Henriette Goldschmidt Geboren am in Krotoszyn Gestorben am in Leipzig

Über Henriette Goldschmidt

Henriette Goldschmidt war eine überzeugte Demokratin, Pazifistin und Pionierin der Sozialen Arbeit und Pädagogik in Leipzig. Als Frauenpolitikerin der ersten Stunde forderte sie ab 1865 ein Modell weiblicher Staatsbürgerschaft, dessen ‚Rechte‘ mit ‚Pflichten‘ verknüpft waren.

Kindheit, Jugend, erste Ehejahre (1825–1858)

Henriette Goldschmidt kam als sechstes von acht Kindern des jüdischen Kaufmanns Levin Benas auf die Welt. Ihre Mutter Eva, geb. Laski, verstarb, als Henriette fünf Jahre alt war. Die Stiefmutter war Analphabetin, aber Vater Benas förderte die Bildung seiner Töchter. Als Anhänger der demokratischen Ideale der 1848er-Revolution machte er auch seine Familie mit politischen Themen vertraut.

Henriette erweiterte ihre schulische Grundausbildung später autodidaktisch und sammelte früh Erfahrungen im gesellschaftspolitischen Engagement. In Posen, wo die Familie seit 1850 lebte, lernte sie im Umfeld eines Vereins freiwillige Jugend- und Sozialarbeit kennen; sie übernahm die Betreuung armer Kinder. 

1853 heiratete sie ihren ebenfalls den Ideen der 1848er-Revolution verbundenen, dreizehn Jahre älteren Cousin, den Lehrer und Prediger Dr. Abraham Meier (Meir) Goldschmidt (1812–1889), der drei Söhne aus erster Ehe mitbrachte, und übersiedelte mit ihnen nach Warschau. 1858 wurde ihr Ehemann zum Rabbiner der Israelitischen Religionsgemeinde in Leipzig berufen und die Familie verlagerte ihren Lebensmittelpunkt nach Sachsen. 

Leipziger Zeit (1858–1920)

Gleich zu Beginn ihrer Leipziger Zeit wurde Henriette Goldschmidt mit den Ideen des Begründers der Kindergärten und der pädagogischen Frühkinderziehung Friedrich Fröbel (1782–1852) bekannt, dessen Konzept ihr weiteres Leben bestimmen sollte. Die Reformbewegung hatte in mehreren deutschen Städten bereits viele Anhänger/innen, galten doch Bildung und Erziehung seit der Aufklärung als eine wesentliche Voraussetzung für die Demokratisierung der Gesellschaft. Häufig fühlten sich freisinnige Frauenvereine dazu ermutigt, die religiösen Reformen, welche vor allem durch den Deutschkatholizismus inspiriert waren, mit reformpädagogischen und demokratischen Ansätzen zu verbinden. Das bekannteste Projekt dieser Zeit war 1850 die Gründung der Hamburger Hochschule für das weibliche Geschlecht durch den Hamburger Bildungsverein deutscher Frauen unter Führung Emilie Wüstenfelds (1817–1874) und Bertha Trauns (1818–1863. 1852 führten interne Streitigkeiten, fehlende finanzielle Unterstützung und die politische Reaktion zur Schließung.1  Leipzig bot als Zentrum der liberalen Opposition in Sachsen günstige Rahmenbedingungen für das gesellschaftspolitische Engagement Henriette Goldschmidts. Hier war seit 1831 die Geschlechtsvormundschaft abgeschafft und seit 1837 mit dem Gesetz zur Gleichstellung der Juden allmählich der Weg zur bürgerlichen Gleichstellung geebnet. Die Goldschmidts hatten viele gemeinsame Interessen und pflegten gesellschaftliche Kontakte in ihrem Haus, wo sich einflussreiche Personen aus Wissenschaft, Kultur und Politik trafen, zum Beispiel Johann Karl Heinrich Wuttke (1818–1876) und Emma Wuttke-Biller (1833–1913), Emil Adolf Roßmäßler (1806–1867), Berthold Auerbach (1812–1882), Karl Ferdinand Gutzkow (1811–1878), Adolf Stahr (1805–1876) und Fanny Lewald (1811–1889) sowie Auguste Schmidt (1833–1902). Als Verehrerin des Dichters und Dramatikers Friedrich Schiller kam es 1905 in Vorbereitung seines 100. Todestages unter ihrer Führung zur Gründung des Leipziger Schillervereins deutscher Frauen. Goldschmidt war dort und im Jüdischen Frauenbund Ehrenvorsitzende.

