Aktivismus in der Grauzone

Als Gründerin des Netzwerkes Ciosia Basia unterstützt sie dabei, polnische Frauen den Schwangerschaftsabbruch in Deutschland zu ermöglichen. Die Autorin, Dokumentarfilmerin und Aktivistin Sarah Diehl im DDF-Interview.

Seit über 15 Jahren arbeitest du zum Thema reproduktive Selbstbestimmungsrechte von Frauen. Was hat dich zu diesem Thema gebracht? 

Als ich anfing, mich damit zu beschäftigen, war das Thema, zumindest in Deutschland, nicht mehr so präsent. Hier wurde sich zu dem Zeitpunkt verstärkt mit Queerness beschäftigt. Und damals wusste man, glaube ich, noch nicht so genau, wie das zusammengedacht werden kann, weil Abtreibung und Schwangerschaft mit Mutterschaft mit einer essentialistischen Vorstellung von Weiblichkeit verbunden schienen. Mittlerweile konnte sich Queerness auch die Schwangerschaft aneignen und wir reden auch von Personen mit Uterus oder Personen, die schwanger werden können, aber es war doch ein langer Weg dahin. 

Mein Engagement begann allerdings mit einer Zahl: 78.000 Frauen sterben jedes Jahr an einer selbstgemachten Abtreibung weltweit. Und ich habe damals Gender Studies und Afrikawissenschaften studiert und in den sechs Jahren des Studiums noch nie diese Zahl gehört. Dadurch wurde mir überhaupt erst klar, was für ein riesiges Problem das Abtreibungsverbot weltweit noch immer ist. Aber auch wie unsichtbar es ist.

Du kritisierst dafür die machtvollen Verwobenheiten von Kapital und Kirche. Was steht dahinter? 

In Ländern, in denen die Frauenemanzipation in den 1960/70er Jahren einen Schub erhalten sollte, wurde weltweit der Embryo wiederentdeckt. Wenn es eigentlich um die Selbstbestimmung der Frau gehen sollte, wird stattdessen über das ungeborene Leben gesprochen. Diese religiöse Rhetorik soll das eigentliche Problem verschleiern: Wie steht es um die Selbstbestimmung von Frauen und wer soll all seine Kapazitäten aufbringen, sich um Kinder zu kümmern? Was hat das für Konsequenzen für Familien, für Rechte, für Ökonomie, für Care Arbeit? 

Ich spreche von Frauen und schwangeren Personen. Ich denke, beides sollte benutzt werden, zum einen Frau als politischer, - nicht als biologischer - Begriff, denn es sollte sichtbar bleiben, wie zentral und manipulativ es im Patriarchat ist, dass unsere Vorstellung von Weiblichkeit mit selbstloser Care-Arbeit verknüpft wurde, dass also weiterhin von Frauen verlangt wird. Zudem möchte ich für Menschen, die nicht studiert haben, verständlich bleiben. Gleichzeit kann man von Person mit Uterus, bzw. schwangere Person sprechen, eben um die gegenderte Sichtweise zu durchbrechen. Ich finde es bedauerlich, wenn die Verwendung dieser Begriffe gegeneinander ausgespielt werden.

Über den Embryo allerdings kaufen Politik und Kirche sozusagen die Diskreditierung der weiblichen Selbstbestimmung wieder ein, sie ist sozusagen gefährlich für den Embryo und muss deshalb entrechtet werden. Zudem dient dies dazu, sich als verantwortungsbewusst und in gewisser Weise für die Menschenrechte einsetzend zu generieren. Da kreiert man aus einem Embryo, was kein Bewusstsein oder Schmerzempfinden hat und auch noch weit davon entfernt ist, ein Rechtssubjekt, um der Frau ihre Rechte wegzunehmen. Auf sowas Verrücktes kann wirklich nur das Patriarchat kommen. 

Diese Rhetorik entfremdet Frauen auch von ihren Körpern und ihrer Erfahrung. Es geht nicht um ihre wahren Bedürfnisse, sondern nur um eine Romantisierung ihres Zustandes, die die Frau mundtot macht, wie es ihr wirklich geht. Die Stigmatisierung von weiblicher Sexualität und Schwangerschaft, Mutterschaft und eben auch Abtreibung muss zusammen gedacht werden. Und Geburt und Abtreibung zusammengedacht werden und nicht gegeneinander ausgespielt werden, damit Frauen damit selbstbestimmt damit umgehen können. 

Deine Auseinandersetzung blieb nicht theoretisch. Du hast die Situation in Polen und Südafrika genauer betrachtet und in einem Dokumentarfilm festgehalten. 

