150 Jahre sind genug. Plädoyer für einen Abschied vom § 218
Im Zuge der Wiedervereinigung wurde die Diskussion um den § 218 im Jahr 1990 noch einmal aufgenommen. Am 16. Juni 1990 demonstrierten in Bonn über 10.000 Menschen für und etwa 3.000 gegen die ersatzlose Streichung des § 218. Es folgten heftige öffentliche Debatten über die künftige Regelung des Schwangerschaftsabbruchs und die entsprechenden Formulierungen im Einigungsvertrag. Die Hoffnung frauenpolitischer Organisationen und vieler Frauen, vor allem aus der DDR, erfüllte sich nicht. Sie vertraten die Position, dass die weitergehende Regelung der Fristenregelung für beide Teile Deutschlands gelten und die Zwangsberatung gestrichen werden sollte. Monika Simmel-Joachim, die damalige Bundesvorsitzende der westdeutschen pro familia, sandte noch im Juli 1990 ein Telegramm an den damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl. Darin sprach sie sich dafür aus, die Gewissensentscheidung ungewollt Schwangerer auch im künftigen Deutschland anzuerkennen. Die Beratung müsse freiwillig und unabhängig gegenüber Dritten sein, Ratsuchenden dürften keine Wertorientierung aufgedrängt werden.
Mit der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 galten zunächst zwei Regelungen – in Ost und West bestanden die dort jeweils vorab geltenden Bestimmungen weiter. Der Einigungsvertrag erklärte, dass bis zum 31. Dezember 1992 eine „dem Lebensschutz angemessene Neuregelung“ zu erarbeiten war1. Der Bundestag beschloss 1992 eine Reform des § 218a StGB, der eine kombinierte Fristen- und Beratungslösung vorsah und den selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruch innerhalb der Zwölfwochenfrist und nach Pflichtberatung ausdrücklich für nicht rechtswidrig erklärte. Nach dem Gesetz sollten außerdem die Kosten von der Krankenkasse übernommen werden. Die Schlussabstimmung über das Gesetz wurde ohne Fraktionszwang durchgeführt. Von 657 Abgeordneten stimmten 357 mit Ja, 284 mit Nein, 16 enthielten sich. Wieder rief die CDU/CSU das Bundesverfassungsgericht an. Dieses bestätigte 1993 die konservativen Parteien, weil das reformierte Gesetz den selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruch rechtfertige. Der verfassungsrechtlich gebotenen Schutzverpflichtung komme der Gesetzgeber jedoch nur nach, wenn er Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich verbiete und Schwangeren die grundsätzliche Rechtspflicht auferlege, einen Fötus auszutragen. Ein Schutzkonzept, welches auf präventive Beratung abstellt, müsse sicherstellen, dass die Schwangere sich dieser Rechtspflicht jederzeit bewusst sei. Ein Anspruch auf die Kostenübernahme eines rechtswidrigen Schwangerschaftsabbruchs sei ausgeschlossen.
Am 16. Juni 1993 trat eine komplizierte Übergangsregelung in Kraft. Diese schrieb die Grundsätze aus den 1970er Jahren der BRD weitgehend fort und sah nunmehr für ganz Deutschland eine Pflichtberatung vor einem straffreien Abbruch innerhalb der ersten 12 Schwangerschaftswochen vor. – Der Tag wurde von Protesten in Ost und West begleitet2.
Zum 1. Oktober 1995 wurde schließlich das bis heute gültige Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz umgesetzt und galt als Kompromiss aus Beratungspflicht und ergänzender Fristenregelung sowie einer erweiterten Indikationenlösung. Danach sind Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich strafbar. Der § 218 sieht nur einige Ausnahmen vor. Nicht rechtswidrig sind die kriminologische und medizinische Indikation, die ärztlich festgestellt werden müssen. Bei kriminologischer Indikation, d.h. bei Schwangerschaft als Folge einer Straftat (z. B. Vergewaltigung oder Inzest) kann die Schwangerschaft nach ärztlicher
Bestätigung bis zum Ende der zwölften Woche abgebrochen werden. Nach einer medizinischen Indikation ist ein Abbruch bis zum Ende der Schwangerschaft möglich. Dazu müssen Ärzt*innen bestätigen, dass die Fortsetzung der Schwangerschaft die körperliche oder seelische Gesundheit der Frau erheblich gefährden würde.
