Die Lette-Schwestern. Eine biografische Zeitreise

verfasst von
  • Jana Haase
veröffentlicht 18. November 2020
Im Lette-Verein hielt sich die Erinnerung an die Töchter des Gründungsvorsitzenden Wilhelm Adolph Lette bis in die 1920er-Jahre und brach dann ab. Dabei war die älteste Tochter, Anna Schepeler-Lette, 25 Jahre Vereinsvorsitzende. Erst in den 1980er-Jahren rückten die Lette-Schwestern wieder in den Blick.

Kindheit und Jugend im Vormärz

1844 war Berlin im Begriff, Großstadt zu werden. Die Stadtbevölkerung wuchs. Noch war sie zwar nach Ständen, Geschlechtern und Konfessionen getrennt und Bürgerrechte waren vermögenden Männern vorbehalten. Doch das Neue Museum war im Bau, die Gewerbeausstellung, Krolls Etablissement und der Zoologische Garten zogen das Publikum an. Die junge Universität hatte sich einen Ruf erworben. In Handwerks- und Manufakturbetriebe zog die Industrialisierung ein. Freiheiten wie Reise-, Berufs-, Presse-, Versammlungs- und Zollfreiheit wurden diskutiert und im selben Jahr, 1844, bekam Wilhelm Adolph (W. A.) Lette hier eine Stelle und die Familie bezog ihr Heim in der Luisenstraße 12 unweit von Charité, Tiergarten und Spree. Die Kinder des nationalliberalen preußischen Beamten und seiner Frau Marie Konstanze waren Anna (1827–1897), Marie (1830–1918), Georg (1831–1888), Auguste (1837–1908) und Elisabeth (1840–1909). Ein älterer Bruder war als Kind gestorben und die Schwester Helene (1844-1922) wurde erwartet.1

Ein Lebensbild des verewigten Präsident Dr. Lette, 1899
Porträtfotografie, abgebildet Wilhelm Adolph Lette, Preußischer Abgeordneter, Gründungsvorsitzender des Lette-Vereins, vor 1868

Der Vater fördert die Bildung seiner Töchter

Der Vater hatte zuvor Stellen in Soldin, Posen und Frankfurt an der Oder inne. Die Kinder wuchsen in einer sozial-protestantisch geprägten Familie auf, doch ist bislang unbekannt, welche Schulen sie besuchten. Der Großvater, Gottlob Adolf Samuel Lette, hatte als Großgrundbesitzer seine Bauern aus der Erbhörigkeit entlassen. Auch sein Sohn Wilhelm Adolph war überzeugt von Selbstbestimmtheit und Eigenverantwortung, die er allen Menschen ermöglichen wollte, unabhängig von Klasse, Geschlecht und Alter. Dazu bedurfte es seiner Ansicht nach einer Wohnung, Bildung, Erwerbsmöglichkeiten sowie Kindergärten. W. A. Lette förderte die Gründung von Wohnbau-Genossenschaften und Vereinen als Mittel der Partizipation2 , denn er „war davon überzeugt, dass ein Staat, der von sich aus Probleme erkennt und zu ihrer Lösung beiträgt, sicherer Revolutionen verhindere, als einer, der die Gegensätze schüre“.3  Seine Tochter Marie erinnerte sich: „Er sah es gern, wenn die Töchter bei den Mahlzeiten und Abendspaziergängen durch den Tiergarten Fragen stellten, sei es die Kultur der Völker oder die des Bodens betreffend. Trotz der voll besetzten Zeit versäumte er selten diese seiner Gesundheit nötige Bewegung und forderte stets ‚die Mädchen‘ auf, ihn zu begleiten.“4

Anna Schepeler-Lette: von Berlin nach Frankfurt und zurück

Kurz nach dem Tod ihres jüngsten Geschwisterkindes erlebten die Schwestern 1848 die Märzrevolution als erschütterndes Ereignis. Sie sahen mit an, wie Verwundete durch die Luisenstraße zur Charité getragen wurden. Bald darauf begleiteten die Töchter den Vater zur Frankfurter Nationalversammlung, wo sie bei dem Kaufmann Georg Schepeler Quartier bezog. Die Frauen durften zwar bei der Nationalversammlung nur vom Rang aus zusehen, haben aber sicher im Umfeld mitdiskutiert. Marie beschreibt, wie sie die Unruhen des 18. September am Friedberger Tor erlebte. Sie kehrte nach dem Ende der Nationalversammlung mit dem Vater nach Berlin zurück.5  Ihre Schwester Anna heiratete Johann Carl Schepeler. Die Ehe blieb kinderlos, da zwei Schwangerschaften mit Totgeburten endeten. In der Chronik der Firma Schepeler ist Annas karitatives Engagement erwähnt, was eine Verbindung zur frühen Frankfurter Frauenbewegung vermuten lässt. Nach dem Tod des Gatten 1861 zog sie nach Dresden und 1866 zum Vater nach Berlin.6  Sie engagierte sich in dem von ihm gemeinsam mit fünf Vorstandsmännern und einer Vorstandsfrau – Jenny Hirsch – am 27. Februar 1866 gegründeten Verein zur Förderung der Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts.

