„Es ist viel zusammengewachsen“

Mit ihrem Buch Von Muttis und Emanzen (1995) analysierten die Journalistinnen Gislinde Schwarz und Ulrike Helwerth Frauenbewegungen im Umbruch. Im Gespräch blicken sie auf ihr Ost-West-Projekt zurück und schlagen den Bogen zu feministischen Kämpfen heute.

Bock: Anfang der 1990er Jahre habt ihr hautnah aus unterschiedlichen Perspektiven das Aufeinandertreffen der ost- und westdeutschen Frauenbewegung begleitet. Ihr wart beide auf der Gründungsveranstaltung des Unabhängigen Frauenverbandes (UFV) und auf dem ersten Ost-West-Frauenkongress. Wann seid ihr euch begegnet und wie kam es zu dem Buchprojekt Von Muttis und Emanzen. Feministinnen ind Ost- und Westdeutschland?

Helwerth: Ich hatte seit 1988 als Frauenredakteurin der taz die Frauenbewegung in der DDR begleitet, hatte Kontakte zu Frauen- und Lesbengruppen dort. Diese Kontakte intensivierten sich nach dem Mauerfall; ich war nahe dran am Entstehen und an der Gründung des UFV und kannte viele seiner Protagonistinnen. Ich war damals vielleicht die bestinformierte „Wessi“, was den Feminismus in der DDR betraf. Und als ich später die taz verließ, wollte ich mich professionell intensiver mit diesen Differenzen zwischen Feministinnen aus dem Osten und dem Westen befassen. Das damalige Frauenforschungsförderprogramm des Berliner Senats machte es möglich. Und natürlich wollte ich das Projekt mit einer Kollegin aus der DDR machen. Ich kannte Gislinde von vielen Frauenveranstaltungen, bei denen wir uns immer wieder getroffen hatten. Ich weiß nicht mehr, wer oder was uns letztlich zusammenbrachte. Auf jeden Fall passte das mit uns beiden gut.

Schwarz: Du hast mich angesprochen. Und ich wusste gleich: Da wäre ich gern dabei.

Bock: Für das Projekt habt ihr über 30 Frauen aus Ost und West interviewt und darüber die Konfliktlinien erarbeitet und analysiert. Wie habt ihr an dem Konzept gearbeitet? Gestaltete sich diese Zusammenarbeit auch als eine Art Ost-West-Auseinandersetzung?

Helwerth: Unsere Interviewpartnerinnen sollten halbe-habe aus dem Osten und dem Westen kommen. Wir kannten damals den Begriff Intersektionalität noch nicht. Aber wir wollten innerhalb des doch engen Spektrums der Feministinnen eine möglichst große Bandbreite an Lebensrealitäten abbilden, was Alter, Lebensweise, sexuelle Identität, kulturellen oder religiösen Hintergrund und so weiter betraf. Wir haben mehr Frauen interviewt, als wir letztlich hinterher ausgewertet haben. Und wir sind quer durch die alten und neuen Länder für unsere Gespräche gereist.

Schwarz: Wir haben gemeinsam die Fragen überlegt. Es war fast von Anfang an klar, dass die Ostfrau, also ich, die Westfrauen befragt und die andere dann immer die Nachfragerin ist und umgekehrt. Das sorgte für viel Spannung – im wahrsten Sinne des Wortes.

Kiupel: Ihr seid beide Journalistinnen, professionell ausgebildet. Von Muttis und Emanzen war euer erstes gemeinsames Projekt. Waren in Eurer Zusammenarbeit Unterschiede zwischen Ost- und West-Traditionen journalistischer Ausbildung und Arbeit spürbar, etwa was Recherche, Sprache und Themensetzung betraf?

Schwarz: Für mich bedeutete die Maueröffnung, dass ich endlich den Journalismus machen konnte, den ich immer wollte. In diesem Sinne habe ich keine Unterschiede gesehen. Für mich war immer eine gute Recherche wichtig. Ich gehöre auch zu denen, die sagen: Es gibt keinen objektiven Journalismus und dessen muss frau sich bewusst sein. Das habe ich auch schon zu DDR-Zeiten so gesehen. Es hat mich höchstens mal erschrocken, wenn West-Kolleg*innen glaubten, dass das geht.

