Der Ost-West-Frauenkongress 1990

Vom 27. bis 29. April 1990 fand in Berlin der erste organisierte Austausch der Ost- und Westfrauenbewegung statt. Ziel war eine gemeinsame feministische Strategie zum Einigungsprozess.

Mit den revolutionären Umbrüchen 1989 gerieten nicht nur die Frauen in der DDR in Bewegung. Der 9. November 1989 eröffnete auch den Ost- und West-Frauenbewegungen neue Möglichkeiten des Kennenlernens und Austauschs, die beide Seiten Anfang der 1990er intensiv nutzten. Aktivistinnen aus Ost und West organisierten Kongresse, Tagungen und Workshops, bei denen sie sich begegneten, gemeinsame Projekte und Strategien schmiedeten – oder auch stritten. Ein Beispiel ist der erste Ost-West-Frauenkongress 1990 in Ost-Berlin. 

Politische Bündnisse

„Der gesamtdeutsche Zug droht uns zu überrollen“, hieß es in der Einladung. „Deswegen ist es an der Zeit, daß Frauen gemeinsam Strategien für eine zukünftige Ost-West-Frauenpolitik entwerfen. Die Frauen in der DDR haben viel zu verlieren. Die Frauen in der BRD können viel gewinnen.“1 Gemeint waren insbesondere die hohe Erwerbsdichte der Frauen, flächendeckende Kinderbetreuung und das liberale Abtreibungsrecht in der DDR.

Plakat des Ost-West-Frauenkongresses, 27. bis 29. April 1990.

Organisiert wurde der Ost-West-Frauenkongress, der vom 27. bis 29. April 1990 stattfand, von UFV, Verein Frauen gehen zu Frauen, (West-)Berliner Fraueninfothek und FrauenAnstiftung aus Hamburg. Die Veranstalterinnen rechneten mit vielen Teilnehmerinnen und buchten die Dynamo-Sporthalle in Ost-Berlin. Ziel war es, gemeinsam eine Strategie zu entwickeln, um als Feministinnen aus beiden Staaten Einfluss auf die patriarchale Einigungspolitik zu nehmen. 

In sechs Arbeitsgruppen diskutierten die Teilnehmerinnen Themen: Arbeit/Erwerbsarbeit/Frauen und Geld, Missbrauch/Gewalt/Pornographie, § 218/Gen- und Reproduktionstechnologien, alternative Lebensformen/Lesben-Strategien, Familie/Erziehung/Sozialisation sowie Autonomie/Autonome Projekte/Kriminalisierung von Frauenwiderstand.2 Nach Diskussion des Resolutionsentwurfs folgte abschließend die Strategiedebatte.

Teilnehmerinnen des ersten Ost-West-Frauenkongresses im April 1990
Robert-Havemann-Gesellschaft / Kerstin Baarmann
Ost-West-Frauenkongress in der Berliner Dynamo-Sporthalle (Berlin-Weißensee) mit Blick ins Publikum, rechts am Gang ein Mikrofon haltend: Elisabeth von Dücker.

Über die Teilnehmerinnenzahl finden sich unterschiedliche Angaben. Im Sachbericht der FrauenAnstiftung steht: „[E]s nahmen über 1.000 Frauen teil.“3 Der UFV nennt in einem Bericht „ca. 800 Frauen aus Ost und West“.4 Nach Meinung der damaligen taz-Journalistin Ulrike Helwerth blieb der von den Organisatorinnen erwartete Frauenansturm aus: „Zwar wurden 800 Eintrittskarten verkauft. Aber mehr als 500 Frauen saßen nie gleichzeitig in der riesigen Ostberliner Dynamo-Sporthalle ein.“5 Nach Schätzungen der Veranstalterinnen kamen zwei Drittel der Frauen aus West-Berlin und der Bundesrepublik, knapp ein Drittel aus Ost-Berlin und anderen Städten der DDR.6  

Der Kongress begann mit Protest. Vertreterinnen von Migrantinnen- und Frauen of Color-Organisationen kritisierten das Fehlen von Migrantinnen, afro-deutschen und jüdischen Frauen und deren Lebensrealitäten im Kongressprogramm. „Die Frauenbewegungen der BRD und der DDR erheben den Anspruch internationalistisch zu sein, trotzdem werden bei der Arbeit im eigenen Land Ausländerinnen, ‚schwarze Deutsche‘ oder auch die Probleme des Antisemitismus vernachlässigt“, heißt es im Protokoll der AG Ausländerinnen.7 Seine Autorinnen forderten, grassierenden Nationalismus, zunehmende rassistische Gewalt und die Novellierung des Ausländergesetzes als frauenpolitisches Anliegen in die Strategiediskussion mitaufzunehmen, eigenen Rassismus und Eurozentrismus zu reflektieren und „in Zukunft bei der Organisation von Aktionen, Kongressen etc. (…) von Anfang an schwarze deutsche, jüdische Frauen und Immigrantinnen“ 
miteinzubeziehen.8

