
Über Paula Müller-Otfried
Kindheit und Jugend
Pauline Sophie Christiane Müller wurde am 7. Juni 1865 in Hoya geboren. Ihr Vater Carl Hugo Müller (1830–1908) war Jurist, der als Obergerichtsassessor nach Lüneburg ging. Seine Frau Emma Henriette Sophie geb. Bauer (1828–1891) kam mit den zwei Kindern nach. 1869 zog die Familie nach Hannover, wo der Vater 30 Jahre lang in der Verwaltung als Zweiter Schatzrat tätig war, ab 1895 zusätzlich als Landesdirektor der Provinz Hannover. Paulines Großvater war Karl Otfried Müller, Begründer der klassischen Altertumswissenschaft. Der liberale Göttinger Professor führte ein offenes Haus, in dem Kunst und Literatur gefördert wurden. Diese Tradition führte Paulines Vater in seinem Haus in Hannover fort. So verlebte Tochter Paula eine glückliche Kindheit in einem geistig anregenden Umfeld. Sie besuchte die evangelisch-lutherische Höhere Töchterschule in Hannover, reiste nach Griechenland und Italien, die Welt ihres Großvaters. Schließlich verbrachte sie ein Jahr in einem Mädchenpensionat in Lausanne, um ihr Französisch zu verbessern.
Früh wollte Paula Müller die Situation der Frau in der wilhelminischen Gesellschaft verändern. So forderte sie eine eigenständige Berufstätigkeit für Frauen aus Bürgertum und Arbeiterschicht: „Daß die Erwerbsarbeit der Frau nicht mehr zu hindern ist, aber daß sie in geeignete Bahnen gelenkt werden sollte. Daß nicht nur die Frau des Volkes der Hülfe und Unterstützung bedarf, sondern daß die Lage der gebildeten Frau, die sich darauf angewiesen sieht, ihren Lebensunterhalt durch eigene Kraft zu beschaffen, eine verzweifelte ist.“1
Sittlichkeit und Abolitionismus
Schon als Kind hatte Paula ihre Mutter bei der Armenfürsorge unterstützt. Seit 1893 engagierte sie sich in der kirchlichen Armenpflege und lernte hier die Not von Prostituierten kennen. Als Vorsitzende des Deutsch-Evangelischen Frauenbundes (DEF) schloss sie sich der Abolitionistischen Föderation an, welche die Reglementierung der Prostitution ablehnte, da diese eine Doppelmoral beförderte, mit für Frauen und Männer unterschiedlichen Moralstandards. Ein erstaunlicher Schritt, galt der Abolitionismus doch als ‚radikale‘ Lösung der Prostitutionsproblematik und der DEF als ‚konservativer‘ Frauenverband.
Christliches Fundament und Engagement im DEF
Über die Armenpflege fand Paula Müller zur Inneren Mission, einer evangelisch-lutherischen Fürsorgeeinrichtung. Die tätige Nächstenliebe, das Motto des Gründers Johann Heinrich Wichern, wurde für Müller zur Maxime ihres Handelns. 1899 wurde der DEF als einer der ersten konfessionellen Frauenverbände gegründet und bot die ideale Bühne für die handlungshungrige Paula Müller. Sie übernahm den Aufbau der Ortsgruppe Hannover und wurde bereits 1901 Vorsitzende des Gesamtbundes und blieb es bis 1934. Über die Entwicklung des DEF geben die Protokollbücher und die Pressesammlung Aufschluss. Von 1904 bis 1932 war sie außerdem Herausgeberin der Evangelischen Frauenzeitung, dem Vereinsorgan des DEF.