Helwerth: Nein, Objektivität war nie ein Kriterium für mich, Sorgfaltspflicht und Wahrheitstreue schon. Und wir haben für unsere nicht-repräsentative Studie Anleihen bei der sozialwissenschaftlichen Biografieforschung genommen, uns fortgebildet in Sachen offene Interviewführung und hermeneutische Auswertung von Erzählungen. Das ging über Journalismus schon hinaus. Ich bin ursprünglich Soziologin und habe später ein Aufbaustudium im Journalismus gemacht. Ich bin zum Journalismus über die Frauenbewegung gekommen. Mein erster feministischer Schreibimpuls kam aus Begegnungen mit Frauenrechtlerinnen und Feministinnen in Lateinamerika. Die taz gab mir eine erste Bühne dafür. Ich hatte nie ein Problem mit parteilicher oder engagierter Berichterstattung. Als Frauenredakteurinnen der taz wurden wir öfter für unseren Betroffenheitsjournalismus von oben herab behandelt. Das war natürlich kränkend.

Schwarz: Ich glaube, das Ost-West-Problem hat es zwischen uns nicht gegeben. Wir sind beide als professionelle Journalistinnen rangegangen. Es gab einen Unterschied, weil wir Ulrike und Gislinde sind. Wenn Ulrike das Buch gemacht hätte, wäre es wissenschaftlicher geworden. Und wenn ich es gemacht hätte, wäre es sicherlich noch ein bisschen journalistischer geworden. Aber das hatte nichts mit Ost-West zu tun, sondern mit der Frage: Wie soll das Produkt aussehen? Und da haben wir wirklich gemeinsam nachgedacht: Wie finden wir einen Mittelweg zwischen guter Lesbarkeit und wissenschaftlichem Hintergrund? Ich kann mich nicht erinnern, dass wir uns deshalb wirklich mal gezofft hätten, nur dass wir sehr viel gemeinsam drüber nachgedacht haben.

Helwerth: Wir haben unsere Persönlichkeiten. Wir haben schon manchmal gerungen in diesen mehr als zwei Jahren sehr intensiver Zusammenarbeit.

Schwarz: Klar.

Helwerth: Ich habe unser Buch jetzt nach langer Zeit noch mal zur Hand genommen und ein bisschen darin herumgelesen. Ich finde es von der Sprache, aber auch von den Erkenntnissen bzw. Erklärungen der Problemlagen her immer noch erstaunlich spannend und gut. Und es gibt stilistisch keine Brüche. Ich könnte heute nicht mehr sagen, wer von uns beiden welches Kapitel geschrieben hat. Denn wir hatten die Schreibarbeit untereinander aufgeteilt, jede hat also unterschiedliche Kapitel entworfen.

Bock: Wie war die Resonanz auf das Buch? Woher kamen die meisten Reaktionen? Aus Ost oder West?

Helwerth: Die Resonanz hielt sich in Grenzen. Es gab Rezensionen und die meisten waren positiv. Wir waren damals froh, überhaupt einen Verlag gefunden zu haben, der das Projekt mit uns machen wollte. Aber die Betreuung des Buches bzw. seine Vermarktung waren sehr bescheiden. Heute würde da sicherlich mehr Marketing betrieben.

Schwarz: Wir haben zu diesem Thema aber auch eine Menge Vorträge gemacht und die waren immer gut besucht – egal ob in Ost oder West. Die Einladungen reichten bis ins Goethe-Haus nach New York. Dabei sind immer hoch spannende Diskussionen entstanden.

Bock: Euer Buch ist Mitte der 1990er Jahre herausgekommen. Inwieweit hat sich die Auseinandersetzung über das Ost-West-Frauenthema im Vergleich zu den Diskussionen in Jahr 1990 unterschieden?

Helwerth: Das Buch war oft eine Grundlage, auf der dann selbst diskutiert wurde. Oft als Bestätigung mitunter auch ein: „Nein, das habe ich anders erlebt.“ Aber die meisten haben sich darin wiedergefunden.

Schwarz: Genau, eher ein: „Danke, dass ihr das mal so aufgeschrieben habt.“ Denn zu der Zeit war das immer noch so ein bisschen wie ein Tabuthema. „Wir sind doch Frauen und wir müssten doch miteinander können.“ Und gleichzeitig konnten wir halt nicht miteinander.

