Das Umbruchsjahr 1990

Das Jahr 1990 markiert eine Zäsur in der deutschen Frauenbewegungsgeschichte. Nach 40-jähriger Teilung trafen zwei Frauenbewegungen aufeinander, die nun in einer Zeit fundamentaler Veränderung gemeinsam agieren konnten – und mussten.

,Ohne Frauen ist kein Staat zu machen!‘, riefen am 3. Dezember 1989 rund 1.000 Frauen in der Berliner Volksbühne zur Gründung des Unabhängigen Frauenverbandes (UFV). Der Wille, die Veränderungen aktiv mitzugestalten, prägte von Beginn an die politische Agenda des Frauenaufbruchs im Herbst 1989. Auf den Demonstrationen und in ihren politischen Konzepten stellten die Frauen die Machtfrage. Sie mischten sich ein und wollten ihre Interessen und Themen in die Gruppen und Gremien tragen. Ihrer Ansicht nach war Demokratie ohne die tatsächliche Gleichberechtigung der Geschlechter nicht machbar. So war es nur folgerichtig, dass der UFV am Zentralen Runden Tisch und andere Frauengruppen wie die Fraueninitiative Leipzig an den Runden Tischen der Städte und Bezirke teilnahmen. Allerdings war ihre Präsenz und Mitwirkung keine Selbstverständlichkeit, sondern musste gegen antifeministische und frauenfeindliche Widerstände von Gruppen der Bürgerbewegung erkämpft werden.

Im Februar 1990 kamen in der Übergangsregierung von Hans Modrow acht VertreterInnen der außerparlamentarischen Oppositionen als MinisterInnen ohne Geschäftsbereich hinzu. Den UFV vertrat Tatjana Böhm, die bereits für den Frauenverband am Zentralen Runden Tisch in Ost-Berlin saß. 

Tatjana Böhm (1. Reihe, 4. von links) bei der 16. Volkskammer-Tagung am 5. Februar 1990 zur Aufnahme der neuen MinisterInnen in das Kabinett Modrow mit (v.l.n.r.): Sebastian Pflugbeil (Neues Forum), Rainer Eppelmann (Demokratischer Aufbruch), Dr. Walter Romberg (SPD), Tatjana Böhm (Unabhängiger Frauenverband), Klaus Schlüter (Grüne Liga), Matthias Platzeck (Grüne Partei), Gerd Poppe (Initiative Frieden und Menschenrechte), Dr. Wolfgang Ullmann (Demokratie Jetzt).
Bundesarchiv / Bild 183-1990-0205-019 / Senft, Gabriele
Lizenz
Rechteangabe
  • Bundesarchiv / Bild 183-1990-0205-019 / Senft, Gabriele
  • CC BY-SA 3.0
Tatjana Böhm (1. Reihe, 4. von links) bei der 16. Volkskammer-Tagung am 5. Februar 1990 zur Aufnahme der neuen MinisterInnen in das Kabinett Modrow mit (v.l.n.r.): Sebastian Pflugbeil (Neues Forum), Rainer Eppelmann (Demokratischer Aufbruch), Dr. Walter Romberg (SPD), Tatjana Böhm (Unabhängiger Frauenverband), Klaus Schlüter (Grüne Liga), Matthias Platzeck (Grüne Partei), Gerd Poppe (Initiative Frieden und Menschenrechte), Dr. Wolfgang Ullmann (Demokratie Jetzt).

Reform und Einheit

An den Runden Tischen und in der Modrow-Regierung knüpften die Frauengruppen an die in den Herbstmonaten formulierten Forderungen und Reformkonzepten an und entwickelten sie weiter. Tatjana Böhm war Mitautorin der Sozialcharta und brachte dort die Zielvorstellungen des UFV mit ein. Die Sozialcharta beinhaltete ein ehrgeiziges Programm wohlfahrtsstaatlicher Politik, die unter anderem den Ausbau sozialer Grundrechte in der Verfassung vorsah.1 Mit Blick auf die anstehende Wirtschafts- und Sozialunion und die damit erwarteten Übernahme der westdeutschen Gesetzgebung und den drastischen sozialen Folgen für Frauen in der DDR forderte der UFV unter anderem den chancengleichen Zugang zu allen Berufen, Arbeitsbeschaffungsprogramme, gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit, bedarfsdeckende Kinderbetreuungseinrichtungen in gesellschaftlicher Verantwortung und die Beibehaltung des straffreien Schwangerschaftsabbruchs. Die Sozialcharta wurde am 7. März 1990 verabschiedet – und verschwand in Folge der weiteren politischen Entwicklungen in der Schublade.