Kontroversen zwischen Ost und West

Kontroverse, aber durchaus produktive Auseinandersetzungen setzten sich in Arbeitsgruppen fort. So geht zum Beispiel aus dem Protokoll der AG Arbeit/Erwerbsarbeit/Frauen und Geld hervor, dass sie mit einem Konflikt begann: „Der Ablauf war schlecht organisiert.“9 Frauen aus der BRD äußerten Unmut über die fehlende Diskussionsleitung. Nach „längerem Hin und Her“ fand sich eine „freiwillige“10 Moderation. Schließlich wurden die Themen § 218, Kinderbetreuung, Arbeitszeit, Umschulung und soziale Sicherheit für Prostituierte diskutiert. Während bei den meisten Punkten Einigkeit bestand, gab es bei der Frage nach der Teilzeitarbeit Unterschiede zwischen Frauen aus BRD und DDR. „Die meisten BRD-Frauen lehnen sie als frauenfeindlich ab, weil sie die Gefahr birgt, daß sie nur von Frauen in Anspruch genommen wird und sie wieder der Frau den größten Anteil an der Hausarbeit zuweist“, heißt es im Protokoll.11 Alleinstehende Frauen könnten von einer Teilzeitbeschäftigung nicht leben. Hauptprofiteur sei, in den Augen der westdeutschen Frauen, der „kapitalistische Betrieb“.12 Die DDR-Frauen vertraten eine andere Position. Mit Blick auf die von ihnen erfahrene Mehrfachbelastung durch Vollzeit und Hausarbeit plädierten sie für Teilzeitarbeit, „aber bei gleicher sozialer Absicherung“.13

Transparent zum ersten Ost-West-Frauenkongress im April 1990
Robert-Havemann-Gesellschaft / Kerstin Baarmann
"Weg mit 218 oder Kastration" forderten Frauen mit einem Transparent beim Ost-West-Frauenkongress.

Einen weiteren Unterschied zwischen Ost- und West-Frauenbewegung offenbarte die AG Missbrauch/Gewalt/Pornographie. Im Protokoll steht, dass „DDR-Frauen für viele Themen noch nicht sensibilisiert“ seien.14 Frauen aus dem Osten würden nicht zwischen Pornographie und Erotik unterscheiden, denn „alles, was gegen Porno gesagt wird, wird gegen Erotik ausgelegt.“15 Mangelndes Problembewusstsein wurde Ostfrauen auch bei häuslicher Gewalt unterstellt: „Frauen in der DDR erkennen die Gefahren nicht, schauen weg.“16 Ob diese Äußerung von einer Ost- oder Westfrau stammte, geht aus dem Protokoll nicht hervor. Fehlende Sensibilität und Bereitschaft, häusliche Gewalt gegen Frauen konsequent zu verfolgen, bestehe auch bei der Volkspolizei. Sie „wimmeln ab“.17 Zugleich führe der Wohnungsmangel dazu, dass Frauen davor zurückschreckten, ihre Ehemänner anzuzeigen. 

Die protokollierte Diskussion zwischen Ost- und Westfrauen offenbart, wie wenig zum Zeitpunkt des Kongresses kritische Selbstreflexion und konstruktive Auseinandersetzung möglich war. Während Vertreterinnen der westlichen Frauenbewegung der Polizei und Justiz in der DDR mangelnde Sensibilität für häusliche Gewalt vorwarfen, verschwiegen sie die Ignoranz westdeutscher Polizei und Justiz.

Errungener Minimalkonsens

Die in den Arbeitsgruppen formulierten Vorschläge für die Resolution wurden schließlich im Plenum diskutiert. Der zeitgenössischen Medienberichterstattung ist zu entnehmen, dass im Plenum die Kluft zwischen Ost- und West-Frauenbewegung sichtbar wurde. Trotz zahlreicher Differenzen zu Themen wie § 218 oder Männer in der Frauenbewegung rangen sich die Teilnehmerinnen zu einer gemeinsamen Resolution durch. Nach Ansicht der Soziologin und Politikberaterin Anne Ulrich trug dieses Dokument „vor allem den Charakter der Fixierung ost- und westseitiger Grundaussagen“.18

An dieser Stelle plädiere ich für eine differenziertere Sichtweise: Bei der Resolution handelte es sich wohl um das erste gemeinsame Positionspapier der ost- und westdeutschen Frauenbewegung. Auch wenn das Ergebnis ein Minimalkonsens war, vereint es doch wesentliche Forderungen für eine geschlechtergerechte Gestaltung des Einheitsprozesses. Die Resolution kann so als wichtige Ergänzung zur Sozialcharta verstanden werden, die unter maßgeblicher Beteiligung des UFV entstand und am 7. März 1990 vom Runden Tisch verabschiedet wurde. Sie sollte als sozialpolitisches Grundlagenpapier der DDR für die Verhandlungen über eine Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion mit der Bundesrepublik fungieren. 