Ihr Frauenbild, ihr Verhältnis zur Frauenfrage und Frauenbewegung waren von diesem christlichen Grundton bestimmt: „Wenn wir darauf hingewiesen werden, daß nach göttlichem Willen das Weib die Gehülfin des Mannes sein solle, so können wir nur erklären, daß es diese Stellung grade ist, die wir erstreben.“2 Doch ungeachtet dieser biblischen Positionsbestimmung der Frau war ihre Selbstwahrnehmung die einer ‚modernen‘ Frau: „Ich bin also, wie ich hoffe im guten Sinne, ein moderner Mensch, und gehöre keineswegs zu denen, deren Urteil noch so fest in der Anschauungsweise einer vergangenen Zeit wurzelt, daß sie sich nicht am modernen Leben und an der modernen Ausdrucksweise des schöpferischen Geistes erfreuen können. Das ist bei mir durchaus der Fall, es ist also keineswegs die Moderne als solche, gegen die ich mich wende.“3 Paula Müller wollte durch ihre Arbeit ihr christlich geprägtes Frauenbild mit den Anforderungen der modernen Zeit versöhnen.
Sie hielt Männer und Frauen nicht für gleich, aber für gleichwertig und setzte sich daher für eine entsprechend gleichberechtigte Position der Frau ein, die ihr Selbstständigkeit und Verantwortung in der Gesellschaft zugestand. Auf der Weltkirchenkonferenz in Stockholm 1929 formulierte sie folgende Ziele des DEF: „1. Gewinnung und Schulung von Frauen für selbständige, unter eigener Verantwortung geleistete Arbeit; 2. Ausgestaltung christlicher Liebestätigkeit zu einer durch soziale Erkenntnisse bestimmten sozialen Fürsorge und Mitarbeit an der sozialen Reform; 3. Förderung der Berufsausbildung für das weibliche Geschlecht, Besserung der Berufsbedingungen für die Frau; Bekämpfung der Unsittlichkeit in jeder Beziehung, ausgehend von dem Grundsatz: gleiche Moral für beide Geschlechter; 5. Vertreten evangelischer Überzeugung im persönlichen und öffentlichen Leben.“4 Es ging ihr vor allem um die Frauen, „die neben einer tatkräftigen Mutter im Hause wohl Beschäftigung fanden, aber keine Arbeit leisten durften und die sich nach Leben ausfüllender Arbeit sehnten. Diesen Frauen gegenüber bedeutete der Hinweis auf ein nur häusliches Leben eine Grausamkeit. Für sie galt es einzutreten. Ihnen zu helfen, Lebensunterhalt und Lebensinhalt zu finden, war eine der Aufgaben des Deutsch-Evangelischen Frauenbundes und das bedeutete Kampf, Kampf gegen fest eingewurzelte, zäh verteidigte Vorurteile.“5
Soziale Arbeit
Paula Müller engagierte sich auch über den DEF hinaus. Seit 1902 war sie Mitglied einer Kommission der Inneren Mission, die junge Frauen für Berufe der sozialen Arbeit in der Jugend- und Armenpflege, in Waisenhäusern und Mädchenheimen gewinnen und darauf vorbereiten sollte. 1905 gründete sie zusammen mit Adelheid von Bennigsen das christlich-soziale Frauenseminar für Frauen und Mädchen in Hannover. Als staatlich anerkannte Wohlfahrtspflegerin oder Sozialarbeiterin verließen die Frauen die Schule und konnten so ihren Lebensunterhalt verdienen und im christlichen Sinne wirken. Paula Müller war als Dozentin an der Schule tätig. Wichtig war ihr immer auch der Ausbau von Arbeits- und Rechtsschutz.
Wahl- und Stimmrecht für Frauen
Der DEF, der stets die Bedeutung der Mutterrolle für die Frau hervorhob, setzte sich dennoch im Rahmen seiner christlichen Wertvorstellungen für die Berufstätigkeit der Frau ein, zur „Entfaltung der der weiblichen Natur eigentümlichen Gaben und Kräfte für das Volksleben“6. Vor diesem Hintergrund forderte er das aktive und passive Wahlrecht für Frauen zur Gemeindevertretung, also zum Kirchenvorstand, da den Pflichten der Frauen auch ihre Rechte entsprechen müssten. Das politische Wahl- und Stimmrecht jedoch lehnte der DEF bis 1918 kategorisch ab. Es liege „weder im Interesse der Frauen, noch des gesamten Volkes und Familienlebens“7, so formulierte es Müller 1908 in dem von ihr herausgegebenen Handbuch zur Frauenfrage.