Bereits im Februar 1990 zeichnete sich ab, dass an einem wechselseitigen Reformprozess und einen Vollzug der Einheit auf Augenhöhe zwischen beiden deutschen Staaten nicht mehr zu denken war. Tatjana Böhm bezeichnete sich selbst als „Petersilie-Ministerin“, als eine Garnierung ohne Gestaltungsspielraum und Einflussmöglichkeiten.2  

Bei der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 holte die Allianz für Deutschland 56,1 Prozent der Stimmen, während Bündnis 90, ein Zusammenschluss von Bürgerrechtsgruppen, gerade mal 2,9 Prozent erhielt. Das Wahlergebnis verstärkte bei den ostdeutschen Akteurinnen Gefühle der Ohnmacht und Desillusionierung. In den zeitgenössischen Wortmeldungen beschreiben Ostfrauen einen „riesigen Verlust an Möglichkeiten und auch an Hoffnungen“ und als einen Gewaltakt mit Begriffen wie ‚Anschluss‘, ‚Kolonisierung‘ oder gar ‚Vergewaltigung‘.3 Dennoch strebten die Frauen* bzw. Feminist*innen weiter in die Parlamente und stellten teilweise erfolgreich Kandidat*innen für die Kommunalwahlen im Mai 1990 und den Landtagswahlen im Oktober 1990 auf. Die UFV-Mitbegründer Christian Schenk – damals noch Christina Schenk – gelang es bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 ein Mandat zu erringen.

Die acht Bundestagsabgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen am 5. Dezember 1990 in Bonn. Vordere Reihe (v.l.n.r.): Christina Schenk, Ingrid Köppe und Vera Wollenberger, hintere Reihe: Wolfgang Ullmann, Konrad Weiss, Klaus-Dieter Feige, Gerd Poppe und Werner Schulz.
picture-alliance / dpa / Oliver Berg
Die acht Bundestagsabgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen am 5. Dezember 1990 in Bonn. Vordere Reihe (v.l.n.r.): Christina Schenk, Ingrid Köppe und Vera Wollenberger, hintere Reihe: Wolfgang Ullmann, Konrad Weiss, Klaus-Dieter Feige, Gerd Poppe und Werner Schulz.

Ost-West-Begegnungen im Ausnahmezustand

Die rasanten politischen Entwicklungen beeinflussten auch die ost- und westdeutschen Frauenbewegungen. Beiden war angesichts des fortschreitenden Abbaus von (Frauen-)Arbeitsplätzen und der Zunahme von Nationalismus und Rassismus klar: Es geht ums Ganze! Unter diesem Motto lud der UFV vom 27. bis 29. April 1990 zum ersten Ost-West-Frauenkongress nach Ost-Berlin. Der Druck, gemeinsam auf die frauenfeindlichen Tendenzen zu reagieren, steigerte die Erwartungen an den Frauenkongress. In der Dynamo-Sporthalle kamen rund 1.000 Frauen zusammen, um sich gemeinsam über den Themen und Strategien zu verständigen. Dabei traten große Differenzen zwischen Ost und West zutage. Die Frauen sprachen nur scheinbar eine gemeinsame Sprache und ihnen wurde klar, dass sich eine bislang geteilte Bewegungsgeschichte nicht ohne Weiteres überwinden lässt. Die Fremdheit beruhte vor allem auf eine durch 40 Jahre getrennte Geschichte und zwei Gesellschaftssystemen, die unterschiedliche Lebensrealitäten und Identitäten hervorbrachten.4 Bestehende Feindbilder und Vorurteile führten auf beiden Seiten zu Verletzungen und gravierenden Missverständnissen. Die Auseinandersetzungen über die Eigen- und Fremdwahrnehmungen dauerten bis weit in die 1990er Jahre und mündeten in zahlreiche Publikationen wie Muttis und Emanzen von Gislinde Schwarz und Ulrike Helwerth oder Stiefschwestern von Katrin Rohnstock.