Helwerth: Viele haben sich an dem Titel gestoßen. Aber der Titel war nicht unsere Idee. Bei uns lief das Projekt die ganze Zeit unter dem Titel Fremde Schwestern, und dieser Titel ging dann nicht mehr, weil in der gleichen Verlagsreihe bereits eine Textsammlung Stiefschwestern erschienen war. Von Muttis und Emanzen war eine Entscheidung des Verlags.

Schwarz: Der Verlag meinte, dass er verkaufsträchtiger sei. Wir haben uns beide erstmal dagegen verwahrt. Aber wir hatten auch keine bessere Idee. Unser Baby hieß Fremde Schwestern und diesen Titel fanden wir perfekt.

Helwerth: Aber heute, finde ich, bringt Von Muttis und Emanzen einfach diesen Hauptkonflikt von damals auf den Punkt.

Schwarz: Im Nachhinein kann ich auch damit leben. Damals konnte ich es nicht. Ich hatte Angst, dass mit diesem Titel die Differenzen verstärkt werden und das wollten wir beide nicht.

Bock: Gislinde, du hattest vorhin gesagt, dass der Ost-West-Konflikt unter den Frauen ein Tabuthema war. Hat dies auch dazu geführt, dass vor allem gegen Ende der 1990er Jahre die Diskussion über das Verhältnis zwischen Ost und West abgeebbt ist?

Schwarz: Es ist ja dann erstmal die gesamte Frauenbewegung abgeebbt. Und von der Warte aus spielte, glaube ich, der Ost-West-Konflikt dann nicht mehr solch eine Rolle. Wir haben uns in Alltagskämpfen verloren. Wir Ostfrauen hatten damit zu tun, in dieser neuen Gesellschaft Fuß zu fassen. Und viele Frauen im Westen waren enttäuscht, dass der von uns erhoffte Input nicht gekommen war. Die Kämpfe schienen ausgekämpft. Ende der 90er Jahre waren beide Seiten einfach müde.

Helwerth: Die 90er Jahre, vor allem die zweite Hälfte, erinnere ich als dumpf. Wir haben 1994 den Frauenstreik versucht. Der hat zwar viel Arbeit gemacht und auch was auf die Straße gebracht, aber die Beteiligung blieb natürlich unter allen Erwartungen. Parallel lief die Diskussion „Frauen in bester Verfassung“ auch mit sehr magerem Ergebnis. Obwohl dieser Zusatz in Artikel 3 Absatz 2 natürlich großartiger ist, als wir es damals gesehen haben. Damals waren wir enttäuscht, weil viele unserer gemeinsamen Vorstellungen und Forderungen unter den Tisch gefallen waren. Der Paragraf 218 wurde festgeschrieben. 1997 wurde Vergewaltigung in der Ehe ein Straftatbestand. Ein großer Erfolg für ein parteienübergreifendes Frauenbündnis. Frauen aus Ost und West saßen dann schon zusammen im Bundestag, in den Fraktionen. Wir hatten eine sehr reaktionäre Frauen- und Familienpolitik damals. Auch Angela Merkel hat sich in ihrer kurzen Amtszeit als Bundesfrauenministerin wirklich keinen Ruf erworben. Erst Ende der 90er Jahre mit Christine Bergmann als Bundesfrauenministerin wurde es wieder besser. Aber Feministinnen hörten in dieser ganzen Zeit ja nicht auf, dort, wo sie professionell und politisch aktiv waren, trotzdem ihre Brötchen zu backen, auch wenn die eher klein waren.

Schwarz: Gerade, weil es so eine Zeit der frauenpolitischen Lähmung war, konnten wir auch langsamer aufeinander zugehen. Dieser Ost-West-Konflikt spielte dann nicht mehr diese Rolle. Es gab nicht mehr die großen Kämpfe. Es war ein langsames Zusammenwachsen von ganz unten, soweit das halt möglich war und ist.

Bock: Sind Ost- und West-Frauenbewegung zusammengewachsen, wie manche behaupten? Und woran würdet ihr diese Einheit festmachen?

Schwarz: Ja, ich denke, es ist viel zusammengewachsen. Es gibt keine eigene Ost-Frauenbewegung mehr. Und doch erlebe ich immer noch Differenzen. Wir sind unterschiedlich geprägt und das lässt sich in unserer Generation nicht verleugnen, sondern nur thematisieren. Und das halte ich auch weiterhin für wichtig.

