrafen, sondern generell führte der BDF in dieser Petition soziale Gesichtspunkte für die Beurteilung bzw. Verurteilung von Frauen im Rahmen des RStGB an.

Welche Wirkungen hatten die Interventionen und Vorschläge und welche Folgen lassen sich für die Weimarer Republik skizzieren?

In der Weimarer Republik wurde die Diskussion um eine Reform des RStGB intensiv weitergeführt. In den Jahren 1923 und 1924 wurde das RStGB dann umfassend reformiert. Als im Februar 1924 im Zusammenhang mit diesen Diskussionen auf der Gesamtvorstandssitzung des BDF wieder über den § 218 diskutiert wurde, hielt man an dem Beschluss der Generalversammlung von 1908 fest, der die Herabsetzung der Strafe, aber nicht die Abschaffung des § 218 forderte.17  1925 setzte sich Stritt in einem Artikel noch einmal für die Abschaffung des § 218 ein,18  nachdem der BDF auf seiner Generalversammlung in Dresden im selben Jahren weiter die Strafbarkeit der Abtreibung forderte. Der BDF reagierte damit wohl auf einen Entwurf, der dem Reichsrat vorlag, in dem der (damalig geplante) § 228 folgendermaßen lautete: 

„Eine Frau, die ihre Frucht im Mutterleibe oder durch Abtreibung tötet oder die Tötung durch einen anderen zuläßt, wird mit Gefängnis bestraft. 
Ebenso wird ein anderer bestraft, der eine Frucht im Mutterleibe oder durch Abtreibung tötet. Der Versuch ist strafbar. In besonders leichten Fällen kann das Gericht (….) von Strafe absehen. 
Wer die in Absatz 2 bezeichnete Tat ohne Einwilligung der Schwangeren oder gewerbsmäßig begeht, wird mit Zuchthaus bestraft. Ebenso wird bestraft, wer einer Schwangeren ein Mittel oder Werkzeug zur Abtreibung der Frucht gewerbsmäßig verschafft.“19

Zeitgleich hatte sich auch der Deutsche Ärztetag in Leipzig „einstimmig gegen die Aufhebung der Strafparagraphen 218 ff. erklärt“ und die „Fruchtabtreibung als eine Volksseuche“ charakterisiert.20  Der BDF sollte auf seinen Generalversammlungen bis zu seiner Auflösung im Jahr 1933 an der Strafbarkeit der Abtreibung festhalten. Die Diskussion zum § 218 im BDF spiegelt zum einen die kontroversen Meinungen zum Thema Abtreibung in der deutschen Gesellschaft. Das Festhalten an der Strafbarkeit der Abtreibung fand zunächst mit dem Eintritt des DEF 1908 und später mit dem Beitritt der deutschen Hausfrauenvereine im Ersten Weltkrieg ausreichend Rückhalt auf den Generalversammlungen des BDF.

Welches Potenzial bieten die Unterlagen der BDF-Rechtskommission heutigen Leser*innen?

Bericht der Rechtskommission von Camilla Jellinek, 1910

Die Unterlagen belegen – was in neueren juristischen und geschichtswissenschaftlichen Arbeiten z.B. von Marion Röwekamp  schon nachgewiesen wurde –, wie intensiv sich die deutsche Frauenbewegung mit Rechtsfragen auseinandergesetzt hat. Rechts- und Sozialreformen wurden dabei immer in engem Zusammenhang gesehen – wie beim § 218. Allein in dem kurzen Bericht, den Camilla Jellinek zur Rechtskommission nach 1910  abgab,21  wird nicht nur die Vielfalt der Themen deutlich, sondern es werden auch die unterschiedlichen Positionen innerhalb des BDF in diesen Rechtsfragen deutlich. Die von der Rechtskommission aufgegriffenen Fragen wurden in der erhaltenen Korrespondenz reichsweit diskutiert. Und es gab nicht nur eine, sondern mehrere Rechtskommissionen, die zum Teil jeweils zu laufenden Kodifizierungsverfahren eingerichtet worden sind. Protokolle, Korrespondenzen und Berichte erzählen davon, wie viele Frauen sich für Rechtsfragen im BDF engagiert haben und wie breit das Themenspektrum war. In diesem Material ist der § 218 eines von vielen Themen, gerade auch die Strafbarkeit von Kindern und Jugendlichen sowie das Reichshebammengesetz sind ausführlich diskutiert worden.