Der Vergleich ist interessant, weil beide Länder Mitte der 1990er Jahre, ihre Abtreibungsgesetze verändert haben: Polen hat illegalisiert, Südafrika legalisiert. Ich wollte wissen, warum diese Staaten die Gesetze ändern und welche Effekte das auf die Leben von Frauen hat, deshalb bin ich mit der Handkamera losgezogen. Viele Leute waren davon sehr angetan, dass sich mal jemand mit dem Thema beschäftigt. Deswegen habe ich vor Ort auch immer schnell Kontakte knüpfen können. 

In Südafrika wurden nach der Apartheid viele Gesetze von der neuen Regierung unter Mandela untersucht, inwieweit die sich diskriminierend auf die Bevölkerung auswirkten. In diesem Demokratisierungsprozess wurden auch Frauenorganisationen angehört, die die bestehenden Gesetze zur Frauengesundheit kritisierten, da gerade arme Schwarze Frauen unter Restriktionen wie dem Abtreibungsverbot litten. Diese Gesetze – Restriktionen um Frauengesundheit, gegen Homosexualität, gegen Abtreibung – stammten aus der Kolonialzeit. Das sind auch Ideologien, die dann durch den aufstrebenden Katholizismus oder evangelikale Kirchen gestärkt wurden. 

So wurde tatsächlich eines der liberalsten Gesetze der Welt in Südafrika etabliert. Heute kann man bis zum dritten Monat abtreiben. Es gibt keine Wartefrist, keine Zwangsberatung, alles ist kostenfrei. Auch minderjährige Mädchen brauchen nicht die Einwilligung der Eltern. Das ist gerade in einem katholischen Land wichtig, in dem sie für eine ungewollte Schwangerschaft aus Familien verbannt werden können. Leider wissen die meisten Frauen nicht, dass das legal ist und auch bezahlt wird, und trauen sich noch nicht einmal, in den Kliniken danach zu fragen bzw. wird es vom Klinikpersonal verschwiegen. So ist die Anzahl illegaler Abtreibungen paradoxerweise immer noch sehr hoch. 

In Polen ist im Grunde genau das Umgekehrte passiert. Auch hier hat ein Demokratisierungsprozess stattgefunden, der aber nicht zu der Emanzipation der Frau führte, sondern zu einer Verkirchlichung. Im Tausch zur Sicherung der Unterstützung der Kirche wurden seitens der Regierung politisch die Frauenrechte aufgegeben und Abtreibungen illegalisiert. Heute ist es fast unsagbar geworden, sich für Abtreibung einzusetzen. 

In der Folge hast du 2015 die Organisation Ciosia Basia gegründet. Was war dein Ansatz?

Durch den Film habe ich viele tollen Frauen kennengelernt, die in der internationalen Pro Choice-Bewegung aktiv sind. Das habe ich zum Anlass genommen, eine Gruppe zu gründen, die polnischen Frauen hilft. Die Verbindung zu Berlin ist nah und ich kannte hier schon einige polnische Aktivist*innen. Mich hat eigentlich immer nur interessiert: Was braucht die Frau und wie kriegen wir das hin? Gespräche mit Beratungen von pro familia und balance haben mich dann bestärkt. Sie meinten zu ihnen kämen bereits viele polnische Frauen, eine helfende Struktur wäre hier sinnvoll. Seitdem war es ein Learning by Doing. Und noch heute ist Ciocia Bacia extrem unhierarchisch organisiert, alle machen eigentlich alles. Nach sieben Jahren mache ich aktuell einmal eine Pause. 

Es bestehen mittlerweile auch gute internationale Netzwerke wie Abortion without Borders, in denen auch Ciocia Basia organisiert ist. In Großbritannien gibt es das Abortion Support Network, in den Niederlanden das Abortion Network Amsterdam. Wir schauen immer, wo kommt die Anfrage her und die Frau am besten hin. Wer kann wohin reisen, wer hat wofür Geld, welche Prozedur braucht die Frau, in welchem Monat oder Woche ist sie? Es ist mittlerweile eine ziemlich gute Organisation, allerding unbezahlt und selbst organisiert – und notwendig. Gerade wenn es um internationalen Abtreibungs-Aktivismus geht, muss noch viel in der Grauzone stattfinden, da die Rechtslagen auch in Europa doch vieles verhindern, statt Zugang zu Abtreibung zu ermöglichen. 

Was verhindert die aktuelle Gesetzeslage in Deutschland? 

Gerade in Deutschland verhindert das Gesetz ganz klar eine gute Information. Bei Ciocia Basia, erhalten wir aber auch viele Anfragen aus Deutschland. Viele Frauen wissen einfach nicht, wo sie Informationen herbekommen oder denken, das sei alles so kompliziert und fragen uns daher, ob wir ihnen helfen können. Das ist nicht selten. Die weltweite Organisation Women on Web hat einmal gesagt, dass sie im Monat 20 Anfragen aus Deutschland bekommen. 

