„Eine Zeit sozialer Benachteiligung“

Der Frauenreport ‘90 wurde von Dr. Marina Grasse beauftragt, erste und einzige Gleichstellungsbeauftragte der DDR-Regierung. Im DDF-Gespräch berichtet sie über Herausforderungen ihrer Arbeit und die drastischen Folgen der Einheit für ostdeutsche Frauen.

DDF: Der Frauenreport ’90 ist ein einmaliges frauen- und gleichstellungspolitisches Dokument. Wie ist er entstanden?   

Marina Grasse: Der Entstehungsprozess ist eng damit verbunden, dass ich im Mai 1990 als Gleichstellungsbeauftragte der Regierung berufen wurde, auf Vorschlag der SPD, obwohl ich keiner Partei angehörte. Mein Amt habe ich am 9. Mai angetreten und wollte mir zunächst einen Überblick verschaffen. Ich brauchte eine Handlungsgrundlage für meine Tätigkeit, von der ich damals noch nicht wusste, dass sie zeitlich so kurz sein würde. Wie war die Situation von Frauen in der DDR, auch in Bezug auf die Gleichstellung von Frauen und Männern? Dafür brauchte es Material, um eine Strategie entwickeln zu können. Das war die Idee zum Frauenreport ’90. Als Partner habe ich das Institut für Soziologie und Sozialpolitik (ISS) gewählt, geleitet von Gunnar Winkler. Der Auftrag ging Ende Mai, Anfang Juni raus. Dann zog sich die Arbeit daran allerdings hin, weil Kapitel für Kapitel nach Bonn zum Ministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, geleitet von Prof. Ursula Lehr, geschickt wurde. Im sogenannten Spiegelministerium musste alles abgesegnet werden. 

Was bedeutete das in der Praxis? 

Ich bekam die einzelnen Kapitel rot angestrichen zurück, wie in der Schule, mit Bemerkungen, oft mit Streichungen. Das musste vom Institut umgearbeitet werden, bevor es erneut verschickt wurde. Der fertige Frauenreport kam dann erst Ende September aus dem Druck. Am 2. Oktober war mein letzter Arbeitstag. 

Warum brauchte es die Zustimmung aus Bonn?

Weil wir uns bereits im Prozess der Vereinigung befanden und die Gelder, die ich zur Verfügung hatte, aus Bonn kamen. Das DDR-Ministerium für Familie und Frauen, in das ich eingegliedert wurde, hatte sein federführendes Ministerium in Bonn. Was hier entschieden wurde, politisch und budgetrelevant, musste Bonn genehmigen. Ich hatte auch einen ,Berater‘, ein Unterabteilungsleiter aus dem Bonner Ministerium, der mir als Staatssekretärin zur Seite gestellt wurde. Als Ende September die Druckexemplare des Frauenreports im Ministerium angeliefert worden waren, teilte er mir unter vier Augen mit, dass Exemplare, die nach dem 3. Oktober noch im Ministerium lagern, im Reißwolf landen würden. Meine Mitarbeiterin Tinka Wolf und ich haben dann mithilfe von Freunden in einer Nacht- und Nebelaktion so viele Frauenreporte wie möglich aus dem Ministerium geholt, noch jahrelang in unseren Wohnungen aufbewahrt und verteilt.

Die Arbeit war also mit großen Hindernissen verbunden. 

Wenn die federführende Entscheidung nicht dort liegt, wo die Verantwortung liegen sollte, dann ist das eine Einschränkung. Als Gleichstellungsbeauftragte der Regierung war ich auch nicht an den Verhandlungen zur Währungs- und Sozialunion, geschweige denn dem Einigungsvertrag beteiligt. Es gab zwar in den Ländern der Bundesrepublik schon Gleichstellungsbeauftragte, aber nicht auf Ebene der Bundesregierung. Das war wirklich ein Novum in der DDR. Allerdings ohne Hinterland, also ohne wirkliche Unterstützung seitens des Ministerrats oder der einzelnen Fachministerien – hier allerdings mit Ausnahme des von Regine Hildebrandt geleiteten Ministeriums für Arbeit und Soziales. Gleich nach den Wahlen im März 1990 haben die Beitrittsverhandlungen begonnen. Da rutschte das Thema Frauen und Gleichstellung auf der politischen Agenda ganz nach hinten, wie generell in patriarchalen Gesellschaften nicht anders zu erwarten war, insbesondere wenn konservative Kräfte am Ruder sind. Erst Ende Juni war geklärt, welche Kompetenzen mit meinem Amt überhaupt verbunden waren. In unserem kleinen Arbeitsstab mit 5 Mitarbeiterinnen haben wir gemacht, was wir konnten. Aber die Aktionsmöglichkeiten waren durch den enormen Zeitdruck der Verhandlungen sehr begrenzt. Erschwerend kam hinzu, dass die SPD am 19. August aus der Regierung austrat und damit die konservativen Parteien allein die Verhandlungen weiterführten. 