Eine Anekdote darf hier nicht fehlen: Im Februar 1865 gehörte Henriette Goldschmidt gemeinsam mit Louise Otto-Peters (1819–1895), Auguste Schmidt und anderen Frauen zu den Gründerinnen des Leipziger Frauenbildungsvereins, später auch des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins (ADF). In den im Oktober 1865 begründeten Dachverband ADF trat Goldschmidt aber zunächst deshalb nicht ein, da Männer nur als Ehrenmitglieder zugelassen waren. Goldschmidt und viele andere Frauen betrachteten diesen Beschluss als eine Diskriminierung der Männer.2  Dem ADF schloss sie sich wohl nach Abänderung des betreffenden Paragrafen 1866 an und war von 1867 bis 1906 im Vorstand tätig.

Das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts hatte für die Frauenbewegung eine besondere Dynamik. Die Aufbruchstimmung nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 nutzten auch die Frauen. Für die Bewegung war es eine Phase des Anwachsens sowie der Konsolidierung ihrer nationalen und transnationalen Organisationsstruktur. Bertha von Marenholtz-Bülow (1810–1893) initiierte 1871 in Dresden den Allgemeinen Erziehungsverein. Im gleichen Jahr gründete Henriette Goldschmidt, die mit Marenholtz-Bülow in engem Kontakt stand, den interkonfessionellen Verein für Familien- und Volkserziehung, dem 150 bedeutende Leipziger Persönlichkeiten beitraten; es war kein reiner Frauenverein. Mit deren Unterstützung etablierte sie mehrere Volkskindergärten und Bildungsstätten für Frauen in Leipzig, so 1872 ein Seminar für Kindergärtnerinnen und 1878 das Lyzeum für Damen. Goldschmidt unterrichtete auch selbst, hielt öffentliche Vorträge in Leipzig und ganz Deutschland, wobei sie sich als brillante Rhetorikerin und Sozialkritikerin erwies. 1868 trat sie mit Auguste Schmidt bei der Generalversammlung des ADF in Braunschweig auf, plädierte für das Frauenstudium und die Notwendigkeit von Petitionen im Kampf um die Rechte von Frauen. 1877 wies sie in der Rede Die Frauenfrage innerhalb der modernen Kulturentwicklung auf der Jahresversammlung des ADF in Hannover mit Scharfsinn und Weitblick auf den Zusammenhang von „materieller Not und schlechter Erziehung“3  hin, die insbesondere unverheiratete Frauen und Witwen betrafen und vor allem im Alter zu Armut führten. Goldschmidts Aussagen zum Recht der Frauen auf Selbstbestimmung, auf freie Wahl von Nahbeziehungen und auf Arbeit sowie die Aufgabe der Politik, diese menschlichen Güter zu befördern, sind zeitlos und global aktuell.4  Ihre Vorträge, Reden und Veröffentlichungen sowie rund 95 Berichte sind noch nicht alle aufgefunden worden, wie auch eine entsprechende Auswertung bislang nur in geringem Maße erfolgte.5

Henriette-Goldschmidt-Haus

Der 1871 gegründete Verein für Familien- und Volkserziehung konnte 1889 mithilfe von Spenden jüdischer Bürger/innen das Haus Weststraße 16 (heute Friedrich-Ebert-Straße) erwerben. Untergebracht waren hier ein Volkskindergarten als Lehrkindergartenanstalt, ein Schülerinnenpensionat und ein Seniorinnenheim, das Seminar für Kindergärtnerinnen und das Lyzeum für Damen (die spätere Fröbel-Frauenschule). Im Vereinshaus fanden Vorträge und Kurse für Frauen und Mädchen sowie kulturelle und gesellige Veranstaltungen statt – es wurde zu einem Zentrum der Frauenbildung in Leipzig. 
1902 zog Henriette Goldschmidt in das Vereinshaus, das ab 1921 nach ihr benannt wurde. Hier wohnten auch die Schriftstellerin Josephine Siebe (1870–1941), die Lehrerin und Stadtverordnete Anna Zabel (1880–1942) und andere Frauen des Vereins. Im Jahr 2000 wurde das Henriette-Goldschmidt-Haus trotz vieler Proteste Leipziger und auswärtiger Bürger/innen wegen eines geplanten, aber nie realisierten Straßenausbaus abgerissen. Das Haus war neben vier weiteren den Frauen der Stadt Leipzig durch die Henri-Hinrichsen-Stiftung gewidmet worden. Diese Häuser sind heute zum Teil nicht mehr erhalten oder wurden zweckentfremdet.6

Hochschule für Frauen

1911, 86-jährig, krönte Henriette Goldschmidt ihr Lebenswerk mit der Eröffnung der Hochschule für Frauen. Finanziell war dieses Unternehmen ermöglicht worden durch die großzügige Förderung Leipziger Bürger/innen, vor allem durch Dr. Henri Hinrichsen (1868–1942), Inhaber der weltbekannten Edition Peters Leipzig, und seiner Frau Martha, geborene Bendix (1881–1941). Dem Ehrenvorstand der Hochschule gehörten mehr als 60 Persönlichkeiten an, beispielsweise Marie von Ebner-Eschenbach (1830–1916), Clara Claus-Schmidt (1843–1922), Josephine Siebe, Ricarda Huch (1864–1947), Marie Loeper-Housselle (1837–1916), Marie Stritt (1855–1928). 