Porträt, Holzstich, abgebildet Anna Schepeler-Lette, Tochter von Wilhelm Adolf Lette, Vorsitzende des Lette-Vereins 1872-1897, um 1897

Die Schwester Auguste hatte den Juristen Adalbert Kuhlwein geheiratet, der als Richter und Parlamentarier bekannt war, und lebte mit drei Kindern auf dem Gut Louisa. Marie und Elisabeth waren Lehrerinnen.

Marie Fischer-Lette: eine Netzwerkerin in London

Marie unterstützte den Vater im Handwerker-Verein, im Seidenbauverein und im Centralverein für das Wohl der arbeitenden Classen. Wegweisend wurde eine von Kronprinzessin Victoria um 1865 für W. A. Lette arrangierte Reise nach London zum Studium der Frauenerwerbstätigkeit.7  Zwar ist nichts über den Reiseverlauf bekannt, aber Marie Lette war seitdem als Sprachlehrerin im Londoner Adressbuch verzeichnet.8  Belegt ist ihre Heirat mit dem Maler Johann Georg Paul Fischer am 6. April 1866. Sarah Richmond hat die Spuren Marie Fischer-Lettes in London untersucht und vermutet einen Bezug zur Society for Promoting the Employment of Women.9  Marie selbst berichtet über ihre Zusammenarbeit mit der Ärztin Elizabeth Blackwell.10  Außerdem wirkte sie mit Elizabeth Garrett Anderson und Frances Hoggan für Frauengesundheit und -aufklärung und fertigte medizinisch-anatomische Zeichnungen an.11  Hoggan wiederum sprach 1880 auf dem Verbandstag Deutscher Frauenbildungs- und Erwerbsvereine im Berliner Lette-Verein über Frauenarbeit in England.12

Porträtfotografie, abgebildet Marie Fischer geb. Lette, Tochter von Wilhelm Adolf Lette, Schriftstellerin und Malerin, um 1899

Der Lette-Verein unter weiblicher Führung

Hier führte Anna Schepeler-Lette inzwischen die Geschäfte. Sie und ihre Schwester Auguste waren von Beginn an Mitglieder. Auch Augustes Mann war zeitweilig aktiv.13 Auguste, Elisabeth und Anna stifteten die Bibliothek ihrer 1858 verstorbenen Mutter für das Frauen-Wohnheim des Vereins. Anna hatte während des Deutsch-Französischen Krieges Kurse für Krankenpflegerinnen eingerichtet. 1872 wurde sie Vorsitzende. Unter ihrer Leitung bekam der Verein ein eigenes Haus in der Königgrätzer Straße, gründete Handels- und Gewerbeschule, Lehrerinnenseminar, Setzerinnenschule, Kochschule, Photographische Lehranstalt – und erschloss damit technische und wissenschaftliche Berufsfelder für Frauen. Mit ihr arbeiteten Jenny Hirsch, Ulrike Henschke, Franziska Tiburtius, Elise Hannemann, Mathilde Stettiner und viele Frauen und Männer der Berliner Gesellschaft. Anna verband sie alle in einem Netzwerk, das den Verein zu einer anerkannten Institution in Berlin auf internationaler Ebene machte. Sie agierte geschickt, unerschrocken und pragmatisch hinter den Kulissen.

Abbildung des Gebäudes, in dem sich 1872-1902 die Schulen des Lette-Vereins befanden, 1890