Auch Schwarze Frauen / Frauen of Colour und Migrantinnen in Ost und West erfuhren zu dieser Zeit einen Aufbruch. Begegnungen und Zusammenschlüsse zwischen Ost und West verliefen positiver als bei den weißen Frauen.5 Angesichts von Sexismus und eines immer weiter um sich greifenden Rassismus´ schufen sie neue Plattformen und Vernetzungen und gaben mit ihren Debatten über Dominanzverhältnisse und Mehrfachdiskriminierungen den Frauenbewegungen in Deutschland wichtige Impulse. 

Gemeinsame Bündnisse und Kämpfe

Im Herbst 1990 war der Protest gegen § 218 ein bestimmendes Thema auf den Ost-West-Frauendemonstrationen.
Robert-Havemann-Gesellschaft / Leo Tesch
Im Herbst 1990 war der Protest gegen § 218 ein bestimmendes Thema auf den Ost-West-Frauendemonstrationen.

Trotz Differenzen und gegenseitigen Verletzungen verständigten sich die Frauen auf eine Ost-West-Zusammenarbeit bei den Themen Frauenrechte, Gewalt und Proteste gegen den §218 – jene Kernfragen, die der Einigungsvertrag vom 31. August 1990 für weitere Verhandlungen offenließ.6

Für die frauenpolitische Lobbyarbeit auf kommunaler und Bundesebene lieferte der von Marina Beyer herausgegebene Frauenreport ´90 Zahlen und Statistiken, die quasi den Ist-Zustand der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Situation der Frauen im 41. und damit letztem Jahr der DDR darstellten. „Der Bericht könnte Anlaß sein, über geltende Leitbilder, Wertorientierungen, über Mechanismen sexistischer Unterdrückung, über Lebensqualität und über den Inhalt gesellschaftlicher Verantwortung neu nachzudenken.“, schreibt Marina Beyer, zu diesem Zeitpunkt Beauftragte des Ministerrates für die Gleichstellung von Frauen und Männern, im Vorwort.7

Doch bereits vor der Veröffentlichung des Berichts und dem Beginn der Einheitsverhandlungen meldeten sich Frauen aus Ost und West gemeinsam zu Wort. In der DDR nutzten zahlreiche Frauengruppen den Internationalen Frauentag, um gegen bereits einsetzende Entlassungen von Frauen und Schließungen von Kinderbetreuungseinrichtungen zu protestieren. Am 16. Juni 1990 demonstrierten Frauen (und einige Männer) aus Ost und West für die Abschaffung des §218 und für das Selbstbestimmungsrecht der Frauen. 

Die Vereinigung beider deutscher Staaten entfachte eine neue Debatte über die Verfassungsfrage, an der sich Ost- und Westfrauen in unterschiedlicher Form
beteiligten.8 Bereits am Runden Tisch hatte der UFV an einem Verfassungsentwurf mitgearbeitet, der aber von der CDU-Mehrheit in der Volkskammer abgelehnt wurde. Tatjana Böhm, UFV-Mitbegründerin und Ministerin ohne Geschäftsbereich in der Regierung Modrow, griff die Forderungen der Ostfrauen auf und trug diese in das im Juni 1990 gegründete Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder. Der Verfassungsentwurf vom Runden Tisch inspirierte auch Aktivistinnen und Wissenschaftlerinnen in Westdeutschland.9 Die Initiative Frauen für eine neue Verfassung griff die Kernforderungen der ostdeutschen Frauen auf und integrierten diese in das Frankfurter Frauenmanifest. 

Aufbau feministischer Infrastruktur

Parallel zu den Kämpfen gegen den konservativen Backlash im Einigungsprozess begannen Frauen im Osten mit dem Aufbau einer feministischen Infrastruktur. Den Grundstein hierfür legten sie bereits an den lokalen Runden Tischen, wo sie die Etablierung von Gleichstellungsbeauftragten, Frauenkulturzentren und Frauenschutzhäusern durchsetzten. Zugleich entstand mit Zeitschriften wie die Zaunreiterin eine eigene ostdeutsche feministische Öffentlichkeit.