Das Konzept der Hochschule bot wissenschaftlich fundierte Ausbildungsmöglichkeiten – den Unterricht erteilten vorrangig Professoren der Universität Leipzig, von 1911 bis 1913 auch Henriette Goldschmidt und Dr. Agnes Gosche (1857–1928) – im sozialpädagogischen und medizinischen Bereich. Helene Langes (1848–1930) Nachruf auf Henriette Goldschmidt würdigte die Etablierung der Hochschule auf Basis der bürgerlichen Idee der ‚geistigen Mütterlichkeit‘, die den Pflegesinn, die mütterlichen Instinkte, die Einfühlungskraft und die Emotionalität der Frau als natürliche Eigenschaften betonte, als „eine eigenartige Ausprägung der Idee mütterlichen Wirkens im Staat“7 . Bessere Mädchen- und Frauenbildung gehörte für gemäßigte und radikale Vertreterinnen der Frauenbewegung unbestritten zu den dringendsten Forderungen, andere Frauenrechtlerinnen wie Hedwig Dohm (1831–1919) oder Franziska Tiburtius (1843–1927) lehnten getrennt geschlechtliche Ausbildung jedoch ab, da sie eine Benachteiligung von Mädchen und Frauen sowie eine Einengung auf bestimmte Themen befürchteten. Goldschmidts konservative Vorstellungen von der geschlechtlichen Rollenverteilung waren stärker humanistisch und durch den Glauben des liberalen Judentums an Integration begründet; in der Kindererziehung sah sie eine Chance, trennende Glaubens-, ‚Rassen‘- und Klassenschranken aufzuheben. Schon in der Kindheit erfuhr Goldschmidt persönlich gesellschaftliche Diskriminierung, in Leipzig sah sie sich den antisemitischen und antifeministischen Angriffen des Hetzblattes Hammer ausgesetzt. 1913 hieß es, die Frauenbewegung seit antideutsch und werde von Jüdinnen geführt.8

Nach heutigen Maßstäben war die Hochschule für Frauen eine an der Praxis orientierte Fachhochschule. Ab 1921 wurde sie als Sozialpädagogisches Frauenseminar Leipzig geführt. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten änderten sich Unterrichtsinhalt und Ausbildungsgeist. Jüdische Mädchen wurden nicht mehr aufgenommen; die Erinnerungen an die Gründerin wie den Stifter und seine Familie wurden systematisch getilgt. In der DDR erhielt die Schule den Namen Henriette-Goldschmidt-Schule und fungierte als Pädagogische Fachschule für Kindergärtnerinnen. Seit 1992 bietet sie als Berufliches Schulzentrum der Stadt Leipzig allen Geschlechtern Ausbildungsmöglichkeiten in der Sozial- und Heilpädagogik.

Stand: 13. Februar 2019
Verfasst von
Dr. phil. Sandra Berndt

seit 2018 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Leipzig, Erziehungswissenschaftliche Fakultät, zuvor Lehrbeauftragte am Institut für Germanistik und am Zentrum für Frauen- und Geschlechterforschung der Universität Leipzig, April bis Dezember 2018 Projektkoordination und -durchführung Der lange Weg zur Demokratie für alle – 100 Jahre Frauenwahlrecht in Deutschland, Vorsitzende des FraGes-Vereins e. V. Leipzig und der Louise-Otto-Peters-Gesellschaft e. V., Veröffentlichungen und Forschungsinteressen in Bereichen der deutschsprachigen Literatur-, Kultur- und Sozialgeschichte (18. Jahrhundert bis zur Gegenwart), Haftautobiografik (20. Jahrhundert), Frauen- und Geschlechtergeschichte, Feministische Theorie, Gedächtnis- und Erinnerungsdiskurs, Louise Otto-Peters.