Wie war die Resonanz auf den Report?  

Von einer direkten Resonanz kann ich kaum sprechen. Bevor er überhaupt verteilt werden konnte, war ich schon nicht mehr im Amt. Die Bundesregierung hatte klargemacht, dass sie kein Interesse an der Fortsetzung der Tätigkeit einer Gleichstellungsbeauftragten der Regierung hat. Später wurde ich immer wieder gefragt, ob es noch Ausgaben gibt. Viele Exemplare sind an Bibliotheken gegangen. Das Interesse war da, weil der Frauenreport eine solide Übersicht über die Situation der Frauen in der DDR bot. Dennoch hätten wir Vieles besser machen können, wenn wir mehr Zeit und Geld gehabt hätten. Da die DDR nicht mehr existierte, stellte der Frauenreport auch keine Handlungsgrundlage mehr für ihre weitere Gestaltung dar. Erst viel später wurden Ansätze wieder aufgenommen, allerdings ohne sich auf die DDR als Vorbild zu beziehen: wie die Frage der Ganztagsbetreuung von Klein-, Vorschul- und Schulkindern, einer Grundsicherung, des Elternurlaubs nach Geburt von Kindern. 1990 hätte man das Sinnvolle und Gute von beiden Seiten nehmen können. Da es aber nicht um einen Vereinigungsprozess ging, sondern um den Beitritt der DDR zur BRD, musste zunächst alles, was in der DDR war, erstmal verschwinden und seinen Schmuddelgeruch verlieren. Erst Jahre später sind einige Themen als Eckpfeiler einer Gleichstellungspolitik erneut aufgetaucht. 

Abgebildet ist Marina Beyer, heute Marina Grasse
Frauenpolitischer Rat Land Brandenburg / Simone Ahrend / sah-photo.de
Marina Beyer (heute Marina Grasse), Beauftragte für die Gleichstellung von Männern und Frauen im Ministerium für Frauen und Familie der DDR

Worin siehst du heute Bedeutung und Auftrag des Reports?  

Eine Politik, die auf Geschlechtergerechtigkeit abzielt, ist eine Querschnittsaufgabe. Das war aus dem Frauenreport gut abzulesen. Es ist keine Frage ausgeglichener Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, Frauen- und Familienpolitik oder Finanz- und Wirtschaftspolitik, sondern betrifft alle Politikfelder. Das ist bis heute nicht der Fall. Gerade in Corona-Zeiten ist zu sehen, dass das Grundproblem der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in bezahlte und unbezahlte oder gut und schlecht bezahlte Arbeit nicht nur in der DDR, sondern auch in der BRD nicht gelöst wurde. Wenn jetzt von der Unterstützung systemrelevanter beruflicher Tätigkeiten die Rede ist, finde ich das interessant. Was ist systemrelevant? Gesundheit, Pflege und Bildung. Was sind das für Berufe? Das sind die Bereiche, in denen vor allem Frauen tätig sind, schlechter bezahlte, schlecht organisierte, zum Teil privatisierte Bereiche, traditionelle Frauenerwerbsbereiche. Ich bin gespannt, ob es ein Umdenken gibt.

Im Report heißt es, Frauen hatten im neuen System eindeutig schlechtere Startchancen. 

