Die Grenzen der Selbstbestimmung – Feministische Kritik an Bevölkerungspolitik, Reproduktions- und Gentechnologien in den 1980er Jahren

verfasst von
  • Linda Unger
veröffentlicht 17. April 2023
Was tun, wenn der Wunsch von Frauen nach Selbstbestimmung durch patriarchale Machtinteressen vereinnahmt wird? Einblicke in den Widerstand der Zweiten Frauen/Lesbenbewegung gegen Bevölkerungspolitik, Reproduktions- und Gentechnologien in den 1980ern in Bochum und anderswo.

Frauensolidarität international

In den 1980er-Jahren leistete die Zweite Frauen-/Lesbenbewegung Widerstand gegen Bevölkerungspolitik, Reproduktions- und Gentechnologien – auch im Ruhrgebiet. So entstand 1983 in Bochum die Gruppe ‚Frauen gegen Bevölkerungspolitik‘.
Internationale Bevölkerungspolitik bedeutete die Steuerung von Bevölkerungszahlen in den Ländern der damals so bezeichneten ‚Dritten Welt‘ durch den Westen. In Ländern mit großer Armut sollten Geburtenraten gesenkt werden. Zugang zu Verhütungsmitteln versprach Frauen neue Freiheiten und eine Verbesserung von Lebensbedingungen. Doch ging es weniger um die Not der Menschen in den meist dünn besiedelten Gebieten, sondern um westliche Kontrolle des Gebärverhaltens von Frauen im globalen Süden – um jeden Preis: Gesundheitsschädliche Verhütungsmittel wurden verabreicht, Frauen bekamen ohne ihr Wissen Hormonspritzen, und unter deutscher Beteiligung wurden (Zwangs-)Sterilisationsprogramme durchgeführt.1

Die Frauen/Lesbenbewegung kritisierte die Motive und Grundannahmen der von westlichen Staaten unterstützten Bevölkerungspolitik als rassistisch und sexistisch. Sie fragte: Wer profitiert von diesen Maßnahmen, und wessen Freiheit zählt – die von Männern in Politik und Wirtschaft, oder die der Frauen, in deren Körper eingegriffen wurde?2 In den Frauengruppen wurde intensiv diskutiert über Selbstbestimmung, Leihmutterschaft, ‚künstliche‘ Befruchtung, Lesben und Reproduktionstechnologien3 , Frauen und Behinderungen und Pränataldiagnostik.

Die autonom organisierte Frauen/Lesbenbewegung wies gemeinsam mit Aktivistinnen aus den betroffenen Ländern hin auf die Ausbeutung von (weiblicher) Arbeitskraft und von Frauenkörpern, von Rohstoffen, auf die ungerechte Verteilung von Wohlstand und auf die Auswirkungen des Kolonialismus als eigentliche Ursachen für Armut.4

Janz, Ulrike; Kronauer, Rita: Von der DetailGENauigkeit zur Analyse der Re-Produktion von Herrschaft : Lesben gegen Reproduktions- und Gentechnologien in IHRSINN 1(1990)1
Frauenbuchladen Hamburg: Materialien gegen Bevölkerungspolitik, Hamburg 1984

Fortpflanzungstechnologien und Kontinuität des Nationalsozialismus

Auch in der Bundesrepublik wurde in Prozesse der Fortpflanzung reglementierend eingegriffen, indem Reproduktions- und Gentechnologien weiterentwickelt und angewendet wurden – vor allem an und in Frauenkörpern. Unter Reproduktions- und Gentechnologien versteht man die Entwicklung von Fortpflanzungstechniken und Methoden zur (angeblichen) Vermeidung von Erbkrankheiten und Gendefekten und zur Erfüllung eines Kinderwunsches. Feministische Kritikerinnen stellten eine ähnliche  Herangehensweise wie bei der internationalen Bevölkerungskontrollpolitik fest: Einerseits wurde es Frauen von Gesellschaft und Gesetzgebern erschwert, Abtreibungen selbstbestimmt vornehmen zu lassen. Bestand hingegen nach dem Befund einer Humangenetischen Beratungsstelle nur die geringste Möglichkeit, dass ein Kind ‚behindert‘ zur Welt kam, stand einer Abtreibung plötzlich nichts mehr im Weg. In der westdeutschen Frauen/Lesbenbewegung der 1980er-Jahre sahen viele dies als Grundlage für die Etablierung neuer Auslesetechnologien. Sie zeigten klare Kontinuitäten zur Eugenik im Nationalsozialismus auf, sowohl im Denken als auch konkret im Ursprung der Forschung, die im Nationalsozialismus entwickelt beziehungsweise perfektioniert worden war.5 Statt die Gesellschaft so zu gestalten, dass alle darin Platz haben, statt Behinderungen abzubauen, damit Menschen mit Behinderungen sich mit ihren Fähigkeiten in das gesellschaftliche Leben einbringen können, bot die neue Reproduktionsmedizin potenziellen Gebärerinnen eine falsche Sicherheit. Denn  bei pränataldiagnostischen Untersuchungen können Schäden entstehen und der größte Teil der Behinderungen entsteht durch Unfälle. So bürdet die Reproduktionsmedizin, zu der auch die inzwischen voll ins Gesundheitswesen integrierte Pränataldiagnostik gehört, den zukünftigen Müttern in fahrlässiger Weise eine Verantwortung und letztendlich eine Schuld für ein eventuell behindert geborenes Kind auf.