Die Gründung zahlreicher Frauenprojekte erfolgte im Jahr 1990 mit überschaubaren Mitteln. Die Sanierung und Ausstattung der Räume übernahmen die Frauen häufig selbst. Die Finanzierung erfolgte entweder mit öffentlichen Mitteln, Spenden oder mit privaten Geldern. Unterstützung erfuhren die Ostfrauen von ihren Mitstreiterinnen aus dem Westen. Organisationen wie die Hamburger FrauenAnstiftung förderten ideell und finanziell die Vernetzung zwischen den Frauenbewegungen in Ost und West und organisierte Qualifizierungsmaßnahmen für Mitarbeiterinnen in Frauenprojekten.

1990 gründeten sich zahlreiche Frauenprojekte in Ostdeutschland wie die feministische Bibliothek MONAliesA, bis heute ein wichtiges Frauenzentrum in Leipzig.

Frauenbeauftragte in den westdeutschen Partnerstädten luden Gleichstellungsbeauftragte und Abgeordnete aus dem Osten zur Hospitation ein und erzählten ihnen von Tipps und Tricks für die Etablierung von Gleichstellungsstrukturen. Solche Verständigungs- und Vernetzungsprozesse zwischen Ost- und Westfrauen auf der Mikroebene sind für den Einheitsprozess beider Frauenbewegungen grundlegend und mit Blick auf deren Transformation ein lohnendes Forschungssujet.

Wuchs also zusammen, was zusammengehörte? Ja, meinte zum Beispiel Jana Hensel: Feminismus sei der erste Kampf, den Ost und West wirklich zusammenführen.10 Das wäre zu erforschen und zu diskutieren!

Stand: 06. Mai 2020
Verfasst von
Dr. Jessica Bock

geb. 1983, Studium der Mittleren und Neueren Geschichte an der Universität Leipzig, Promotion zur ostdeutschen Frauenbewegung von 1980 bis 2000 am Beispiel Leipzigs an der TU Dresden, wissenschaftliche Mitarbeiterin beim DDF im Bereich neue und ostdeutsche Frauenbewegung

Empfohlene Zitierweise
Dr. Jessica Bock (2020): Das Umbruchsjahr 1990, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/angebote/dossiers/30-jahre-geteilter-feminismus/das-umbruchsjahr-1990
Zuletzt besucht am: 07.05.2024

Fußnoten

  • 1Schmidt, Manfred G.: Sozialpolitik in der DDR, Wiesbaden 2004, S. 83.
  • 2Langels, Otto, 1.1.2015: Runder Tisch in Ost-Berlin - Eine Schule der Demokratie, Zugriff am 6.5.2020 unter https://www.deutschlandfunk.de/runder-tisch-in-ost-berlin-eine-schule-der-demokratie.724.de.html?dram:article_id=307547.
  • 3Helwerth, Ulrike / Schwarz, Gislinde: „Fremde Schwestern“ – Unterschiedliche Identitäten ost- und westdeutscher Feministinnen, in: Zentrum für interdisziplinäre Frauenforschung (ZiF) (Hg.): DDR-Frauen-Wende, Bulletin 13, Berlin 1996, S. 1‒9, hier S. 8.
  • 4Young, Brigitte: Asynchronitäten der deutsch-deutschen Frauenbewegung, in: PROKLA, Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 24. Jg., 1994, H. 94, S. 49‒63, hier S. 54.
  • 5Piesche, Peggy: Wir waren auch dabei, in: L-Mag, 2019, H. 5, S. 40.
  • 6Lenz, Abschied vom kleinen Unterschied, S. 870 f.
  • 7Beyer, Marina: Vorwort, in: Frauenreport ´90, Berlin 1990, S. 7‒12, hier S. 8.
  • 8Lenz, Abschied vom kleinen Unterschied, S. 872 f.
  • 9Ebenda, S. 885.
  • 10Hensel, Jana: Angela, Alice und ihre Töchter, Zugriff am 6.5.2020 unter https://www.zeit.de/2018/09/feminismus-ost-west-deutschland-angela-merkel-alice-schwarzer