Für die Bürgerinnen aus der ehemaligen DDR stellte die neue Regelung jedoch eine wesentliche Verschlechterung dar. Dort galt seit 1972 die Fristenregelung ohne Beratungspflicht. Der § 218 stand nicht mehr im Strafgesetzbuch. Frauen konnten so mit dem Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft innerhalb der ersten 12 Wochen selbst über die Fortsetzung oder den Abbruch ihrer Schwangerschaft entscheiden, letzterer finanziert durch die Gesundheits- und Sozialversicherung und verbunden mit dem Anspruch auf unentgeltliche Verhütungsmittel.
Neue Abtreibungsdebatten
In den Jahren nach 1995 war der Slogan „Weg mit dem § 218“ aus dem Vokabular der Frauenbewegungen jedoch vorerst verschwunden. Viele Frauen schienen sich mit den geltenden Regelungen arrangiert zu haben. CSU/CDU forderten hingegen immer wieder eine ‚Nachbesserung‘ des Kompromisses von 1995. Mit einem Gesetzentwurf entfachten sie 2008 eine neue Debatte um die gesamte medizinische Indikation. Zum 1. Januar 2010 trat schließlich das Gesetz zur Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes in Kraft. Es verpflichtet seither Ärzt*innen, schwangere Frauen nach einer Diagnose medizinisch zu beraten und sie auf die Möglichkeit einer psychosozialen Beratung hinzuweisen. Tun sie das nicht, können sie mit einer Geldbuße belegt werden. Frühestens am vierten Tag nach der Beratung kann dann auf Verlangen der Frau der Abbruch durch eine*n Arzt*in vorgenommen werden.
Parlamentarier*innen aus SPD, Grünen und Linken, Verbände wie pro familia, die Arbeitsgemeinschaft für katholische Familienbildung, der Humanistischer Verband Deutschlands und das Familienplanungszentrum Balance hatten sich auch entschieden gegen das Gesetz zur Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes von 2010 ausgesprochen.
AbtreibungsgegnerInnen
Sogenannte LebensschützerInnen (Pro Life) kämpfen weltweit für ihre Deutungshoheit und sind dabei international gut vernetzt. Überall in Europa sind Angriffe auf das Recht von Frauen auf selbstbestimmte Schwangerschaft und ein Erstarken konservativ-reaktionärer Familienideologien zu beobachten. Evangelikale und andere extremistisch-religiöse GegnerInnen des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung fordern das vollständige Verbot und eine Bestrafung aller Schwangerschaftsabbrüche.
In Berlin wird seit 2002 jährlich vor dem Bundeskanzleramt ein sogenannter „Marsch für das Leben“ von AbtreibungsgegnerInnen abgehalten. Der Schwangerschaftsabbruch wird hier mit der ,vorgeburtlichen Tötung‘ von Kindern und Abtreibung mit Euthanasie gleichgesetzt. Sie lehnen jede Art von Abtreibung ab, auch nach einer Vergewaltigung. Ihr Begriff des ,Lebensschutzes‘ beinhaltet nicht nur die umfassende Kontrolle der reproduktiven Rechte von Frauen und spricht diesen jegliche Selbstverantwortung ab, sondern tritt auch für die Herstellung der ,alten Ordnung‘ mit der ,heiligen Familie‘ aus heterosexuellen (Ehe-)Paaren und (eigenen) Kinder ein. Damit werden alle anderen Lebensweisen diskriminiert und ausgegrenzt, weil sie angeblich der ,natürlichen‘ Ordnung widersprechen. Politische Unterstützung erhalten die AbtreibungsgegnerInnen vor allem durch die AfD. Feministische Bündnisse treten dem Berliner „Marsch“ seither lautstark entgegen.
Aktuelle Situation § 218/219
LebensschützerInnen, oft als Wirrköpfe abgetan, sind mitten in der Gesellschaft angekommen. Bestätigt wird ihre Haltung auch immer wieder durch Verlautbarungen der katholischen Kirche. Wenn Papst Franziskus am 10. Oktober 2018 die auf dem Petersplatz zur Generalaudienz versammelten Gläubigen fragt: „Ist es richtig, einen Auftragsmörder anzuheuern, um ein Problem zu lösen?“, meint er die ungewollte Schwangerschaft und arbeitet den rechten Kräften in die Hände.
