Feministische Herbststürme

Die Mauer fiel 1989 nicht über Nacht. Oppositionsgruppen der 1980er bereiteten dem Umbruch den Weg. Dabei hatte die Frauenbewegung eine prägende Rolle.

„Wenn wir nicht losgehen, geht niemand los“, schrieb eine Teilnehmerin rückblickend über den inoffiziellen Kirchentag am 8. Juli 1989 in Leipzig. Mit 500 bis 700 Teilnehmerinnen aus der ganzen DDR bildete dieses Treffen den vorläufigen Höhepunkt der nichtstaatlichen Frauenbewegung. In den 1980ern hatten sich unter dem Dach der evangelischen Kirche zahlreiche Frauen vernetzt. Vor allem in größeren Städten bildeten sich staatsunabhängige Frauengruppen. Neben der Geschlechterproblematik diskutierten sie kritisch die Militarisierung im Bildungs- und Erziehungswesen, Umweltzerstörung, Homosexualität und feministische Theologie.

Doch im SED-Staat herrschte Stillstand. Während im Sommer 1989 für viele die Flucht in den Westen die einzige Alternative war, wollten andere die Lethargie überwinden. Ab dem Spätsommer gründeten sich überall in der DDR neue Bürgerrechtsgruppen: unter maßgeblicher Beteiligung von Frauen. So meldeten Bärbel Bohley und Katja Havemann am 19. September 1989 das Neue Forum (NF) an. Weitere Gruppen wie Demokratie Jetzt oder Demokratischer Aufbruch folgten. Die Gruppen diskutierten über Reformen und Demokratisierung, doch es wiederholte sich ein altes Muster: Geschlechterverhältnisse galten als ,Nebenwiderspruch‘ und rangierten unter ,Sonstiges‘.

Die Revolution ist weiblich 

„Auch bei uns im Neuen Forum fing es wieder so an, daß die Männer redeten und die Frauen den Kaffee kochten“, berichtete Cornelia Matzke in der Leipziger Volkszeitung.1 Davon hatten Frauen genug und gründeten zwischen September und Dezember 1989 eigene Gruppen, z.B. Frauen für Veränderung in Erfurt, Frauen im Aufbruch in Karl-Marx-Stadt, die Fraueninitiative in Leipzig (FIL), Lila Offensive und den Unabhängigen Frauenverband (UFV) in Ost-Berlin. 

Die Frauen gingen los und verwandelten die Friedliche Revolution in einen feministischen Herbststurm. Sie beteiligten sich an Protestaktionen und sprachen auf Demonstrationen vor tausenden Teilnehmenden. So ergriffen Cornelia Matzke und Petra Lux von der FIL am 18. November 1989 auf der ersten genehmigten Kundgebung des NF das Mikrofon und erklärten die Frauenfrage zur Machtfrage. Angesichts der massiven Polizeigewalt und drohenden Verhaftungen war die Teilnahme an den Demonstrationen mit erheblichem Risiko verbunden. Die Mehrzahl der feministischen Demonstrantinnen waren Mütter. Häufig übernahm eine Frau aus der Gruppe am Tag der Kundgebung die Aufsicht der Kinder. Für den Fall der Verhaftung hatte sie eine Liste mit Telefonnummern von Verwandten und Bekannten parat.

Mut und Risikobereitschaft bewiesen die Frauen bei der Entmachtung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Die erste Besetzung einer Bezirksverwaltung des MfS erfolgte am 4. Dezember 1989 in Erfurt auf Initiative von Kerstin Schön und Sabine Fabien aus der Gruppe Frauen für Veränderung. „Wir liefen geradeaus an den Soldaten vorbei und ich winkte den Wartenden zu, wusste aber nicht, ob die anderen uns folgen. Aber sie sind uns gefolgt und boten uns Schutz, das war wichtig. Wir alle waren jetzt Besetzer", schreibt Gabriele Stötzer rückblickend.2 Die Besetzung in Erfurt war der Anfang: Noch am selben Tag folgten gleiche Aktionen in Leipzig, Suhl, Schwerin und Rostock – bis zur Besetzung des MfS am 15. Januar 1990 in Ost-Berlin.