Das Podium in der Ferne beim Ost-West Frauenkongress, u.a. mit Christina Schenk, Kerstin Schön, Eva Schäfer (v.r.n.l.).
Robert-Havemann-Gesellschaft / Kerstin Baarmann
Das Podium in der Ferne, u.a. mit Christina Schenk, Kerstin Schön, Eva Schäfer (v.r.n.l.).

Erfolgreich gescheitert?

Die Resolution kann als Ausgangspunkt für eine künftige Frauen- und Gleichstellungspolitik im vereinten Deutschland interpretiert werden. Ob und inwiefern Frauen und feministische Interessensgruppen sowie Institutionen ihre Forderungen aufgriffen und weiterverfolgten, ist bis heute eine offene Forschungsfrage. 

Obgleich laut Sachbericht der FrauenAnstiftung die Abschlussresolution „viel Beachtung und Widerhall“19 fand, stehen in Erinnerungen an den Ost-West-Frauenkongress Differenzen zwischen Ost und West im Vordergrund. Er steht für Verletzungen und das Scheitern eines Schulterschlusses. Doch diese Interpretation greift zu kurz. Der erste Ost-West-Frauenkongress war nur einer von vielen Zusammentreffen von Ost- und Westfrauen, die sich in den Folgejahren intensivierten. Daher ist es lohnenswert, den Kongress als einen Ausgangspunkt zu nehmen, um über den weiteren Verlauf beider Frauenbewegungen und das gegenwärtige Ost-West-Verhältnis innerhalb der Frauenbewegung Deutschlands zu debattieren.

Dieser Text basiert auf dem Artikel „Kongress als Ort der (Wieder-)Vereinigung? Frauenkongresse nach 1990 in Deutschland“, der im Heft 76 der Zeitschrift Ariadne. Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte erscheint.

Stand: 23. April 2020
Verfasst von
Jessica Bock

geb. 1983, Studium der Mittleren und Neueren Geschichte an der Universität Leipzig, Promotion zur ostdeutschen Frauenbewegung von 1980 bis 2000 am Beispiel Leipzigs an der TU Dresden, wissenschaftliche Mitarbeiterin beim DDF im Bereich neue und ostdeutsche Frauenbewegung

Empfohlene Zitierweise
Jessica Bock (2020): Der Ost-West-Frauenkongress 1990, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/angebote/dossiers/30-jahre-geteilter-feminismus/der-ost-west-frauenkongress-1990
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Fußnoten

  • 1RHG/GZ/UFV-AHU 22, Einladungsschreiben Frauen in Ost und West: Es geht ums Ganze, 1 Bl r.
  • 2RHG/GZ/A75, nichterfasster UFV-Bestand, Einladungsschreiben Frauen in Ost und West: Es geht ums Ganze, 1 Bl. v.
  • 3Frauen-Anstiftung (Hg.): Sachbericht 1990, Hamburg, S. 6.
  • 4RHG/GZ/A75, nichterfasster UFV-Bestand, Ost-West-Frauenkongress, undatiert, 1 Bl.
  • 5Ulrike Helwerth: Für uns steht jetzt alles auf dem Spiel, in: taz vom 30.04.1990, S. 8.
  • 6Ebenda.
  • 7RHG/GZ/A75, nichterfasster UFV-Bestand, Protokoll der Arbeitsgruppe Ausländerinnen, 2 S., hier S. 1.
  • 8RHG/GZ/A75, nichterfasster UFV-Bestand, Aufruf an alle Teilnehmerinnen des Kongresses „Frauen in Ost und West, 1 Bl., Hervorhebung im Original.
  • 9RHG/GZ/A75, nichterfasster UFV-Bestand, Protokoll der Arbeitsgruppe ‚Arbeit/Erwerbsarbeit, Frauen und Geld‘, Berlin 30.04.1990, 1 Bl. r.
  • 10Ebenda.
  • 11RHG/GZ/A75, nichterfasster UFV-Bestand, Protokoll der Arbeitsgruppe ‚Arbeit/Erwerbsarbeit, Frauen und Geld‘, Berlin 30.04.1990, 1 Bl. v.
  • 12RHG/GZ/A75, nichterfasster UFV-Bestand, Protokoll der Arbeitsgruppe ‚Arbeit/Erwerbsarbeit, Frauen und Geld‘, Berlin 30.04.1990, 1 Bl. v.
  • 13Ebenda.
  • 14RHG/GZ/A75, nichterfasster UFV-Bestand, Protokoll Thema 3, 2 Bl., hier Bl. 1.
  • 15Ebenda.
  • 16Ebenda.
  • 17Ebenda.
  • 18Anne Ulrich Hampele: Der Unabhängige Frauenverband. Ein frauenpolitisches Experiment im deutschen Vereinigungsprozess, Berlin 2000, S. 235. 
  • 19Frauen-Anstiftung, Sachbericht 1990, S. 7.