„Lasst euch nicht aufspalten“
DDF: Du bist Teil des Gründungsteams. Vor welchem Hintergrund ist das Bündnis entstanden?
Dr. Ines Scheibe: Wir sind vier Frauen, die die Initiative gegründet haben. Dazu gehören Gisela Notz als Frauenhistorikerin, die auch den Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen vertritt; Karin Bergdoll, die lange Zeit auf Senatsebene im Bereich Gewalt gegen Frauen und vor allem für den Arbeitskreis Frauengesundheit gearbeitet hat; Sybill Schulz, ehemalige Geschäftsführerin des Familienplanungszentrums und aktiv im Netzwerk Frauengesundheit Berlin; und ich, damals Beratungsstellenleiterin und Psychologin auch in einer Schwangerschaftskonfliktberatung beim Humanistischen Verband in Ost-Berlin.
Ich bin weltliche Humanistin – und das war auch mein Antrieb. Die Haltung der Frauen in meiner Beratung hatte sich stetig verändert. 2000 fing es an, ab 2006 wurde es massiv. Zunehmend kamen Frauen, die von religiösen Ideen und Begriffen beeinflusst waren. „Darf ich mein Kind denn töten?“, hieß es da. Mit der Gentrifizierung wandelte sich auch das Beratungspublikum im Bezirk. Es wurde durchschnittlich älter, wohlhabender und war weniger ostdeutsch sozialisiert. Und einige suchten auch nicht zufällig eine Beraterin ohne Konfessionshintergrund auf. Sie fragten eher, wie den Eltern eröffnet werden könne, eben nicht heiraten oder die Kinder taufen lassen zu wollen. Religiosität und Säkularisierung – diese Polarisierung haben wir vier deutlich bemerkt.
2001 gründete sich dann der Bundesverband Lebensrecht und initiierte ab dem Folgejahr die 1000-Kreuze-Märsche. Ab 2008 fanden sie als ,Marsch für das Leben‘ jährlich statt, waren zunächst mäßig besucht. Als sich damalige BundespolitikerInnen, darunter Annette Schavan (CDU), mit Grußreden beteiligten und mehr und mehr TeilnehmerInnen von der Katholischen Kirche aus dem ganzen Bundesgebiet und auch aus Polen mit Bussen angekarrt wurden, wussten wir: Spätestens jetzt ist es an der Zeit zu handeln.
Heute seid ihr ein bundesweit aktives Bündnis. Was waren eure ersten Schritte?
2009 haben wir begonnen, nach Partner*innen zu schauen und eine Veranstaltung im Berliner Roten Rathaus organisiert, aus der der Band „Die neue Radikalität der Abtreibungsgegner_innen im internationalen (Raum). Ist die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen heute in Gefahr?“ hervorging. Ersten Zuspruch erhielten wir von Projekten, die selbst für eine selbstbestimmte Sexualität eintreten, wie der LSVD, die Aids-Hilfe oder auch andere Frauenzentren. Selbstbestimmt zu leben – auch in Liebes- und Familienplanungsfragen: Das war und ist uns wichtig. Darüber haben wir auch eine gute Netzwerkstruktur aufbauen können.
Die offizielle Gründung folgte mit der Bündniserklärung 2012, die auch andere Organisationen unterzeichnet haben. Die Bündniserklärung ist dabei nicht starr, sondern wird immer wieder angepasst. Jüngst haben wir darin den Aspekt der nicht-binären Beziehungen und Transsexualität gestärkt.
Angefangen haben wir als Berliner Initiative. Die Prozesse und Debatten um den § 219 haben wir ab 2018 auch zivilgesellschaftlich breit über Kampagnen begleitet, mit vielen Akteur*innen und Bündnissen wie Frauenärzt*innen oder den Medical Students for Choice. Es haben sich viele regionale Gruppen gegründet wie in Münster, Hamburg, Rostock oder Passau. Durch die intensive – und leider noch immer ehrenamtliche – Arbeit vieler Aktivist*innen ist der Abbruch und wie er in Deutschland geregelt ist nun auch gesellschaftlich angekommen.
Wer ist Teil des Bündnisses?
