Frauen im Sozialismus: Generation 1940–1960

verfasst von
  • Dr. Heike Schimkat
veröffentlicht 26. Februar 2020
Für die Zeitzeuginnen der jüngsten Generation im OWEN-Projekt Frauengedächtnis wurde der Umbruch 1989/90 immer stärker zum lebensgeschichtlichen Reflexionspunkt, um über ihre Erfahrungen im Sozialismus zu berichten. Was ihnen aus der DDR selbstverständlich war, versuchten sie, in das andere System einzubringen.

Die Interviews mit Frauen der Generation 1940 bis 1960 vermitteln ein komplexes Spektrum von Lebenserfahrungen seit dem Umbruch 1989/90. Die meisten der 43 Interviews dieser Generation wurden zwischen 2000 bis 2002 geführt. Als Frauen in der DDR wuchsen sie mit einer Gleichberechtigungspolitik auf, die ihnen, obwohl „janusköpfig“1 , ihre finanzielle Selbstständigkeit und rechtliche Unabhängigkeit ermöglichte. Das Besondere dieser Generation ist, dass sie ein Leben in zwei gegensätzlichen Systemen2 kennengelernt hat. Die Frauen waren 30 bis 50 Jahre alt, als sie beruflich oftmals neu durchstarteten, hatten Kinder, die noch zu DDR-Zeiten geboren worden waren und zur Schule gingen, und weitere, die im vereinten Deutschland geboren wurden. Arbeitslosigkeit, Beschäftigung in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM), häufig wechselnde Stellen, manchmal unterqualifiziert und in neuen Bereichen oder selbstständig, Fort- und Weiterbildungen gehörten zu ihren Berufserfahrungen. Insofern sie Leitungspositionen inne hatten, waren sie aktiv in Abwicklung, Umstrukturierung und Neugestaltung von Betrieben in Land und Stadt, in Wissenschaft, Bildung, Verwaltung, Zeitungs-, Film- und Fernsehbranche involviert. Einige erlebten den Prozess stärker als davon Betroffene, andere als diesen Gestaltende.

Berufslenkung und Berufserfahrung in der DDR

Zu Beginn der Interviews schilderten viele der Biografinnen ihre Schul- und Studienzeit, ihren Berufswunsch und die Berufslenkung im staatlich geplanten Bildungssystem. Es wurde vom Schulalltag, auch von Appellen, berichtet, vom Verhalten der Lehrkräfte und der Eltern. Die familiäre Herkunft und Unterstützung spielte bei manchen für den Berufswunsch eine Rolle. Einige lernten in kirchlichen Ausbildungsstätten. Oft wurde thematisiert, inwieweit ein Studium möglich war oder nicht, abhängig davon, ob sie ein Arbeiter- und Bauernkind war. Diejenigen, die studierten, erinnerten sich an Freundschaften aus der Studienzeit, an die Wohnverhältnisse im Studentenwohnheim oder an das Auslandsstudium.
Viele reflektierten, wie sie durch die Berufslenkung zwar nicht den gewünschten Beruf ergreifen konnten, aber rückblickend den stattdessen ausgeübten Beruf für ihre Persönlichkeit doch als passend empfanden. Eine Biografin belegte einen logopädischen Studiengang statt Germanistik, eine andere wurde statt Lehrerin Futterökonomin in einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG), eine Dritte folgte dem Rat ihrer Lehrerin, nicht Kinderkrankenschwester zu werden, sondern nach dem Abitur zu studieren. Kritik an den Wahlmöglichkeiten und den engen Grenzen des Ausbildungssystems3 wurde seltener formuliert, und wenn, dann bezog sie sich zum Beispiel auf die Studienberatung auf dem Land: Männer wurden dort als Offiziere geworben und Frauen kaum beraten. Die Biografinnen waren tätig im Handel oder im Krankenhaus, in der Schule oder mit und ohne Diplom in der Landwirtschaft. Sie arbeiteten als Künstlerinnen, Theologin, Chemikerin sowie im Männerberuf als Schlosserin in einer Brikettfabrik als ‚Frau in der Kohle‘. Einige stiegen in leitende Positionen auf als Kantinen- und Verkaufsstellenleiterin, Direktorin der Clubgaststätte, Sportfunktionärin, Schulleiterin, Bürgermeisterin. Wenn sie als junge Frauen in Führungspositionen gelangten, hatten sie einen schweren Stand auch gegenüber älteren Frauen, die sie auflaufen ließen; manche setzten sich in männerdominierten Bereichen durch, wie in der Armee. Andere Frauen berichteten von Chefs, die sie unterstützten oder mit denen sie sich arrangierten.
Dass die Berufswahl „in eine nach Geschlecht polarisierte Berufs-, Wirtschafts- und Einkommensstruktur“4 mündete, sodass, trotz des Grundsatzes „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“5 , das Einkommen der Frauen geringer war, wurde kaum thematisiert. Inwieweit die Interviews weitere Einblicke in Geschlechterungleichheit geben können, bleibt zu erforschen, ebenso die Frage, wie viel gelebte Autonomie und Selbstbestimmung aus alternativen Lebensentwürfen einiger Biografinnen spricht. Denn einige waren in künstlerischen Bereichen tätig und haben, zum Beispiel als Schauspielerin, die „Bilder von Geschlechterverhältnissen […] mit-gemacht“.6  

