Der Staat gibt – der Staat nimmt. Frauen wehren sich gegen die Kürzungen in der Kinderbetreuung in Leipzig nach 1989/90

verfasst von
  • Yvonne Plotz
veröffentlicht 04. Juni 2020
Der Umbruch 1989/90 hatte besonders für Mütter und Erzieherinnen Konsequenzen. Energisch kämpften sie gegen Stellenabbau und seine Konsequenzen im Kinderbetreuungsbereich. Marion Ziegler, damals in der Fraueninitiative und später Stadtverordnete des Unabhängigen Frauenverbandes, war eine der Aktivistinnen.

Die Jahre 1989/90 wirbelten das Leben vieler Frauen durcheinander. Die Lebensverhältnisse der Frauen wurden auf mehreren Ebenen umgestürzt und neu geordnet. Arbeit war in der DDR für Männer wie auch für Frauen staatliche Priorität.1 Den Frauen wurde vermittelt, dass es erstrebenswert sei, arbeiten zu gehen, um sich einen Urlaub oder eine bessere Wohnung leisten zu können. „Das Ideal war die voll berufstätige Mutter, und nur diese sollte auch in den Genuss der staatlichen Erleichterungen kommen.“2 1989 waren rund 92 Prozent der erwerbsfähigen Frauen in einem Arbeitsverhältnis. Dies änderte sich mit dem politischen und ökonomischen Umbruch jedoch. Zuvor sichere Arbeitsverhältnisse wurden aufgekündigt. Eine wirtschaftliche Veränderung stellte das Bestreben dar, volkseigene DDR-Betriebe zuerst zu sanieren und später zu privatisieren. Viele Betriebe jedoch, die nicht mehr sanierungsfähig waren, wurden geschlossen, was auch Betriebe mit angeschlossenem Betriebskindergarten betraf.3  Der Abbau von Betreuungseinrichtungen führte dazu, dass die Kinderbetreuung in das Private verlagert wurde. Verstärkt wurde diese Entwicklung durch die Einführung des dreijährigen Erziehungsurlaubs.

Der Wegfall des Arbeitsplatzes und der Kindertageseinrichtungen bedeutete für viele Frauen die Erwerbslosigkeit und eine nachdrückliche Neuorientierung der Lebens- und Arbeitswelt. 1990 lag die Zahl der erwerbstätigen Frauen nur noch bei 44 Prozent.4 Durch den politischen Umbruch, welcher die Betreuungssituation massiv verschlechterte, wurde die Kindererziehung zum großen politischen Thema der Frauen.5

Waren die Frauen in der politischen Landschaft der DDR noch in vielerlei Hinsicht unterrepräsentiert, änderte sich dies mit dem Umbruch drastisch.6 Im Zuge der politischen Umwälzungen bildeten sich viele neue politische und oppositionelle Gruppen, unter anderem das Neue Forum und der Unabhängige Frauenverband mit der Fraueninitiative, in denen sich schon bald die Frauen organisierten, welche ihren politischen Interessen Gehör verschaffen wollten.7 Die Teilhabe am beruflichen Leben wurde beschränkt und vorher nichtorganisierte Frauen begannen, sich zu engagieren und zu organisieren. Sie nutzten die neuen, zum Teil unerwarteten Freiheiten in ihrem Leben für eine Umgestaltung und Neuorientierung. Eine der politisch aktiven Frauen, die sich entschieden für die Frauen und das Problem des Betreuungsmodells einsetzte, war Marion Ziegler.8 Als die Fraueninitiative Leipzig (FIL) im Gebäude des späteren Hauses der Demokratie unterkam, begann Marion Ziegler als „Bürofrau“9 zu arbeiten und setzte das Problem der schließenden Kindergärten und Krippen auf die politische Agenda.10 Marion Ziegler war der festen Überzeugung, „dass Frauen [die] Möglichkeit haben [sollten], selbstbestimmt einer Berufstätigkeit nachzugehen, dass die Möglichkeiten dafür geschaffen werden müssen, dass halt auch die Kinder betreut werden sollen, gut und nicht mit überforderten Kindergärtnerinnen, also mit einem ordentlichen Betreuungsschlüssel“.11 Zugleich analysierte sie die Auswirkungen, die die Schließungen sowohl für Erzieherinnen als auch für berufstätige Mütter haben würden.