Fast 50 Organisationen sind im Bündnis, von lokalen Frauenzentren bis zu Bundesorganisationen. Zuspruch kommt auch verstärkt von Parteien und Gewerkschaften. Dazu kommen ganz viele Einzelaktivist*innen, die sich einbringen, von Social Media bis kreativer Kampagnenarbeit. Wir sind sehr dankbar, dass das Bündnis von der jungen Generation so wahrgenommen wird. Das ist die Hauptzielgruppe – und die Generation, die es massiv betrifft. Natürlich interessiert es auch Frauen der Zweiten Frauenbewegung, sie sind früher schon auf die Straßen gegangen und haben Busse in die Niederlande organisiert.
Im Berliner Bündnis sind auch die irischen und polnischen Frauen stark vertreten, mit Dziewuchy Berlin oder Ciocia Basia, einer Organisation, die ganz praktische Hilfe organisiert, arbeiten wir schon länger zusammen. Gerade als in Argentinien in den letzten zwei Jahren so viel los war, hatten wir auch engeren Kontakt zu lateinamerikanischen Frauen, mit ihnen sind wir weiter verbunden und unterstützen uns gegenseitig.
Und das ist auch unsere Erkenntnis, aus den Dingen die in der Frauengeschichte verankert ist: Lasst euch nicht aufspalten. Geht gemeinsam die Dinge an, das ist wichtig. Man kann in einzelnen Punkten unterschiedliche Haltungen haben. Aber was die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen anbetrifft, da sollten wir im Bündnis und in Kooperationen geschlossen auftreten.
Wie konnte sich die Pro-Life-Bewegung so breit etablieren?
Ich sehe dafür zwei Gründe. Zunächst – und das ist ein Grund – wurden Aktivitäten wie die des Bundesverbandes Lebensrecht unterschätzt. Nicht nur in Deutschland, in ganz Europa wurden solche Märsche durchgeführt. Zeitgleich kam es zu kleineren Aktivitäten, sogenannte Gehsteigberatungen und Mahnwachen, Gottesdienste oder auch Briefverschickungen mit kleinen Embryos. Auch die internationale Vernetzung der Abtreibungsgegner wurde immer aktiver. Wir haben das durchaus auch bundesweit gespürt.
Und der zweite Grund: Das Thema war 1995 mit der Verabschiedung des Gesetzes, wie es in Gesamtdeutschland geregelt werden soll, kein politisches Thema mehr. Alle haben sich damit irgendwie arrangiert. Es war Ruhe in der Kiste. Um die Jahrtausendwende kam der medikamentöse Schwangerschaftsabbruch nach Deutschland und hat für etwas Aufruhr gesorgt. Aber es waren hier vor allem die Berater*innen, die Ärzt*innen, die sich dafür interessiert und es in die Beratung eingebracht haben. Das ist nicht in der Gesellschaft angekommen.
Als es still um das Thema war, haben Anti-Choice-Kräfte ihre Strukturen etablieren können. Ein aufgeklärter Vertreter der evangelischen Kirche hat auf einer Tagung von 2010 neben der Katholischen Kirche bereits auf die steigende Einflussnahme evangelikaler Kräfte hingewiesen. Sie seien es, die zu Marschaufrufen kommen, als Juristinnen oder Ärztinnen für Lebensrecht gut vernetzt sind und Organisationen gegründet haben.
Welche Rolle kommt hier politischen Parteien zu?
Die Märsche sind das eine. Was in Parlamenten an Anträgen kommt, ist das andere. Nicht unbedingt christlich geprägte, aber konservative und national gesinnte Positionen sind zunehmend in die Parlamente gezogen und wurden spätestens mit der AfD angeblich salonfähig. Diese Kräfte unterstützen die Märsche. Und in genau diese Richtung geht es aktuell: Was auf den Märschen gefordert wird, wird in den Parlamenten von der AfD in Form von Anträgen eingebracht. Das ist eine große Gefährdung aller Errungenschaften in Richtung Gleichstellung. Insofern ist unser Thema natürlich ganz eng verbunden mit Antifeminismus. Im größeren Rahmen finden diese Prozesse und Anträge auch auf EU-Ebene statt, werden jedoch bisher von aufgeklärten Ländern noch abgeschmettert.