Qualifizierte Berufstätigkeit und Familie

Die sozialpolitischen Maßnahmen von 1972 bis 1989 förderten weiter die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.7 Viele berufstätige Frauen engagierten sich außerdem gesellschaftlich, beispielsweise im Demokratischen Frauenbund Deutschlands (DFD), in Elternvertretungen sowie in Arbeitertheatern, im Kabarett und im Chor. Neben Erinnerungen an die Vereinbarkeit von diversen Aufgaben des Alltags reflektierten einige Frauen auch darüber, wie sie das alles geschafft hatten. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen hatten es ihnen ermöglicht. Dazu erzählte eine Gewerkschaftsfunktionärin, dass sie als berufstätige Frau alles gepackt habe, weil das Kinderkriegen in der DDR vom Staat unterstützt wurde. Zu nennen ist hier eine eigene Wohnung als elementare Voraussetzung für das Familienleben8 , wobei zunächst Verheiratete bevorzugt wurden. Mit den neuen sozialpolitischen Leistungen ab 1986 nahmen auch nichteheliche Lebensgemeinschaften zu9 .

Staatliche Maßnahmen zur Förderung der Frau und der Familie

Eine Biografin wohnte mit adoptiertem Kind und ihrer Lebensgefährtin zusammen. Erstaunlicherweise waren in der Lebensplanung vieler junger Frauen Ehe und Familie nicht primär. Viele entschieden sich während Ausbildung und Studium, eine Familie zu gründen, einzelne heirateten auch ausländische Partner, was Probleme mit staatlichen Strukturen nach sich zog.
Die meisten Frauen bekamen ihr erstes Kind noch vor ihrem 25. Lebensjahr. Die Berufsausbildung, das Einsteigen in den Arbeitsprozess, Haushalts- und Familiengründung geschahen nicht nacheinander, sondern wurden gleichzeitig gelebt.10 Die jungen Frauen leisteten trotz ganztägiger Berufsarbeit viel Hausarbeit11 , einige beschrieben lange Arbeitstage, an die sich der Familienalltag mit Kindern, Einkauf und Hausarbeit anschloss. ‚Ich schmiss den Haushalt‘, schilderte eine Biografin, die, wie manch qualifizierte Frau, verantwortlich für das tagtägliche Funktionieren des Familienlebens und die zeitaufwendigen Routinen blieb.12 Erst im Konfliktfall wurden Vereinbarkeitsprobleme als Mangel an familiärer Gleichberechtigung empfunden13 , was häufig zu Scheidungen14 führte.
Es gab Partner, die ihre berufstätige Frau bei Dienstreisen und der Kinderbetreuung unterstützten, Väter, die ihre Kinder in die Betreuungseinrichtung brachten und sie von dort abholten, die Hausaufgaben mit ihnen machten, es gab aber auch abwesende Familienväter oder solche, die schlicht die Auffassung vertraten, ein krankes Kind zu betreuen, sei Frauensache. Die Interviews zeigen ein breites Spektrum an Modellen familiärer Arbeitsteilung, die von traditionell bis partnerschaftlich gelebt wurden.