Die Finanzierung der Kindertagesbetreuung war nun Anfang der 1990er- Aufgabe der Länder und Kommunen. In Leipzig gab es im April 1992 eine Stadtverordnetenversammlung zum Thema Kindertagesstätten. Die darin geplanten Kürzungen stellten Eltern und Erzieherinnen vor große Unsicherheiten. Der damalige Oberbürgermeister von Leipzig sicherte zwar mündlich ein Recht für jedes Kind auf einen Kindergartenplatz zu, jedoch wollte die Stadt nur sieben Stunden Betreuungszeit gewährleisten und diskutierte sogar die Möglichkeit, lediglich Halbtagsbetreuung zur Verfügung zu stellen. Dies zwang Frauen in die Erwerbslosigkeit, da sie ohne Kinderbetreuung keine Erwerbsarbeit verrichten konnten. Besonders alleinerziehende Frauen waren von dem massiven Kita-Abbau betroffen. Zu diesem Zeitpunkt waren schon 65,1 Prozent der ehemals erwerbstätigen Frauen in Leipzig arbeitslos.12 Die Belastung der Frauen wurde größer, dabei spielten die unsicheren Beschäftigungsverhältnisse und der Wegfall von Kinderbetreuungsplätzen entscheidend mit hinein, meint Marion Ziegler im Interview.13

In Leipzig wurde vom Stadtrat nach Wochen der Beratung und Arbeit der Beschluss Nr. 465/92 a gefasst, der eine Öffnungszeit für Kinderbetreuungseinrichtungen von 6 bis 18 Uhr vorsah und den Fokus auf eine ‚differenzierte pädagogische Betreuung‘ setzte14 . Was anfangs wie eine gelungene Entscheidung erschien, wurde jedoch bald schon von der Allgemeinen Verwaltung der Stadt Leipzig angefochten und umgestoßen. Der Oberbürgermeister legte einen Gegenentwurf vor, der eine Betreuungszeit von nur sieben Stunden vorsah und mehr als 1.000 Erzieherinnen in die Arbeitslosigkeit geschickt hätte. Die Lebenswelt der Frauen und deren Kinder wurde ausgeklammert oder übersehen. Auch der Vorschlag des Jugendamtes vom 20. Mai 1992, für jede Einrichtung eine individuelle Bedarfsplanung zu erstellen, wurde abgelehnt.15 Die Forderung der Fraueninitiative richtete sich klar gegen diese Missstände. In ihrem Forderungskatalog stellten sie heraus, dass es eine 10-Stunden-Betreuungszeit und kleinere Gruppen in den Kitas geben solle. Weiteren Kürzungen der Lohnarbeit von Frauen sollte entgegengewirkt und Frauen sollten bei Neueinstellungen bevorzugt werden. Außerdem forderten sie Förderprogramme für Frauen. All diese Förderpläne legten einen Schwerpunkt auf die Verbesserung der Arbeitsorganisation für Frauen. Auch die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung sollte sich grundlegend verändern und Bildungsarbeit in diesem Bereich geleistet werden.16 Es wurde massiv an den Verhältnissen gerüttelt, um Frauen gleichberechtigt am Arbeitsleben teilhaben zu lassen. 

Pressemitteilung von Bündnis 90 / Grüne / UFV zur Kitadiskussion, 1992
Forderungen der Frauenkulturtage Leipzig, 1992

Im Juni 1992 beschlossen 42 politisch engagierte Frauen und Männer einen Forderungskatalog, welcher der Stadtverordneten Marion Ziegler überreicht wurde. Diskutiert, formuliert und abgestimmt wurden diese Forderungen bei den Leipziger Frauenkulturtagen. Die Betreuung der Kinder durch städtische Einrichtungen wurde ebenso gefordert wie Öffnungszeiten, die ein uneingeschränktes Berufsleben ermöglichen sollten. Die Interessen der Kinder sollten erfüllt werden; außerdem forderten die Frauen aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit unter ihnen eine Berücksichtigung bei Neueinstellungen.17 Das Bedürfnis nach politischer Teilhabe wurde deutlich anhand der Forderung nach öffentlichen Tagungen der Parlamentarier_innen. Beschlussprotokolle sollten für alle sichtbar im Amtsblatt erscheinen.18

Stand: 04. Juni 2020
Verfasst von
Yvonne Plotz

Studium der Germanistik und Bibliothekswissenschaft, ehrenamtlich tätig in der feministischen Bibliothek MONAliesA in Leipzig

Empfohlene Zitierweise
Yvonne Plotz (2020): Der Staat gibt – der Staat nimmt. Frauen wehren sich gegen die Kürzungen in der Kinderbetreuung in Leipzig nach 1989/90, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/der-staat-gibt-der-staat-nimmt
Zuletzt besucht am: 26.04.2024

Fußnoten