Ohne Frauen keine Demokratie 

Die Abschaffung der Geheimpolizei war für den Frauenaufbruch im Herbst 1989 nur ein Baustein für eine umfassende Demokratisierung der DDR. „Ohne Frauen ist kein Staat zu machen!“3, hielt Ina Merkel im Manifest des UFV fest.  Sie forderte tatsächliche Gleichberechtigung auf allen Ebenen. Unter dieser Losung erkämpften Frauengruppen ihren Platz an den männerdominierten Runden Tischen in Ost-Berlin und auf kommunaler Ebene. Ihnen drohte Ausschluss: Sie seien keine Partei, sondern ,nur‘ Interessenvertretung. „Es geht wiedermal um Erhalt der Macht durch Ausgrenzung […]. Ist das noch Demokratie?“4, fragte der UFV-Dresden in einem offenen Brief. 

Die Frauen blieben dran. Sie entsandten Vertreterinnen und entwickelten Konzepte   für eine lokale wie überregionale Infrastruktur. Sie forderten unter anderem die Einrichtung von Gleichstellungsbeauftragten und Frauenhäusern. Zwischen Januar und Oktober 1990 gründeten Frauen in atemberaubender Geschwindigkeit zahlreiche Vereine, eröffneten Konten für ihre Projekte und möblierten ihre Vereinsräume. Dies geschah mit einer ordentlichen Portion Pragmatismus, wie die Gründung des Vereins Frauentechnikzentrum Leipzig zeigt. Hierfür stellte das Bundesfrauenministerium eine Förderung in Höhe von 100.000 D-Mark in Aussicht, aber „bis Dienstag müsst ihr schon das Konto haben “, hieß es aus dem Ministerium.5

Mitbegründerin Ruth Stachorra erinnert sich: Ich bin „rumgerannt, hab Unterschriften gesammelt für die Vereinsgründung. Sieben brauchte man. […] Montag hatten wir die Satzung fertig und […] ein Konto eingerichtet, auf dem Verein, den es noch gar nicht richtig gab, […]  Dienstag hatten wir das Geld auf dem Konto. Wir waren da nicht so ängstlich“.6 Der Aufbau der feministischen Infrastruktur erfolgte in vielen Fällen mit tatkräftiger Unterstützung aus dem Westen. Hierbei spielten die Partnerstädte eine wichtige Rolle. Gleichstellungsbeauftragte, Stiftungen und Frauenprojekte aus Westdeutschland stellten ihre Expertise und vorhandene Sachmittel zur Verfügung. 

„Alle Frauen sind mutig, stark, schön“

Von Beginn an war das Parlament – ob kommunal oder Volkskammer – eine wichtige Arena der ostdeutschen Frauenbewegung. Jahrzehntelang bestimmten vor allem ältere Herren aus dem Politbüro darüber, ob Frauen in der DDR nun emanzipiert seien und was sie für ihre Emanzipation benötigten. Die entmündigende Frauenpolitik der SED führte dazu, dass die Frauen nun in Politik und Parlamente drängten. Sie wollten endlich mitbestimmen und mitgestalten. 

Auf der Kundgebung des NF am 18. November 1989 in Leipzig rief Petra Lux von der FIL den anwesenden Frauen zu: „Frauen, rein! Frauen rein in die Parlamente, rein in die Schaltstellen der Macht, rein in die Politik!“ Eiligst stellten die Frauengruppen Kandidatinnen für Volkskammer-, Kommunal- und Landtagswahlen auf, schrieben Wahlprogramme und klebten Wahlplakate. Die Plakate des UFV verkündeten: „Alle Frauen sind mutig, stark und schön!“ Im Vergleich zu den großen Parteien verfügten die Frauen über bescheidene Mittel. Trotzdem gelang es ihnen, zumindest bei den Kommunal- und Landtagswahlen Mandate zu erringen. 