Als Vorstandsmitglied (1916–1917) des Bundes Deutscher Frauenvereine (BDF) brachte sie diese Position in Bedrängnis. Denn der BDF begann ab 1917, sich aktiv für das politische Frauenstimmrecht einzusetzen, welches er bereits 1903 in sein Programm aufgenommen hatte, es aber den einzelnen Vereinen überlassen hatte, sich zu engagieren oder eben nicht. Als der BDF sich nicht von seinem Weg abbringen ließ, verließ der DEF im März 1918 den BDF. Aber auch dieser Schritt verhinderte nicht, dass seit dem 12. November 1918 das Frauenstimmrecht geltendes Recht war und Frauen in Deutschland am 19. Januar 1919 die Abgeordneten der Weimarer Nationalversammlung wählten und selbst gewählt werden konnten.
Der DEF konnte seine Ablehnung nicht länger aufrechterhalten, da Frauen auch ein riesiges Stimmenpotenzial darstellten. Paula, von jetzt ab Müller-Otfried, um sich von anderen Abgeordneten mit dem Namen Müller abzuheben, kandidierte für die konservative Deutschnationale Volkspartei (DNVP) und war von 1920 bis 1932 Abgeordnete im Reichstag. Hier setzte sie sich vor allem für Frauen- und Jugendschutz sowie für die Verbesserung der Lage der Kleinrentner ein. 1934 legte sie den Vorsitz des DEF nieder, nachdem der sich in die Evangelische Frauenarbeit eingegliedert hatte, um der Gleichschaltung durch die Nationalsozialisten zu entgehen. Dem Nationalsozialismus stand Paula Müller-Otfried zunächst nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber. Die „nationale Erhebung“ habe „endlich dem bösen Spuk der letzten 14 Jahre ein Ende bereitet“8. Der auch gewaltbasierten Wiederherstellung der staatlichen Ordnung konnte sie ebenso etwas abgewinnen wie dem expansiven außenpolitischen Programm der NS-Partei. Aber innenpolitisch war sie abgestoßen von der „Vergötzung“ des „Führers“: „Die in Wort und Schrift mehrfach ausgesprochene hemmungslose Hingabe an den Führer des Nationalsozialismus“ und die „verantwortungslose Unterordnung unter Hitler“ war für sie als Christin inakzeptabel.9 Paula Müller-Otfried zog sich, fast siebzigjährig, in das Privatleben zurück. Sie starb 1946 in Einbeck.
Netzwerk von Paula Müller-Otfried
Zitate von Paula Müller-Otfried
Biografie von Paula Müller-Otfried
Fußnoten
- 1 Zitiert nach Kuhn, Halgard: Paula Mueller-Otfried (1865-1946), in: Mager, Inge (Hg.): Frauenprofile des Luthertums. Lebensgeschichten im 20. Jahrhundert, Gütersloh 2005, S. 99‒122, hier S. 104.
- 2 Müller, Paula: Die Frauen im kirchlichen Gemeindeleben. Beitrag zur Frage des kirchlichen Stimmrechts, Hannover 1904, S. 14.
- 3 Müller, Paula: Welche Aufgaben erwachsen der Frau aus der Not unserer Zeit?, Hannover 1906, S. 2.
- 4 Zitiert nach Kuhn: Paula Mueller-Otfried (1865-1946), S. 110.