Die Frauen wissen daher auch nicht, welche Methoden es in Deutschland gibt. Es gibt ja die besagte Abtreibungspille und die Absaugung, unverständlicherweise auch noch die Ausschabung, denn das ist wirklich eine veraltete Methode, die nicht mehr durchgeführt werden sollte. Das Thema Abtreibung ist in Deutschland so dermaßen vernachlässigt worden, dass es keine klaren Richtlinien oder Fortbildungen für Ärzt*innen gibt, damit zum Beispiel Ausschabung, wenn sie nicht notwendig ist, verboten wird. 

Die Wahl der Methode ist deshalb so wichtig, weil es das Erleben des gesamten Prozess verändert. Bei der Absaugung bist du im Grunde in einer viertel Stunde durch. Da gibt es eine sehr leichte Narkose und ein paar Minuten später ist das erledigt und musstest nichts mitbekommen. Bei der Abtreibungspille dauert der eigentliche Abtreibungsprozess ungefähr vier Stunden, wobei eine leichte Blutung auch noch eine Woche anhalten kann. Du hast im Grunde eine Blutung, die stärker sein kann als eine Menstruation. Frauen realisieren dann meist, dass eine Abtreibung der Menstruation sehr ähnlich ist, was den Blick auf das Thema komplett verändern und destigmatisieren kann. Nur etwa 30 Prozent der Gynäkolog*innen, die Abtreibungen anbieten, bieten auch die Pille an. Da gibt es echt noch Aufholbedarf.

Problematisch ist auch die Beratungspflicht, die der Frau und der Gesellschaft vermittelt, dass die Frau sich rechtfertigen muss, als sei ihre Schwangerschaft ein öffentliches Gut. In keiner sonstigen medizinischen Prozedur gibt es so etwas wie eine Beratungspflicht, mit Wartefrist und dergleichen. Ein breites und kostenfreies Beratungsangebot durch Ärzt*innen wäre wichtig, aber eben freiwillig. Die Idee, wirklich selbst entscheiden zu dürfen, wird mit der Beratungspflicht gekappt.

Es braucht also das aktivistische Wissen auch im öffentlichen Diskurs? 

Obwohl es so ein intimer Prozess ist, würde keine Frau darauf kommen, dass sie eine Abtreibung ebenso selbstbestimmt gestalten sollte wie eine Geburt, weil das medizinische System ihr gar keine Gelegenheit dazu gibt. Und dann wird auch noch gesagt, wie du dich in dieser Situation zu fühlen hast. Dabei ist die Abtreibungspille revolutionär. Sie ermöglicht es Frauen, diesen Prozess selbst zu gestalten, fördert ein Umdenken und rettet tausenden von Frauenleben weltweit. Mittlerweile, ist die Anzahl der Frauen, die jedes Jahr an illegalen Abtreibungen sterben, auf 47.000 gesunken, auch die WHO vermutet, dass dies dank der Abtreibungspille ist.

Durch den Austausch, das Reden über Abtreibung kommt ganz viel in Bewegung. Neben der individuellen Bewusstwerdung entstehen neue Organisationsformen von Frauen. Das Erfahrungswissen durch Frauensolidarität und Aktivismus, der auch in der Grauzone betrieben wurde, findet neue Formen, generiert neue Erfahrungen und Wissen, wird in Studien dokumentiert, die dann wiederum positive Rückwirkungen auf internationale Institutionen der Medizin wie die Weltgesundheitsorganisation haben. 

Scham- und Schuldgefühle, Tabu, Stigma und Angst brechen auf, wenn Frauen erzählen, was sie alles aushalten müssen. Das ist Wissen, das in der Illegalität, in selbstorganisierten und unbezahlten Strukturen kreiert und mittlerweile legalisiert wurde, wie zum Beispiel in Kanada, wo nun Ärzt*innen die Abtreibungspille nach telemedizinischer Konsultation per Post verschicken können.

Was ich dramatisch finde und in diesem Aktivismus immer wieder erlebt habe, ist diese wahnsinnige Isolation. Ganz emotional gesprochen: Was mein Herz am meisten belastet hat, war wirklich zu verstehen, dass wir eine ganze Kultur gebaut haben, die die Frau in dem Moment alleine lässt, in dem sie die meiste Hilfe braucht. Im Katholizismus, im Kapitalismus, in der Ideologie der Kleinfamilie passiert genau das, die Frau wird alleine gelassen und kann keine Hilfe suchen, wenn sie am meisten Hilfe braucht. Nämlich wenn sie schwanger wird. Das ist ein Armutszeugnis für unsere westliche Gesellschaft. 