Ja, das hat sich dann auch gezeigt. Wobei hier differenziert werden muss. Die ostdeutsche Wirtschaft, die sowieso schon am Limit war, brach ‘89/‘90 völlig zusammen. Nicht nur ganze Industrien, auch Verwaltung und Wissenschaftsbereich brachen weg. Damit gingen enorm viele Arbeitsplätze und eine soziale Infrastruktur verloren, die bis dahin für selbstverständlich, wenn auch verbesserungswürdig gehalten wurde. Frauen im mittleren Lebensalter, Alleinerziehende verloren oft zuerst ihren Arbeitsplatz. Eine wichtige Rolle spielten die berufliche Qualifikation, die jeweilige familiäre Situation und auch der Wohnsitz, ob Großstadt, Kleinstadt, ländliche Gemeinde und wie sich die dortige Beschäftigtenstruktur nach 1990 veränderte. Wo die gesamte Infrastruktur zusammengebrochen war und es nichts Neues gab, hatten Frauen einfach sehr schlechte Karten. Es gab hoch qualifizierte Wissenschaftlerinnen in der DDR, die auch nach 1990 Optionen hatten, und es gab solche, die in der bundesdeutschen Wissenschaftslandschaft keine Chancen mehr bekamen.

Was folgte damit aus der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion für Frauen aus der DDR?

Es gab eine deutliche geschlechtsspezifische Tendenz in der Langzeitarbeitslosigkeit. Auffällig war hier ein Generationeneffekt: Frauen, die um 1990 fünfzig Jahre alt waren und aus ihrem Erwerbsleben flogen, hatten wenig Chancen zum Wiedereinstieg. Auch arbeitslose Frauen mit Kindern hatten große Schwierigkeiten, eine neue Beschäftigung zu finden. Viele Kinderbetreuungseinrichtungen brachen weg und arbeitslos gewordene Mütter verloren das Recht auf einen Betreuungsplatz ihrer Kinder, was bedeutete, dass sie auf dem Arbeitsmarkt in besonderer Weise benachteiligt waren.  Zudem gab es eine Entwertung erworbener beruflicher Qualifikationen, weil es bestimmte Berufsabschlüsse im Westen gar nicht gab. Auch das betraf sehr viele Frauen. Es gab eine Zeit sozialer Benachteiligung. Vor allem Rentnerinnen – die Renten in der DDR waren sowieso sehr niedrig –, Alleinerziehende, geschiedene Frauen gerieten in die Armutsfalle. Im Westen galt ja bis 1990 noch das patriarchale Modell der auch steuerlich bevorzugten Alleinverdienerehe. Frauen galten allenfalls als Zuverdienerinnen. In der DDR waren dagegen fast alle Frauen, unabhängig des Familienstands, erwerbstätig, was auch mit ökonomischer Unabhängigkeit vom Einkommen des jeweiligen Partners verbunden war. Diese hohe Erwerbsneigung ostdeutscher Frauen galt es, nach dem Beitritt bis auf das Westniveau zu reduzieren, was zum Glück bis heute nicht gelungen ist.

Du sprichst von einem Generationeneffekt. Wie sind spätere Generationen betroffen? 

Für die junge ostdeutsche Frauengeneration, die ab Ende der 70er oder 80er Jahre geboren wurde, spielen die Umbrüche der 90er Jahre nicht mehr so eine bedeutsame Rolle. Das ist nicht die Erlebnisgeneration, die 1990 in der Berufsausbildung oder im Erwerbsleben stand. 1990 war es der Schock. Heute erfahren junge ost- und westdeutsche Frauen geschlechterspezifische Benachteiligungen. Allerdings mit Blick auf Zugangsmöglichkeiten zu Führungspositionen spielt es selbst für die junge, nach den 80er Jahren geborene Generation noch immer eine erhebliche Rolle, ob jemand aus einem ost- oder westdeutschen Bundesland kommt. 

Gab es Unterstützung seitens der Frauenbewegungen?

Ja, es gab Solidarität, Unterstützung und gemeinsame Interessen. Die kulminierten in der Debatte um die zukünftige Gesetzgebung zur Schwangerschaftsunterbrechung, also der Beibehaltung der DDR-Fristenlösung oder Übernahme des bundesdeutschen § 218. Seit den späten 60er Jahren gab es in Westdeutschland eine breite Frauenbewegung gegen den §218. Auch Teile der SPD und Grünen unterstützten die Übernahme der Fristenlösung, teils sogar die CDU, wenn auch schattenhaft. In Bereichen wie Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik gab es ebenso Unterstützung auf politischer Ebene und seitens der Gewerkschaften, die allerdings dank der damaligen Machtverhältnisse in der Regierung unter Bundeskanzler Kohl und des Tempos der Beitrittsverhandlungen kaum durchsetzungsfähig war. In der DDR gab es in den 80er Jahren autonome und friedensbewegte Frauengruppen. Eine breite Frauenbewegung bildete sich aber erst Ende ’89 heraus, auch im Zusammenhang mit der Gründung des Unabhängigen Frauenverbandes. Das war die kurze Zeit vom Herbst 1989 bis zu den Volkskammerwahlen im März ‘90, in der es noch um die Neugestaltung einer geschlechtergerechten, demokratischen und sozialistischen DDR ging. Danach hatten sich die Träume von einer erneuerten und erneuerbaren DDR erledigt. Von da an galt es, zumindest einige strukturelle Voraussetzungen für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu erhalten.