1876 reiste Anna Schepeler-Lette mit Hilfe des in San Francisco lebenden Bruders zur Weltausstellung in Philadelphia und brachte von dort Ideen und Kontakte für die Entwicklung der Frauenbildung mit.14  1881 reiste sie im Auftrag des Kultusministeriums nach Schlesien, um sich über die Spitzenfabrikation und die Lage der Arbeiterinnen zu informieren. Ihr Bericht führte zur Förderung von Frauenschulen in den Industriegebieten.15  Nachdem sie 1893 durch die Arbeit im Kuratorium des Frauenkongresses der Weltausstellung in Chicago die Anregung zur Gründung nationaler Dachverbände erhalten16  und mit dem Verband deutscher Frauenbildungs- und Erwerbsvereine gute Erfahrungen gemacht hatte, wurde sie 1894 stellvertretende Vorsitzende des Bundes Deutscher Frauenvereine (BDF). Unermüdlich setzte sich Anna Schepeler-Lette ein für die Ausbildung sowie für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen von Lehrerinnen. Am 17. September 1897 starb sie in Berlin und wurde im Familiengrab Schepeler in Frankfurt am Main beigesetzt. „Die Geschichte der modernen Frauenbewegung wird die Dahingeschiedene nicht unter den ‚Ruferinnen im Streite‘, nicht unter den ‚Vorkämpferinnen‘ nennen – wenn aber von der positiven Arbeit gesprochen wird, die geleistet wurde, dann wird ihr Name unter den ersten sein müssen, deren man ehrend gedenkt“, schrieb die Wiener Mode im Nachruf.17  Im heutigen Berufsausbildungszentrum Lette-Verein wurde 2014 ihre Marmorbüste restauriert und im Foyer aufgestellt. Die Schwester Marie hatte diese Arbeit des Bildhauers Alexander Tondeur 1898 im Garten der Haushaltungsschule eingeweiht.18

Der Lette-Verein eine Darstellung in Bild und Wort gewidmet den Teilnehmerinnen des Internationalen Frauen-Kongresses, Berlin 1904
Fotografie der Porträtbüste, abgebildet Anna Schepeler-Lette / Bildhauer Alexander Tondeur, 1897

Erziehung zu Frieden und Sittlichkeit

Marie war um 1894 nach Berlin zurückgekehrt und Vereinsmitglied geworden. Laut Sophie Pataky war sie jetzt Schriftstellerin, sie schrieb über religiöse, ethische und Bildungsthemen mit Fokus auf Mädchenerziehung.19  Nach dem Tod des Gatten 1881 hatte Marie in England mit Josephine Elizabeth Butler für die Sittlichkeitsbewegung Abolitionist Federation gearbeitet20  und sich der Friedensbewegung angeschlossen. Die Kriege in Europa und in den Kolonien, Industrialisierung und Migrationen hatten verheerende Auswirkungen auf das Leben von Frauen. Aufklärung, Beratung, Erziehung sollten Abhängigkeit und Missbrauch mindern. 1885 hatte Marie im Flugblatt Weihnachtsgruß21  zur Friedenserziehung aufgerufen. Mit Lina Morgenstern war sie 1889 beim Pariser Weltfriedenskongress gewesen.22  Nun führte sie ihre Arbeit in Berlin fort23 , reiste und hielt Vorträge. 1893 verlas sie auf dem Internationalen Frauenkongress in Chicago das Grußwort von Helen Taylor.24  Auch Marie Fischer-Lette hatte ein großes Netzwerk mit Menschen unterschiedlichster Überzeugungen. Mit großer Achtung, aber deutlicher Abgrenzung zu deren sozialistischen Positionen schrieb sie über Gertrude Guillaume-Schack, der sie in London begegnet war.25

Von 1902 bis 1916 wohnte sie in der Bendlerstraße 28 im Tiergarten. (Gegenüber steht heute das Bundesministerium der Verteidigung.) In dieser Gegend verbrachte sie ihre Jugend, spazierte mit dem Vater. Nun widmete sie sich anatomischen Studien, diskutierte im Anatomischen Institut, half armen Frauen und unterrichtete Kinder in der Sonntagsschule, wie sie an die Blackwell-Familie schrieb.26  Ihre letzte nachgewiesene Schrift – das Flugblatt Vaterlandsliebe27  – erschien 1916. Überzeugt, dass jeder Mensch das Recht hat, sein Vaterland zu lieben, rief sie zu fairer Behandlung der Kriegsgefangenen auf. Die letzten Jahre lebte Marie in Erkner bei Berlin und starb als Letzte der Schwestern am 10. Januar 1918, ohne das Ende des Krieges und des Kaiserreichs erlebt zu haben. 

Stand: 18. November 2020
Verfasst von
Jana Haase

*1966, Diplombibliothekarin, MA Russistik, Bulgaristik, Europäische Ethnologie, seit 2003 für Bibliothek und Archiv im Lette Verein Berlin tätig 
Einrichtung: Lette Verein Berlin, Stiftung des öffentlichen Rechts

Empfohlene Zitierweise
Jana Haase (2020): Die Lette-Schwestern. Eine biografische Zeitreise, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/die-lette-schwestern-eine-biografische-zeitreise
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Fußnoten