Warum bleibt die politische Veränderung in Deutschland so hartnäckig aus? 

Ich denke, es besteht eine riesige Angst, dass die Ressource der unbezahlten Fürsorgearbeit wegbricht, wenn Frauen mehr Selbstbestimmung erhalten. Konservative Regierungen bauen darauf, dass die Frau sich schon um alle kümmert, um die Kinder, um den Ehemann, um die Alten. Und das alles selbstlos, unbezahlt und eben unsichtbar. Ohne diese Ressource ist auch eine 40-Stunden-Woche gar nicht möglich. Lohnarbeit und Kleinfamilie ist ja total verzahnt miteinander. Unser wirtschaftliches System funktioniert nicht ohne die unbezahlte Fürsorgearbeit der Frau. 

Leider internalisieren Frauen das und Mutterschaft ist Teil der Leistungsgesellschaft und der weiblichen Erfolgsbiografie geworden. Dies sollen die Frauen, unabhängig von ihren Lebensumständen möglichst problemlos schaffen. Auch das Kind wird zum Projekt, was perfekt funktionieren muss, um weitere Leistungsträger für die Lohnarbeit zu kreieren. Ich bin über das Thema Abtreibung daher zum Thema soziale Elternschaft gekommen. Wir wollen in Gemeinschaft leben, aber wir müssen das eben neu organisieren, unabhängig von alten Strukturen.

Du beschreibst, dass in Deutschland das Problem bereits bei der Informationengabe beginnt.

In Deutschland ist noch so viel Aufklärungsarbeit nötig. Mit Blick auf den § 219 ist Frankreich wirklich Vorbild. Wenn Frauen keine Informationen bekommen, müssen sie trotzdem nach ihr suchen. Sie finden sie dann im Internet auf den Seiten von Abtreibungsgegnern. Und das ist in Deutschland auch ein riesiges Problem. Frankreich hat seit ein paar Jahren ein Gesetz, womit sie Falschinformationen, die Abtreibungsgegner im Internet verbreiten, verbieten. Diese Seiten von Abtreibungsgegnern kann man sozusagen anzeigen, wenn da steht Abtreibung mache „unfruchtbar“ oder sei „die Ursache für Krebs und Depressionen“. So sollte das laufen, wenn es um Informationen geht, und nicht wie derzeit in Deutschland, wo wissenschaftliche Information den Frauen vorenthalten wird. 

Was unterstützt euch in der Arbeit von Ciocia Basia? 

Eine Abtreibung kostet 300 bis 400 Euro, dazu kommen Reisekosten. Mittlerweile haben wir so zwei, drei Frauen in der Woche. Wobei die meisten Frauen wirklich alles zusammenkratzen, was sie haben, damit sie nicht auf unser Geld zurückgreifen müssen. Private Spenden an Ciocia Basia helfen sehr viel weiter. Was wir neben dem Geld immer brauchen, sind Polnisch-Übersetzerinnen und Unterkünfte, sodass die Frauen auch einmal in Berlin übernachte können, gern bei Menschen, die auch Polnisch sprechen. Das wäre natürlich perfekt. Und jeder Fall ist zeitaufwendig, da die Frauen auch in die Klinik begleitet werden. Die Anfragen sind nochmal stark gestiegen, seit Ciocia Basia in den letzten Monaten noch bekannter geworden ist – und immer mehr Frauen sprechen auch kein Englisch. Das heißt, wir erreichen mittlerweile nicht nur die Studentinnen in Warschau, sondern auch Leute, die vom Dorf kommen und an der Supermarktkasse arbeiten. Auch das ist ein Erfolg.

Stand: 17. Mai 2021
Lizenz (Text)
Verfasst von
Sarah Diehl

geb. 1978, ist Kulturwissenschaftlerin, Autorin, Dokumentarfilmerin und Aktivistin. Sie hat das Netzwerk Ciocia Basia mitbegründet. Sie arbeitet seit über 15 Jahren zum Thema reproduktive Rechte von Frauen. Erschienen sind u.a. der Dokumentarfilm „Abortion Democracy – Poland/South Africa“ (2008) über die Veränderungen in den Abtreibungsgesetzen in Südafrika und Polen oder das Sachbuch „Die Uhr, die nicht tickt“ (2014), eine Analyse über gewollte Kinderlosigkeit von Frauen. 

Empfohlene Zitierweise
Sarah Diehl (2021): Aktivismus in der Grauzone, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/angebote/dossiers/218-und-die-frauenbewegung/aktivismus-in-der-grauzone
Zuletzt besucht am: 26.04.2024
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