Feministische Analysen zeigten die Haltung von Ärzten und rechten Politikern als sexistisch, rassistisch und klassistisch: Während arme und nicht-deutsche Frauen ‚zu viele‘ Kinder bekamen – die Dreimonatshormonspritze wurde auch in Deutschland unwissentlich zur Verhütung verabreicht –, wurde deutschen Frauen der Mittelschicht nahegelegt, mehr Kinder zu bekommen, weil es sonst zu wenige von den ‚richtigen‘ und zu viele von den ‚falschen‘ gebe. Die Kritikerinnen prangerten deshalb die teuren Maßnahmen zur Wiederherstellung von Fruchtbarkeit an, inklusive Auslese im Reagenzglas, während andererseits die Ursachen einer zunehmenden Unfruchtbarkeit von der Gesellschaft als gegeben hingenommen wurden: Umweltschäden, Gifte in Wasser, Luft, Boden und Nahrung. Sie forderten: Nicht die Körper von Menschen, vor allem von Frauen, sollten durch Eingriffe an die krankmachenden Umstände angepasst werden, sondern es galt, die gesellschaftlichen Verhältnisse und den destruktiven Umgang mit der Umwelt zu ändern, damit Menschen besser leben können.

Widerstand

Gegen diese Strukturen und Denkweisen leistete eine breite Bewegung von Frauen/Lesben in den 1980er-Jahren Widerstand, bundesweit in Westdeutschland und Westberlin, aber auch international vernetzt.

Als vom 19. bis zum 21. April 1985 der erste Kongress ‚Frauen gegen Gentechnik und Reproduktionstechnik‘ in der Bundeshauptstadt Bonn stattfand, organisiert von Frauen der autonomen Frauenbewegung, dem Kölner Verein Sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis für Frauen und dem AK Frauenpolitik der Grünen, hatten sich in Westdeutschland/Westberlin bereits autonome frauenbewegte Vernetzungsstrukturen gebildet6 . Den Frauen dieser Bewegung war es wichtig, sich mit Frauen aus den von bevölkerungspolitischen Maßnahmen betroffenen Ländern auszutauschen und zusammenzuarbeiten. Es ging ihnen nicht darum, wie man heute sagen würde ‚white saviours‘ zu sein, sondern darum, die Verantwortung der westlichen Welt am Zustand des globalen Südens als Folge der Kolonialherrschaft klar zu benennen. Sie sahen sich als weiße Frauen als Teil dieses unterdrückerischen Systems. Zufällig in diesem Teil der Welt geboren lebten sie auf Kosten der Frauen der ‚Dritten Welt‘. Ihre Privilegien benutzten sie deshalb dazu, Frauen aus dem globalen Süden Plattformen für die Verbreitung von Gegeninformation zur Verfügung zu stellen. So fanden Texte aus verschiedenen Ländern übersetzt ihren Weg in deutsche Veröffentlichungen. Mit FINRRAGE – Feminist International Network of Resistance to Reproductive and Genetic Engineering – wurde ein internationales widerständiges Netzwerk und Medium geschaffen. 