Geschlechterverhältnisse und Generationenbeziehungen

Der Wandel von Geschlechterverhältnissen zeigt sich unter anderem in den Generationenbeziehungen. Die Biografinnen erlebten, dass ihre berufstätigen Mütter sich qualifizierten, eine politische Vorbildfunktion einnahmen oder dass die geschiedene Mutter mit ihren Kindern allein gut zurechtkam. Die Mutter-Tochter-Interviews verdeutlichen, dass unterschiedliche Frauengenerationen durch staatliche Frauenpolitik andere Voraussetzungen für Ausbildung, berufliche Qualifizierung, Vereinbarkeit von Beruf und Familie und gleichberechtigte Partnerschaften hatten. Auch die Möglichkeit, gleichgeschlechtliche Beziehungen in Familie und Gesellschaft zu leben, änderte sich von Generation zu Generation. Einzelne berichteten vom Coming-out von Familienangehörigen oder ihrem eigenen.
Manche erinnerten sich an den Mauerbau am 13. August 1961, die LPG-Gründung (1960er-) oder den Prager Frühling 1968. Sie schilderten, wie in Familien darüber diskutiert wurde und wie das soziale Umfeld reagierte: ‚Da sind viele Panzer hier durchgefahren.‘ Oder ein Nachbar, der an der Tür klingelte, sagte: ‚Endlich rücken sie ein.‘ Gemeinsam war vor allem den Älteren die Angst vor einem neuen Krieg, auch abhängig davon, was ihre Familien 1933 bis 1945 erlebt hatten. Sie wertschätzten es, im Frieden aufgewachsen zu sein. Perestroika, Solidarność, das Sputnik-Verbot, die Ausbürgerung Wolf Biermanns – all dies erlebten sie als Erwachsene. Einige fühlten sich solidarisch mit ihren in den 1980er-Jahren ausgereisten Kindern, aber ebenso verantwortlich für Demokratie im Umbruch.

Sozialismus im biografischen Gepäck

Ihre biografische Erzählung teilte sich in ein ‚Davor‘ und ein ‚Danach‘. Viele ihrer Geschichten bezogen ihr Spannungsmoment aus dem Systemvergleich. So hieß es: ‚…den Kapitalismus haben sie uns perfekt beigebracht‘ oder ‚den Westen haben wir schnell gelernt‘. Kritisiert wurde vor allem das kapitalistische System heute und bedauert wurde, dass sich die Ideen der BürgerInnen-Bewegung nicht durchsetzen konnten. Denn manche wirkten in Friedenskreisen mit oder sympathisierten mit deren Ideen. Zum Sozialismus wurde gesagt: ‚…viele wunderbare Ansätze, eben sozial gerechter zu sein‘ – kurzum: eine gute Idee, die schlecht umgesetzt war oder als Utopie bezeichnet wurde; dabei gingen sie mit der politischen Führungselite hart – aber zuweilen auch humorvoll – ins Gericht.

Viele bilanzierten ein Sowohl-als-auch: dass sie eigentlich zufrieden seien seit dem Umbruch, Spaß bei der Arbeit oder Glück in beiden Systemen gefunden hatten. Dies ist die Generation, die uns im aktuellen Mediendiskurs als selbstbewusste „Ostfrauen“15  begegnet. Dort interessiert, welche Spuren sie in der heutigen Gesellschaft hinterlassen, aber auch, inwiefern ihre Identität durch ihr Leben im Sozialismus geprägt ist.16  