Wie ist dein Blick auf heutige Frauenbewegungen? 

Da bin ich eher zurückhaltend. Ich sehe heute keine Frauenbewegung, ich sehe viele Frauenprojekte. Ich bin inzwischen 70 Jahre und nicht mehr hautnah dran. Bis sich eine Frauenbewegung als politische Kraft findet und organisiert, das dauert. Das weiß man auch aus der Bundesrepublik oder Westeuropa. Die Zeit gab es in der DDR gar nicht. In der Bundesrepublik hatte in den 80ern schon eine Institutionalisierung der Frauenbewegung und -politik stattgefunden: Es gab die kommunalen Gleichstellungsbeauftragten und die Projektebewegung. Die Frauenbewegung hatte sich in eine schier unübersichtliche Anzahl und Ausprägung von Frauenprojekten aufgesplittet. In DDR und Ostdeutschland wurde das westdeutsche Modell der Gleichstellungsbeauftragten und die Projektelandschaft, was ja auch lange brauchte, um sich herauszubilden, dann sofort implantiert, ohne dass eine Bewegung, die auch eine Entwicklung von emanzipatorischem Bewusstsein bedeutet, damit hätte verbunden sein können. Die Beauftragten auf den Gleichstellungstellen wussten oft zunächst genauso wenig wie ich, als ich berufen wurde, was sie machen sollten und konnten. Es gäbe heute für eine feministische Bewegung sehr viele Gründe, sich öffentlich und lautstark für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung natürlicher Ressourcen sowohl in Deutschland als auch global zu artikulieren.

Eine Projektelandschaft als Produkt der Frauenbewegungen: Welche Rolle spielt dabei heute noch das Ost-West-Verhältnis? 

In dieser Projektelandschaft hat es natürlich einen Generationswechsel gegeben. Meine Generation ist sozusagen kaum noch vertreten. Mein Eindruck ist, dass sich die Ausrichtung der heutigen Frauenprojekte eher an den regionalen Gegebenheiten und spezifischen Interessen der jeweiligen Akteurinnen und deren Umfeld orientiert. Das Ost-West-Thema spielt keine vorrangige Rolle mehr. 

Für das DDF führten Dr. Jessica Bock und Steff Urgast das Interview. 

Ein Interview mit Katrin Wolf, stellvertretende Geschäftsführung der filia Frauenstiftung und 1990 persönliche Referentin von Dr. Marina Grasse, erscheint im September 2020. 

Dr. Marina Grasse, früher Beyer, ist 1950 in Berlin geboren und lebt in Berlin. Bis 1990 arbeitet sie als Verhaltensbiologin an der Berliner Humboldt-Universität. Seit Anfang der 80er Jahre engagierte sie sich in der Friedensbewegung der DDR. Auch im vereinigten Deutschland ist sie weiterhin aktiv mit dem Pankower Friedenskreis verbunden. Vom Mai bis zum 2. Oktober 1990 war sie Gleichstellungsbeauftragte der ersten und letzten frei gewählten DDR-Regierung. 1992 gründete sie zusammen mit Katrin Wolf, Frauen aus dem Pankower Friedenskreis und anderen Mitstreiterinnen das Ost-West-Europäischen FrauenNetzwerk OWEN e.V., wo sie bis zu ihrem Renteneintritt 2014 tätig war. Von 1994 bis 2003  war sie im Vorstand und von 2006 bis 2009 im Stiftungsrat der Stiftung Nord-Süd-Brücken. 

Stand: 01. Juli 2020
Verfasst von
Dr. Jessica Bock und Steff Urgast

Mitarbeiter*innen im Digitalen Deutschen Frauenarchiv

Empfohlene Zitierweise
Dr. Jessica Bock und Steff Urgast (2020): „Eine Zeit sozialer Benachteiligung“, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/angebote/dossiers/30-jahre-geteilter-feminismus/eine-zeit-sozialer-benachteiligung
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