Insofern sehen wir uns als Teil einer breiten, internationalen, feministischen Pro-Choice-Bewegung. In unserer Gründungszeit ging es ja gerade auch in Portugal oder Spanien hoch her mir der Gesetzgebung. Die Entwicklungen in erzkatholischen Ländern wie Irland oder Argentinien machen Mut. Ich denke, bei uns war es lange relativ ruhig, und jetzt ist die Zeit, dass sich auch etwas bei uns tun muss.
Hat sich die öffentliche Wahrnehmung mit den Debatten um den § 219a verändert?
Nach 2000 waren Ärzt*innen zunehmend im Internet präsent und haben dort ganz selbstverständlich Schwangerschaftsabbrüche als eine Gesundheitsleistung aufgelistet, auch viele Ärzt*innen aus dem Ostteil. Sie wurden dann von dem ,Lebensschutz‘ nahestehenden Menschen angezeigt. 2008 ging es massiv los, auch pro familia hat Anzeigen bekommen und viele Ärzt*innen.
Die Folgen habe ich konkret in der Beratung mitbekommen. Krankenhäuser und Ärzt*innen hatten bisher öffentlich über ihr Leistungsspektrum informiert, das war plötzlich weg. Auch die Situation der Spätabbrüche hat sich ab 2012/13 stark verschlechtert. Ich sehe das auch immer aus der Sicht einer Beraterin: Was passiert mit den Frauen, die in solch große Not kommen? Für diese Frauen war kaum ein Termin zu bekommen.
Und dann kam 2017 die mutige Haltung der Ärztin Kristina Hänel, die nicht nur Revision um Revision sondern 2021 gegen den § 219a StGB auch eine Verfassungsbeschwerde eingereicht hat. Sie und ihre Petition unterstützen wir sehr. Und der § 219a ist die Ungerechtigkeit par excellence. Ich glaube, das geht durch die gesamte Bevölkerung – die Debatten haben Menschen für das Thema emotionalisiert. Männer, Frauen, Konservative, politische Mitte oder Linke – alle waren sich ziemlich einig: Im Internetzeitalter geht das nicht. Ärzt*innen sollte nicht verwehrt werden, sachliche Informationen zu geben. Dazu sind sie auch verpflichtet. Der § 219a ist überholt.
Aktuell gibt es auch wieder eine Anklage gegen den Frauenarzt Dr. Joachim Merchel im Münsterland, der auch wegen Verstoßes gegen § 219a angeklagt ist, obwohl er ganz sachliche Informationen veröffentlicht hat, die nichts mit Werbung für Schwangerschaftsabbrüche zu tun haben. Es geht eben weiter, es ist nicht erledigt.
Eure aktuelle Kampagne heißt „150 Jahre Widerstand – Es reicht!“ – die Forderung ist eindeutig.
Ja, der Titel ist eine Kampfansage. Ein wichtiger Teil der Kampagne ist unsere Petition von change.org, zur Abschaffung des § 218, die wir massenhaft bewerben und im Herbst an die neue Politik übergeben möchten. Frauen haben immer, wenn sie keine Kinder wollten, Wege gefunden, aber sie haben das häufig mit ihrer Frauengesundheit bezahlt, manchmal mit dem Leben. Und das sind Zustände, die wir auf keinen Fall wieder wollen. Die Gefahr ist aber immer da.
Aufklärung und Enttabuisierung – das ist die Aufgabe der Kampagne. Dazu haben wir die Seite Mein Abbruch eingerichtet, die über Schwangerschaftsabbrüche berichtet. Hier erzählen wir unsere Geschichten zum Schwangerschaftsabbruch, das können Berater*innen sein, betroffene Frauen oder Ärzt*innen. Es ist so wichtig, dieses Tabu wegzunehmen. Für Schwangerschaftsabbrüche muss sich niemand schämen, genauso wenig wie dafür, schwanger zu sein.