Stand: 17. Mai 2021
Lizenz (Text)
Verfasst von
Prof. Dr. Angelika Schaser

ist Professorin für Neuere Geschichte an der Universität Hamburg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen u.a. die Geschichte der Frauenbewegung, Stadtgeschichte, Autobiographie- und Biographieforschung.

Empfohlene Zitierweise
Prof. Dr. Angelika Schaser (2021): Das Recht auf Mitbestimmung , in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/angebote/dossiers/218-und-die-frauenbewegung/das-recht-auf-mitbestimmung
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Rechteangabe
  • Prof. Dr. Angelika Schaser
  • Digitales Deutsches Frauenarchiv
  • CC BY 4.0

Fußnoten

  • 1Simson, Anna: Der Bund Deutscher Frauenvereine, was er will und was er nicht will, Breslau 1895, Anlage I.
  • 2Vgl. dazu Schüller, Elke: Marie Stritt. Eine „kampffrohe Streiterin“ in der Frauenbewegung (1855-1928), Königstein/Taunus, S. 112‒116.
  • 3Geisel, Beatrix: Patriarchale Rechtsnormen „unterlaufen“. Die Rechtsschutzvereine der ersten deutschen Frauenbewegung, in: Gerhard Ute (Hg.): Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, S. 683‒697, hier, S. 686.
  • 4Geisel, Die Rechtsschutzvereine, S. 690 f.
  • 5Jahrbuch des BDF 1918, S. 10.
  • 6Jahrbuch des BDF 1919, S. 7.
  • 7Jahrbuch des BDF 1921-1927, S. 13.
  • 8Jahrbuch des BDF 1921-1927, S. 15.
  • 9Frauenforderungen zur Strafrechts-Reform. Kritik und Reformvorschläge nach den Beschlüssen der Rechtskommission des Bundes deutscher Frauenvereine, zusammengestellt und bearbeitet von Julie Eichholz, Mannheim 1908, wiederabgedruckt in: Meder Stephan/ Duncker, Arne/ Czelk, Andrea (Hg.): Die Rechtsstellung der Frau um 1900. Eine kommentierte Quellensammlung, Köln/Weimar/Wien 2010, S. 333‒356, hier S. 347‒348.
  • 10Frauenforderungen zur Strafrechts-Reform. Kritik und Reformvorschläge nach den Beschlüssen der Rechtskommission des Bundes deutscher Frauenvereine, zusammengestellt und bearbeitet von Julie Eichholz, Mannheim 1908, wiederabgedruckt in: Meder, Stephan/ Duncker, Arne/ Czelk, Andrea (Hg.): Die Rechtsstellung der Frau um 1900. Eine kommentierte Quellensammlung, Köln/Weimar/Wien 2010, S. 333‒356, hier S. 347‒348, hier S. 336.
  • 11Wieder abgedruckt in: Die Frau 32 (1924/25), S. 187.
  • 12Petition des Bundes Deutscher Frauenvereine, die Revision des Strafgesetzbuches und der Strafprozeßordnung betr. Als Anhang: Gegenüberstellung der geltenden Gesetzes-Paragraphen und der vom Bund Deutscher Frauenvereine erbetenen Aenderungen, Mannheim o.J. [vermutlich 1909].
  • 13Petition des BDF, S. 47.
  • 14Petition des BDF, S. 47.
  • 15Petition des BDF, S. 48-49.
  • 16Petition des BDF, S. 49-50.
  • 17Die Frau 32 (1924/25), S. 187.
  • 18Stritt, Marie: Die Frauenbewegung und der § 218 St.G.B., in: Die neue Generation 21 (1925), S. 309.
  • 19Bäumer, Gertrud: Der Meinungskampf um den Paragraphen 218 St.G.B., in: Die Frau 32 (1924/25), S. 355‒363, hier S. 359.
  • 20Notiz in: Die Frau 33 (1925/26), S. 57.
  • 21Jellinek, Camilla: Bericht der Rechtskommission, in:  Berichte der ständigen Kommissionen und der Auskunftstelle für Fraueninteressen des Bundes deutscher Frauenvereine für die Geschäftsperiode 1908-1910. Dresden o.J. in: Digitales Deutsches Frauenarchiv:  BDF. Protokolle, Berichte und Korrespondenzen der Rechtskommission, B Rep. 235-01 MF Nr. 2133-2140, p. 566‒568.