- 5 Müller-Otfried, Paula: Der Deutsch-Evangelische Frauenbund im Kampf der Zeiten. Vortrag gehalten auf der Jubiläumstagung des Deutsch-Evangelischen Frauenbundes in Hannover am 7. Juni 1924 (Schriften zur Frauenbildung, hrsg. von Prof. Dr. Jakob Wychgram, Heft 7), Pädagogisches Magazin, 1925, H. 1015, S. 5‒22, hier S. 6.
- 6 Zitiert nach: Kapeller, Gertrud: Antwort auf die Herausforderungen der Zeit. 75 Jahre Deutscher Evangelischer Frauenbund: 1899-1974, Hannover 1974, S. 8.
- 7 Müller, Paula (Hg.): Handbuch zur Frauenfrage. Der Deutsch-Evangelische Frauenbund in seiner geschichtlichen Entwickelung, seinen Zielen und seiner Arbeit, Berlin-Lichterfelde 1908, S. 57.
- 8 Paula Müller-Otfried: Nationale Erhebung, in: Evangelische Frauenzeitung, 24. Jg., 1933, S. 97 f.
- 9 Zitiert nach Kuhn: Paula Mueller-Otfried (1865-1946), S. 118.
Ausgewählte Publikationen
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Müller-Otfried, Paula: Grundsätze und Aufgaben des Deutsch-Evangelischen Frauenbundes, Hannover 1921.
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Stiftung Archiv der deutschen Frauenbewegung (Hg.): Ariadne. Im Namen des Herren? Konfessionelle Frauenverbände 1890–1933. Heft 35, Kassel 1999.
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Archiv der dt. Frauenbewegung (Hg.): Im Dienst des Vaterlandes? Nationalismus und Internationalismus in der deutschen Frauenbewegung, in: Ariadne: Almanach des Archivs der deutschen Frauenbewegung, Kassel Heft 24. November 1993.
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Böttcher, Dirk: Mueller-Otfried, Paula, in: Hannoversches Biographisches Lexikon, S. 262.
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Böttcher, Dirk: Mueller-Otfried, Paula, in: Mlynek, Klaus / Röhrbein Waldemar R. (Hg.) u. a.: Stadtlexikon Hannover. Von den Anfängen bis in die Gegenwart, Hannover 2009, S. 453.
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Dölle, Gilla: „Who is who im Bund Deutscher Frauenvereine”, in: Ariadne Heft 25, Mai 1994, S. 55-63.
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Doering, Sabine: Mueller(-Otfried), Paula, iIn: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL). Band 6, Herzberg 1993, Sp. 308–309.
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Heins, Corinna / Jäger, Anne: Frauen in der List / Paula Mueller-Otfried, Vorsitzende des D.E.F.B. (1865–1946), in: Hannoversche Geschichtsblätter, Neue Folge Band 60 (2006), S. 256–258.
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Reinicke, Peter: Mueller-Otfried, Paula, in: Maier, Hugo (Hg.): Who is who der Sozialen Arbeit, Freiburg im Breisgau, 1998, S. 408 ff.
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Schroeder, Hiltrud (Hg.): Sophie & Co. Bedeutende Frauen Hannovers. Biographische Portraits, Hannover 1991, S. 250 f.
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Süchting-Hänger, Andrea: Das „Gewissen der Nation“. Nationales Engagement und politisches Handeln konservativer Frauenorganisationen 1900–1937, Düsseldorf 2002.
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Thimme, Anneliese: Flucht in den Mythos : die Deutschnationale Volkspartei und die Niederlage von 1918, Göttingen 1969.
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Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. 7, S. 289.
-
Lexikon der Frau. Band 2, Zürich 1954, S. 680.
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M.d.R. Die Reichsabgeordneten der Weimarer Republik in der Zeit des Nationalsozialismus. Politische Verfolgung, Emigration und Ausbürgerung. 1933–1945. Eine biografische Dokumentation. Droste Verlag, Düsseldorf, 2. Auflage, 1992, S. 404.