Der feministische Widerstand gegen Bevölkerungspolitik, Reproduktions- und Gentechnologien war von Anfang an anti-sexistisch, anti-rassistisch, anti-klassistisch, anti-ableistisch, und auch anti-heterosexistisch.
Entsprechend war die Zusammenarbeit mit Frauen/Lesben mit Behinderungen ein elementarer Bestandteil der Widerstandsarbeit. Ihre Perspektive und ihre Kritik waren essenziell für die politische Arbeit der Widerstandsbewegung. Die Organisierung der ‚Krüppelfrauen‘, wie sich viele damals selbst bezeichneten, begann 1981 auf dem Hamburger Gesundheitstag, 1982 gründeten sich die ersten autonomen Krüppelfrauengruppen.  Punktuell gab es Bündnisse von autonomen Frauengruppen mit Gruppen behinderter Frauen und Männer.

Zum breiten Spektrum von Denk- und Handlungsansätzen in der Bewegung zählte Aufklärungsarbeit bei Veranstaltungen, Diskussionen über Selbstbestimmung und deren Grenzen  – z.B. mit der provokanten Frage, ob Feministinnen dem Ideal des blonden blauäugigen Jungen das lesbisch-feministische Mädchen als perfektes Wunschkind entgegensetzten7 . Hinzu kamen Aktionen, nicht zuletzt gegen Kundgebungen sogenannter Lebensschützer, deren Botschaften immer offener rassistisch wurden8 , wie zum Beispiel beim sogenannten Sühnegottesdienst mit 1200 Menschen im Münster der damaligen westdeutschen Bundeshauptstadt Bonn 1984 .Während des Gottesdienstes wurde, von einer Zeitschaltuhr gesteuert, das Lied ‚Kann denn Liebe Sünde sein‘ abgespielt. In Hamburg gab es Aktionen gegen Frauenärzte, die ihren Patientinnen ohne deren Zustimmung Verhütungsspritzen gaben, in Düsseldorf fand die ‚Begehung‘ einer humangenetischen Beratungsstelle statt.

Protokoll / Dikussionspapier der Arbeitsgruppe "Mythos Selbstbestimmung", 01.11.1986
"Bewegung für das Leben" - Gegen die Frauen! : Abtreibungsgegner, ihre Ziele, ihre Methoden, ihre Kontakte, ihre Hintergründe, Hannover: Frauen gegen § 218 , 1984
Flugblatt "Frauenbewegung - gegen die Bewegung für das Leben!", Bochum 1986
Tiefe Einblicke : Dokumentation und Hintergründe zu den Hausdurchsuchungen 18.12.87 und zu den Verhaftungen, Bochum: Frauenbuchladen , 1987

Die Gruppe ‚Rote Zora‘ hinterfragte das Bild der von Natur aus friedliebenden Frau. Die Not von Frauen war für sie Grund genug, nicht allein auf langwierige politische Entscheidungsprozesse zu setzen, sondern bestehenden Forderungen mit Anschlägen gegen Sachen Nachdruck zu verleihen.9 Diese Art von Gegenwehr dieser verhältnismäßig kleinen Gruppierung wurde von staatlicher Seite zum Anlass genommen, die gesamte Widerstandsszene zu überwachen. Es kam 1987 im Genarchiv Essen, in Städten des Ruhrgebiets sowie in Hamburg und Köln zu Hausdurchsuchungen, Festnahmen, Beugehaft und Gefängnisstrafen für zwei Aktivistinnen. Vorgeworfen wurde ihnen ‚Unterstützung einer terroristischen Vereinigung‘ nach §129a StGB, obgleich durch die Aktionen der Roten Zora nie ein Mensch zu Schaden kam.10

Die Frauenwiderstandsbewegung reagierte auf die staatlichen Repressionen 1988 mit einem internationalen, von 2000 Frauen besuchten Kongress, dem 2. Kongress der Frauen gegen Gen- und Reproduktionstechnologien in Frankfurt/M, wo Frauen aus Lateinamerika, Indien, Namibia, den USA und Spanien Vorträge hielten und Arbeitsgruppen leiteten11 .

Frauen gegen Gen- und Reproduktionstechnologien : Beiträge vom 2. bundesweiten Kongreß Frankfurt, 28. - 30. 10. 1988. Begleitheft

Der Widerstand der Frauen- und Lesbenbewegung gegen Reproduktions- und Gentechnologien ist vielen heute nicht mehr bekannt12   – es gibt noch viel Quellenmaterial auszuwerten. Er hat jedoch nachhaltige Erfolge erzielt: Gesetzliche Regelungen für Genforschung und Reproduktionstechnologien (Stammzellenforschung, Klonen) sind in Deutschland deutlich strenger als im internationalen Vergleich, und der vermeintliche Fortschritt bewegt sich langsamer. Nicht zuletzt, weil Feministinnen mehr als ein Jahrzehnt lang immer wieder die Frage gestellt haben, für wen die Errungenschaften der Reproduktions- und Gentechnologien tatsächlich ein Gewinn sind und sich konsequent an die Seite derer gestellt haben, für die sie eben keinen Fortschritt bedeuten. 