Im Rahmen der Kampagne gibt es auch viele Aktivitäten, wie den bundesweiten Aktionstag am 15. Mai, dem Tag an dem 1871 das Reichsverfassungsgesetz mit dem § 218 verabschiedet wurde. Da das Thema lange nicht in der großen Öffentlichkeit war, ist auch das Wissen verschwunden, dass Schwangerschaftsabbrüche überhaupt eine Straftat sind. Damit verbunden ist, das zum Thema nicht aus- oder fortgebildet wird, es kaum Forschungsgegenstand ist. Wir erforschen das Weltall, aber nicht die wichtige Frage, wie Frauen gut eine Schwangerschaft beenden können? Wir fordern, dass Abtreibungen als Gesundheitsleistung übernommen werden und die Stigmatisierung der Ärzt*innen aufhören muss, selbstverständlich gehört das Thema in die medizinische Ausbildung und es braucht den Zugang zum medikamentösen Abbruch.
Uns ist es gut gelungen, die Sexualaufklärung bei jungen Menschen zu verbessern. Da müssen wir dranbleiben. Das ist immer ein Dreiklang: Wie es um Schwangerschaftsabbrüche steht, sagt auch etwas über den Aufklärungsstand der Sexualpädagogik und Verhütung. Verhütung soll nicht vom Geldbeutel abhängen, sondern Krankenkassenleistung sein. Das sind die wichtigsten Kernforderungen, die wir in Vorbereitung auf die Wahlen an die Parteien stellen.
Wir brauchen gesellschaftlich neue Abmachungen. Abmachungen, die auch internationalen Standards entsprechen. Deutschland wird immer wieder abgemahnt, gerade wegen der Pflichtberatungen und dreitägigen Bedenkzeit. Internationale Organisationen stellen regelmäßig Anfragen bei der Bundesregierung, die immer wieder im Schattenbericht der UNO zur Überprüfung der Frauenrechte auftauchen.
Die Kampagne läuft noch bis zum Ende des Jahres. Am 28. September wird es zum internationalen Safe Abortion Day wieder bundesweite Aktivitäten geben. Dies liegt 10 Tage nach unserem Berliner Aktionstag gegen den `Marsch für das Leben`. Aber vielleicht gibt es den Marsch auch irgendwann nicht mehr. Seine Teilnehmerinnenzahlen haben stark abgenommen in den letzten Jahren.
Warum ist jetzt der Moment für Veränderung gekommen?
Die Jugend engagiert sich zunehmend für Klimaschutz und -gerechtigkeit. Unser Schwerpunkt sind Menschenrechte, im Besonderen die Rechte von Frauen und allen gebärfähigen Menschen. Diese Themen gehören zusammen. Es sind viele junge Leute da und auch noch die Frauen aus der zweiten Frauenbewegung, deren Grundforderungen teils bis heute noch nicht umgesetzt wurden.
Die Umstände, vor denen die Frauenfrage heutzutage diskutiert wird, sind aber andere: Die Kräfteverhältnisse haben sich verschoben. Inwieweit sollten Staat und Kirche Einfluss auf das individuelle Leben nehmen können – und hier vor allem über die Körper von Frauen bestimmen? Für unsere jungen Mitaktivist*innen passt dieses Modell nicht mehr in unsere Zeit. Es gab mehr Kirchenaustritte, die Bevölkerung ist in den letzten 25 bis 30 Jahren säkularer geworden. Die Chance, jetzt noch Veränderungen zu bewirken, halte ich für größer, als in fünf bis zehn Jahren, denn niemand weiß, wohin die gesellschaftliche Entwicklung führen wird.
Unsere Aufgabe ist es, jetzt zu informieren. Das ist auch Ziel der Kampagne wegmit218.de und macht das Thema hochaktuell. Wie viele Generationen von Frauen wurden in 150 Jahren durch dieses Gesetzt kriminalisiert, wie viele Jahre sollen wir das noch ertragen?
Das Digitale Deutsche Frauenarchiv unterstützt die Kampagne „150 Jahre Widerstand gegen § 218 – Es reicht!“ und den gleichnamigen Aufruf zur Abschaffung des § 218 aus dem Strafgesetzbuch.
- Dr. Ines Scheibe
- Digitales Deutsches Frauenarchiv
- CC BY 4.0