Ostdeutsche Frauen verändern die Republik

Die Aufbruchseuphorie währte kurz. Mit der sich abzeichnenden und von der Mehrheit der feministischen Frauen als ,Anschluss‘ bezeichneten Wiedervereinigung und Währungsunion mit der Bundesrepublik wuchs die soziale Unsicherheit schlagartig und extrem. Massenarbeitslosigkeit oder Nichtanerkennung von Berufs- und Studienabschlüssen: Ostdeutsche Frauen mussten auch den privaten Umbruch bewältigen.

Ihr radikaler Einsatz für eine geschlechtergerechte wie demokratische Gesellschaft wirkt jedoch fort. Der im Herbst 1989 formulierte Anspruch der Frauen an politische Teilhabe verändert die vereinte – neue – Bundesrepublik bis heute. Die Verankerung der aktiven Abschaffung von Geschlechterungleichheit 1994 im Grundgesetz lässt sich auch als Erfolg feministischer Forderungen von 1989 verstehen. Ostdeutsche sind auf Führungsebenen von Politik und Wirtschaft nach wie vor unterrepräsentiert – aber es haben mehr Frauen als Männer den Weg geschafft. 

Nicht zuletzt mündete die Forderung nach einer paritätischen Besetzung aller Entscheidungsebenen 30 Jahre später 2019 in die ersten Paritätsgesetze in zwei ostdeutschen Bundesländern. Auch dies steht in direkter Tradition mit der ostdeutschen Frauenbewegung. Die Geschichte des Frauenaufbruchs im Herbst 1989 ist damit ein Beispiel dafür, „wie sich der Mut entwickelte, keine Angst mehr vor professionellen Angstmachern zu haben.“7

 

Dieser Beitrag erschien im Oktober 2019 im dbb magazin: https://www.dbb.de/fileadmin/epaper/dbb_magazin_19_10/24/

Veröffentlicht: 17. Februar 2020
Verfasst von
Dr. des. Jessica Bock

promovierte zur ostdeutschen Frauenbewegung von 1980 bis 2000 am Beispiel Leipzigs und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Digitalen Deutschen Frauenarchiv.

Empfohlene Zitierweise
Dr. des. Jessica Bock (2024): Feministische Herbststürme, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/angebote/dossiers/30-jahre-geteilter-feminismus/feministische-herbststuerme
Zuletzt besucht am: 14.12.2024

Fußnoten

  1. 1 Marlies Heinz: Frauen stellen in Frage und suchen nach Antworten, in: Leipziger Volkszeitung, Nr. 278 vom 25./26.11.1989, S. 3.
  2. 2 Stötzer, Gabriele: Für Angst blieb keine Zeit. Die Entmachtung des MfS durch Frauen in Erfurt, in: Bundeszentrale für politische Bildung: Stasi, Zugriff am 14.8.2019 unter http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/stasi/261039/fuer-angst-blieb-keine-zeit.
  3. 3 Merkel, Ina: „Ohne Frauen ist kein Staat zu machen!“ – Manifest für eine unabhängige Frauenbewegung, in: Kahlau, Cordula (Hg.): Aufbruch! Frauenbewegung in der DDR. Dokumentation, München 1990, S. 28‒38.
  4. 4 Stadtarchiv Dresden, Verein zur Erforschung der Dresdner Frauengeschichte e. V./ Frauenstadtarchiv, Sign. 13.57 Nr. 285, Offener Brief an alle Frauen, Dresden 1990, Bl. 1.
  5. 5 Interview mit Ruth Stachorra, Transkript, S. 10.
  6. 6 Interview mit Ruth Stachorra, Transkript, S. 10.
  7. 7 Stötzer: Für Angst blieb keine Zeit.