Helwerth: Die damaligen Prioritäten der Ost-Frauenbewegung sind inzwischen die Prioritäten der gesamtdeutschen Frauenbewegung geworden, nämlich die Mutterschaft mit der Berufstätigkeit zu vereinbaren und die Kinderbetreuung außerhalb der Familie zu organisieren. Keiner hinterfragt mehr, ob die Kinder in staatlichen oder privaten Einrichtungen schlechter aufgezogen werden als von der liebenden Mutter daheim. Kitas haben heute obere Priorität in der Familienpolitik. Oder das Thema, dass Frauen existenzsichernd erwerbstätig sein wollen oder müssen, weil ein Ehemann keine Rentenversicherung ist und dass Teilzeit in die Armutsfalle führt. Also diese ,Errungenschaften‘, die uns die Frauen in der DDR als Selbstverständlichkeit voraushatten, die sind in der gesamtdeutschen gesellschaftlichen Realität längst angekommen, auch wenn sie nicht ausreichend umgesetzt sind.

Schwarz: Du hast völlig recht. Gerade jetzt in der Corona-Diskussion ist das deutlich zu spüren. Da wird beispielsweise von allen Seiten klar gefordert, dass die Kinder unbedingt wieder in die Kita gehen müssen, weil sie dort Gemeinschaft erleben und gefördert werden.

Helwerth: Jetzt, wo die sogenannten systemrelevanten Berufe so hochgehalten und mit Applaus überschüttet werden, kommt aber auch krasser als vorher zum Vorschein, wie unterbezahlt das weibliche Arbeitsvermögen ist, wie minderwertig es im wahrsten Sinne des Wortes erachtet wird. Und das ist unser nächster Kampf: Wir kommen nicht aus dieser Krise heraus, ohne die Systemfrage zu stellen: Warum ist Arbeit an der Maschine wertvoller als Arbeit am Menschen? Und wenn sich hier nicht grundsätzlich etwas ändert in der Anerkennung von Sorgearbeit und ihrer angemessenen Bezahlung, dann kriegt ihr es wirklich mit uns zu tun. Das sollten wir uns in die Hand versprechen – egal ob Ost oder West.

Stand: 11. Mai 2020
Verfasst von
Jessica Bock, Birgit Kiupel

 

Ulrike Helwerth ist Diplom-Soziologin und Journalistin. Seit 2001 arbeitet sie beim Deutschen Frauenrat als Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit und seit 2015 auch als Referentin für internationale Gleichstellungspolitik. Sie vertritt den DF in der European Women’s Lobby und arbeitet zu Europa-, Integrations- und Migrationspolitik. Davor war sie zunächst Redakteurin bei der Tageszeitung taz, später freie Journalistin und Autorin für Print, Hörfunk und Buchverlage. Von 1992 bis 1994 war sie Stipendiatin des Förderprogrammes Frauenforschung des Berliner Senats für Arbeit und Frauen. Von 1999 bis 2005 war sie Vorsitzende des Journalistinnenbundes.

Gislinde Schwarz arbeitet als freiberufliche Journalistin und führt mit einer weiteren Kollegin seit 1991 das Journalistinnenbüro Berlin. In der DDR war sie Redakteurin und stellv. Ressortleiterin bei der Frauenzeitschrift Für Dich sowie Mitgründerin des Unabhängigen Frauenverbandes der DDR im Dezember 1989. Von 1992 bis 1994 war sie Stipendiatin des Förderprogrammes Frauenforschung des Berliner Senats für Arbeit und Frauen. Gislinde Schwarz ist Mitglied des Journalistinnenbundes und war dort von 1991 bis 1993 Vorstandsmitglied.

Jessica Bock ist wissenschaftliche Mitarbeiterin beim DDF im Bereich neue und ostdeutsche Frauenbewegung. Sie promovierte zur ostdeutschen Frauenbewegung von 1980 bis 2000 am Beispiel Leipzigs an der TU Dresden.

Birgit Kiupel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin beim DDF mit Schwerpunkt erste Frauenbewegung. Ihre Promotion von 2008 hat den Titel Zwischen Krieg, Liebe und Ehe. Studien zur Konstruktion von Geschlecht und Liebe in den Libretti der Hamburger Gänsemarkt-Oper.

Empfohlene Zitierweise
Jessica Bock, Birgit Kiupel (2020): „Es ist viel zusammengewachsen“, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/angebote/dossiers/30-jahre-geteilter-feminismus/es-ist-viel-zusammengewachsen
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