  • 1Angaben nach Inschriften auf Grabplatten, Geburts- und Sterberegistern sowie Fischer-Lette, Marie: Ein Lebensbild des verewigten Präsident Dr. Lette. Zu seinem 100jährigen Geburtstage, Berlin 1899.
  • 2Lette, W.A.: Die Wohnungsfrage, Berlin 1866, S. 13.
  • 3Obschernitzki, Doris: Der Frau ihre Arbeit!, Berlin 1986, S. 10.
  • 4Fischer-Lette, Marie: Ein Lebensbild des verewigten Präsident Dr. Lette. Zu seinem 100jährigen Geburtstage, Carlshorst-Berlin 1899, S. 29.
  • 5Fischer-Lette: Ein Lebensbild des verewigten Präsident Dr. Lette, S. 35.
  • 6Stadtarchiv Frankfurt: 100 Jahre Schepeler 1824 – 1924, Frankfurt a.M. 1924, S. 14; Obschernitzki: Der Frau ihre Arbeit!, S. 45.
  • 7Fischer-Lette: Ein Lebensbild des verewigten Präsident Dr. Lette, S. 36 ff.
  • 8Richmond, Sarah: Philanthropy, Entrepreneurship and Transnational Exchange. Women‘s Campaigns for Employment in Berlin and London, 1859-1900, Nottingham 2011, S. 235
  • 9Richmond: Philanthropy, Entrepreneurship and Transnational Exchange, S. 235.
  • 10Fischer-Lette, Marie: Höhenwege für erwachsene junge Mädchen, Lengerich i. W. 1912, S. 36.
  • 11Richmond: Philanthropy, Entrepreneurship and Transnational Exchange, S. 234.
  • 12Hirsch, Jenny: Geschichte der fünfundzwanzigjährigen Wirksamkeit (1866 bis 1891) des unter dem Protektorat Ihrer Majestät der Kaiserin und Königin Friedrich stehenden Lette-Vereins zur Förderung höherer Bildung und Erwerbstätigkeit des weiblichen Geschlechtes: im Auftrage des Vorstandes und Ausschusses verfasst, Berlin 1891, S. 101‒103.
  • 13Rechenschaftsbericht des unter dem Protektorat Ihrer Majestät der Kaiserin und Königin stehenden Lette-Vereins zur Förderung höherer Bildung und Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts, Berlin 1868, S. 40.
  • 14Hirsch: Geschichte der fünfundzwanzigjährigen Wirksamkeit, S. 61.
  • 15Hirsch, Jenny (Hg.): Der Frauenanwalt: Organ d. Verb. Dt. Frauenbildungs- u. Erwerbsvereine, Berlin 1881, S. 1‒4.
  • 16Bancroft, Hubert Howe (Hg.): World’s Columbian Exposition Chicago 1893: the Book of the Fair, Chicago 1893, S. 257‒303.
  • 17O.A.: Anna Schepeler-Lette, in: Wiener Mode XI, 1897, H. 4, S. 161.
  • 18Rechenschafts-Bericht des unter dem Protektorat Ihrer Majestät der Kaiserin und Königin stehenden Lette-Vereins zur Förderung höherer Bildung und Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts, Berlin 1898, S. 6.
  • 19Pataky, Sophie: Lexikon deutscher Frauen der Feder. Eine Zusammenstellung der seit dem Jahre 1840 erschienenen Werke weiblicher Autoren, nebst Biographien der lebenden und einem Verzeichnis der Pseudonyme, Berlin 1898, 1. Band: A-L, S. 214 f‒215.
  • 20Fischer-Lette, Marie: Durch Kampf zum Sieg! Dem Andenken der Frau Josephine E. Butler gewidmet von ihrer treuen Mitarbeiterin Marie Fischer, geb. Lette, Hamburg 1907.
  • 21Fischer-Lette, Marie: Weihnachtsgruß, London 1885.
  • 22Le paix par l´education in: Actes du congres international des oeuvres et institutiones feminines, Paris 1890, S. 377‒380; Actes du congres international des oeuvres et institutiones feminines, Paris 1890.
  • 23Lischewski, Heike: Morgenröte einer besseren Zeit: pazifistische Frauen 1892 – 1932, Münster 1995, S. 32 und S. 237.
  • 24Sewall, May Wright (Hg.): The World’s Congress [of Representative Women] auxiliary, Chicago 1894, S. 387; vgl. Sklar, Kathryn Kish / Schüler, Anja / Strasser, Susan: Social Justice Feminists in the United States and Germany 1885-1933, London 1998.
  • 25Fischer-Lette: Durch Kampf zum Sieg!, S. 13.
  • 26Digitales Archiv der Harvard University, Schlesinger Library, Radcliffe Institute, Cambridge Mass.: Blackwell Family Papers, A-145, folder 199, Zugriff am 3.8.2020 unter https://iiif.lib.harvard.edu/manifests/view/drs:46934600$14i.
  • 27Vaterlandsliebe, Diesdorf bei Gäbersdorf 1916.

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