Empfohlene Zitierweise
Dr. phil. Sandra Berndt (2019): Henriette Goldschmidt, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/akteurinnen/henriette-goldschmidt
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Zitate von Henriette Goldschmidt

Biografie von Henriette Goldschmidt

23.11.1825

Geburt in Krotoszyn

1830

Tod der Mutter

1844

Tod der ältesten Schwester, Henriette übernimmt die Erziehung ihrer Kinder

um 1850

Erfahrungen in der ehrenamtlichen Betreuung armer Kinder nach Schulschluss

1853 - 1858

Warschauer ‚Hölle‘: politischer Einfluss des russischen Zaren, Wohnort am Pawiak-Gefängnis im Warschauer Ghetto, wo die Schreie gefolterter politischer Gefangener herüberdrangen

Während der Ehejahre und Ende der 1870er Jahre

Unter anderem Reisen in die Schweiz, nach Iltalien, Ende der 1870er-Jahre nach Frankreich, wo Paris bleibenden Eindruck hinterließ. Sie besuchte den Pére Lachaise und dort die Gräber von Ludwig Börne und Heinrich Heine, die sie verehrte. Unerfüllt blieben Reisen nach Palästina und Amerika.

1889

Tod des Ehemannes

1895

Tod des Sohnes Julian

1897

Tod der Schwester Ulrike Henschke, geb. Benas, Begründerin der Viktoria-Fortbildungsschule in Berlin

Sommer 1913

letzte Reise nach Friedrichroda

1914

Tod des Sohnes Sigismund

30.01.1920

Tod in Leipzig

Fußnoten

  • 1Vgl. Bake, Rita / Heinsohn, Kirsten: „Man meint aber unter Menschenrechten nichts anderes als Männerrechte“. Zur Geschichte der Hamburger Frauenbewegung und Frauenpolitik vom 19. Jahrhundert bis zur Neuen Hamburger Frauenbewegung Ende der 1960er-Jahre, Landeszentrale für politische Bildung Hamburg 2012, S. 26.; Online (PDF, 34MB) https://www.hamburg.de/contentblob/4394696/3927375cf14c79e01d83de8f797f5522/data/man-meint-aber-unter-menschenrechten.pdf, Letzter Zugriff am 11.02.2019
  • 2Vgl. Hundt, Irina: Das Selbsthilfe-Prinzip bei der Gründung des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins (ADF) im Jahre 1865 mit einem Ausblick auf die Diskussion in darauffolgenden Jahren, in: Berndt, Sandra / Kämmerer, Gerlinde (Hg.): LOUISEum 37. Die Rechte der Frauen 1791 - 1866 - 2016, Beucha 2017, S. 62–82, hier S. 67.
  • 3Goldschmidt, Henriette: Die Frauenfrage innerhalb der modernen Kulturentwicklung. Rede gehalten zur Eröffnung des Frauentages zu Hannover am 27. September 1877, in: Schröder, Hannelore (Hg.): Die Frau ist frei geboren. Texte zur Frauenemanzipation, 2. Bd.: 1870 bis 1918, München 1981, S. 179–196, hier S. 190.
  • 4Vgl. zum Rechtediskurs: Berndt, Sandra: Liebe und Arbeit  Gefühle und Gerechtigkeit in Texten von Louise Otto, in: Berndt / Kämmerer (Hg.): LOUISEum 37 S. 44–61.
  • 5Vgl. Müller, Maria: Frauen im Dienste Fröbels. Wilhelmine Höllmeister, Bertha von Marenholtz-Bülow, Henriette Schrader-Breymann, Henriette Goldschmidt, Leipzig 1928, S. 136–162, hier S. 141–149; Fassmann, Irmgard Maya: Jüdinnen in der deutschen Frauenbewegung 1865–1919, Hildesheim 1996, S. 157–178.
  • 6Kemp, Annerose: Leipzigs Frauen gehörten einst mehrere Häuser, in: In: LOUISEum 8. Was Frauen bewegte, was Frauen bewegt. Red. Johanna Ludwig und Nina Preißler, Leipzig [Selbstverlag der Louise-Otto-Peters-Gesellschaft e.V. 1998], S. 69-78.
  • 7Nachrufe. Henriette Goldschmidt. Von Helene Lange, in: Die Lehrerin. Organ des Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenvereins. Hrsg. vom Vorstand. 36. Jg. vom 15. März 1920, Leipzig, S. 188 f, hier S. 189.
  • 8Vgl. Rosen, Kathinka von: Gegen die Frauenrechtlerinnen, in: Hammer. Parteilose Zeitschrift für nationales Leben 12, 1913, Nr. 256, S. 96; Wage, F.: Frauenbewegung oder Frauennasführung?, in: Hammer. Parteilose Zeitschrift für nationales Leben 12, 1913, Nr. 257, S. 642 f zitiert in: Fassmann, Irmgard Maya: Jüdinnen in der deutschen Frauenbewegung 1865-1919, Hildesheim 1996, S. 11.

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