Stand: 17. April 2023
Lizenz (Text)
Verfasst von
Linda Unger

Jahrgang 1978, studierte British Cultural Studies, Irish Studies, Neuere Geschichte und Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum und der University of Liverpool (Abschluss Magistra Artium). Heute leitet sie im Frauenarchiv ausZeiten die Bochumer Frauenstadtrundgänge (dt.& engl.), arbeitet im Buchhandel und ist freie Aktivismusberaterin und -begleiterin.

Empfohlene Zitierweise
Linda Unger (2023): Die Grenzen der Selbstbestimmung – Feministische Kritik an Bevölkerungspolitik, Reproduktions- und Gentechnologien in den 1980er Jahren, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/die-grenzen-der-selbstbestimmung
Zuletzt besucht am: 26.04.2024
Lizenz: CC BY-SA 4.0
Rechteangabe

Fußnoten

  • 1Doyal, Lesley / Pennell, Imogen: Den Tod verhindern – ohne das Leben zu verbessern. Zum Widerspruch imperialistischer Medizin in der Dritten Welt, Frankfurt a.M. 1982.
  • 2Frauenselbstverteidigung (Hg.): Die lautlose Waffe der Imperialisten. Zwangsterilisation, Familienplanung in der „Dritten Welt“ und hier, Hamburg 1982.
  • 3Janz, Ulrike / Kronauer, Rita: Von der DetailGENauigkeit zur Analyse der Re-Produktion von Herrschaft. Lesben gegen Reproduktions- und Gentechnologien, in: IHRSINN 1/1990, S. 66-86.
  • 4Frauenbuchladen Hamburg (Hg.): Materialien gegen Bevölkerungspolitik, Hamburg 1984.
  • 5Gruppe Frauen gegen Bevölkerungspolitik (Hg.): Beiträge zur Veranstaltung „Humangenetische Beratung und pränatale Diagnostik als Bevölkerungspolitisches Instrument gegen Frauen“, Bochum 1987.
  • 6DIE GRÜNEN im Bundestag / AK Frauenpolitik & Sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis für Frauen e.V., Köln (Hg.): Frauen gegen Gentechnik und Reproduktionstechnik. Dokumentation zum Kongreß vom 19.-21.4.1985 in Bonn, Köln 1986.
  • 7Gespräch mit RK, Bochum, 29.03.2023
  • 8Frauen gegen § 218 (Hg.): „Bewegung für das Leben“ - Gegen die Frauen! Betr.: Abtreibungsgegner. Ihre Ziele, ihre Methoden, ihre Kontakte, ihre Hintergründe, Hannover 1984.
  • 9Film „Bildet Banden!“: Las Otras – FrauenLesben Film Collectif http://www.lasotras.de/roteZ.htm Zugriff  17. April 2023 und Karcher, Katharina: Sisters in Arms. Militanter Feminismus in Westdeutschland seit 1968, Hamburg 2018 und 2023, siehe auch: https://www.assoziation-a.de/buch/Sisters_in_Arms Zugriff 17. April 2023
  • 10Frauenbuchladen Bochum (Hg.): Tiefe Einblicke. Dokumentation und Hintergründe zu den Hausdurchsuchungen 18.12.87 und zu den Verhaftungen, Bochum 1987. 
  • 11Bradish, Paula et al. (Hg.): Frauen gegen Gen- und Reproduktionstechnologie. Beiträge vom 2. Bundesweiten Kongreß, Frankfurt a.M. 28.-30.10.1988, München 1989.
  • 12Hier wird das Thema aufgegriffen, aber ohne Verweis auf den feministischen Widerstand: Matthews, Dylan und Pinkerton, Byrd: “The time of vasectomy”: How American foundations fueled a terrible atrocity in India, 05. Juni 2019 https://www.vox.com/future-perfect/2019/6/5/18629801/emergency-in-india-1975-indira-gandhi-sterilization-ford-foundation Zugriff 17. April 2023

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