Stand: 26. Februar 2020
Verfasst von
Dr. Heike Schimkat

Sozial-/Kulturanthropologin (PhD University of Toronto), promovierte zu Transformationserfahrungen von Frauen in den neuen Bundesländern am Beispiel des (DFD-)Frauentreffs Sundine, Forschungsschwerpunkte: Ethnografie, Biografie, Diversity (Gender, Age)
Leitung des DDF-Projekts in der ZtG-Genderbibliothek/HU Berlin

Empfohlene Zitierweise
Dr. Heike Schimkat (2020): Frauen im Sozialismus: Generation 1940–1960, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/frauen-im-sozialismus-generation-1940-1960
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Fußnoten

  • 1Nickel, Hildegard Maria / Kopplin, Martin: Ostfrauen-Mythos und Wirklichkeit. Wissenschaftliche Kommentierung der Daten des ALLBUS im Rahmen des Projekts „Ostfrauen“ des Rundfunk Berlin-Brandenburg und des Mitteldeutschen Rundfunks mit Hoferichter & Jacobs Film- und Fernsehproduktionsgesellschaft mbH, Berlin 2019, S. 5, Zugriff am 26.2.2020 unter
    https://www.rbb-online.de/doku/o-r/ostfrauen/pdf2.file.html.
  • 2Vgl. Händler, Ellen / Mitsching-Viertel, Uta: Unerhörte Ostfrauen: Lebensspuren in zwei Systemen, Stuttgart 2019.
  • 3Vgl. Nickel, Hildegard M.: "Mitgestalterinnen des Sozialismus" - Frauenarbeit in der DDR, in: Helwig, Gisela / Nickel, Hildegard Maria (Hg.): Frauen in Deutschland 1945-1992, Bonn 1993, S. 239.
  • 4Vgl. Nickel: Mitgestalterinnen, S. 236.
  • 5Nickel / Kopplin: Ostfrauen, S. 5; Nickel: Mitgestalterinnen, S. 243.
  • 6Ulrich, Renate: Mein Kapital bin ich selber. Gespräche mit Theaterfrauen in Berlin-O 1990/1991, Berlin 1991, S. 79.
  • 7Mocker, Elke / Rüther, Beate / Sauer, Birgit: Frauen- und Familienpolitik: Wie frauenfreundlich war die DDR?, in: Deutschland Archiv, 23. Jg., 1990, H. 11, S. 1700‒1705.
  • 8Gysi, Jutta et.al: Zukunft von Ehe und Familie, Berlin 1990, S. 18.
  • 9Ebenda, S. 13.
  • 10Gysi, Jutta: Frauen in Partnerschaft und Familie. Sozialistisches Leitbild oder patriarchales Relikt?, in: Schwarz, Gislinde / Zenner, Christine (Hg.): Wir wollen mehr als ein "Vaterland", Reinbek bei Hamburg 1990, S. 99.
  • 11Gysi et.al: Zukunft, S. 22; Nickel / Kopplin: Ostfrauen, S. 4.
  • 12Gysi et.al: Zukunft, S. 21; Nickel: Mitgestalterinnen, S. 245 f.
  • 13Gysi: Frauen in Partnerschaft und Familie, S. 95.
  • 14Gysi et al: Zukunft, S. 10.
  • 15Beispielsweise in der dreiteiligen Dokumentation „Ostfrauen - Wege zum Glück, Wege zur Macht, Weg vom Herd“ des Rundfunks Berlin-Brandenburg und des Mitteldeutschen Rundfunks mit der Hoferichter & Jacobs Film- und Fernsehproduktionsgesellschaft mbH; Nickel, Hildegard / Kopplin, Martin: Ostfrauen-Mythos und Wirklichkeit. Wissenschaftliche Kommentierung der Daten des ALLBUS, Berlin 2019.
  • 16Friedrich-Ebert-Stiftung: 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution – Zeit für ein feministisches Update? Diskussion Berlin 11. März 2019; u.a. mit Tanja Brandes; Brandes, Tanja / Decker, Markus: Ostfrauen verändern die Republik, Berlin 2019.

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