Durch die Urteile gegen etliche ÄrztInnen, die Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen nach dem unter dem NS-Regime eingeführten § 219a StGB von ihrer Webseite nehmen mussten, wurde die Auseinandersetzung um den gesamten Abtreibungsparagrafen neu eröffnet und die Streichung von §§ 218/219 wieder lautstark gefordert. Aktivist*innen und Expert*innen fordern, dass sachliche Informationen über ihre medizinischen Angebote in Zukunft nicht mehr als Werbung im Sinne des Paragrafen 219a StGB gelten dürfen. Auch nach der Neufassung des § 219a seit dem 15. März 2019 sind Ärzt*innen verurteilt worden, weil sie nun zwar öffentlich darüber informieren können, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen, weitere Informationen zu Methoden aber nicht angeben dürfen. Das Recht auf Information ist gerade wegen der komplizierten Konstruktion „rechtswidrig, aber straffrei“ notwendig. Frauen müssen Unterstützung zur Wahrnehmung ihrer Rechte erfahren und Ärzt*innen finden können, die einen schonenden Abbruch möglichst wohnortnah, unabhängig von ihrer Herkunft, sozialen und ökonomischen Situation vornehmen. Dies wird verhindert, wenn wie in Deutschland im Medizinstudium die Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs nicht gelehrt wird und immer weniger Ärzt*innen Abtreibungen vornehmen, sodass die medizinische Versorgung in vielen Regionen völlig unzureichend ist.
Die Legalisierung der Abtreibung vermindert gesundheitliche Risiken. Der Zugang zu einer sicheren und legalen Abtreibung bleibt eine zentrale Forderung der internationalen Frauenbewegungen. Es geht um das Recht der Frau, selbst darüber zu entscheiden, ob und wann sie eine Schwangerschaft austragen möchte oder nicht. Die §§ 218/219 müssen aus dem StGB gestrichen und Abtreibung als Teil der medizinischen Versorgung außerhalb des StGB geregelt werden.
Wie sieht das in anderen Ländern aus?
In den Ländern der EU gibt es unterschiedliche Regelungen. Die meisten Länder haben eine Fristenregelung. Eine Zwangsberatung wie in Deutschland gibt es nirgends.
In Polen, einem Land mit ohnehin strengem Abtreibungsrecht, gilt künftig ein nahezu vollständiges Abtreibungsverbot. Die Verschärfung des Gesetzes trat Ende Januar 2021 trotz großer und anhaltender Proteste in Kraft. Abtreibungen sind nur noch legal, wenn die Gesundheit der Schwangeren in Gefahr oder die Schwangerschaft das Ergebnis einer Straftat ist. Bereits im Herbst vergangenen Jahres trieb der Beschluss des Obersten Gerichts von Polen, der die Abtreibung schwer fehlgebildeter Föten als ‚unvereinbar‘ mit der polnischen Verfassung bezeichnete, zehntausende Menschen auf die Straße. Die Proteste richteten sich auch gegen die katholische Kirche, die für den Richterspruch mitverantwortlich gemacht wird. Bischöfe hatten ein totales Abtreibungsverbot gefordert. Frauenrechtsorganisationen schätzen, dass pro Jahr etwa 200.000 Polinnen illegal abtreiben oder dafür ins Ausland gehen. Nun wird befürchtet, dass diese Zahl noch steigt.
Gute Nachrichten gibt es aus dem katholischen Irland und Argentinien. In Irland war 2018 ein Bürger*innen-Referendum über die Abschaffung des Abtreibungsverbotes erfolgreich. Waren bisher Abtreibungen nahezu in allen Fällen verboten, stimmten über 66 Prozent der Abstimmenden für eine Verfassungsänderung. Das irische Parlament wurde dazu ermächtigt, Abtreibungen bis zur 12. Schwangerschaftswoche und bei bestimmten medizinischen Gründen darüber hinaus zu legalisieren.
In Argentinien hat die Mitte-Links-Regierung am 14. Januar 2021 ein Gesetz unterzeichnet, das Frauen bis zur 14. Schwangerschaftswoche einen Abbruch bei Übernahme der Arztkosten erlaubt. Argentinien ist damit das erste Land Lateinamerikas, das diesen Schritt vollzogen hat. Das Gesetz war zwar von Präsident Alberto Fernández eingebracht worden, wäre jedoch ohne den hartnäckigen Kampf der Frauen nicht möglich gewesen. Sie demonstrierten für die Legalisierung massenhaft in der Öffentlichkeit. Zu ihrem Symbol wurde ihre grüne Kleidung, weshalb der Protest auch als „grüne Flut“ bezeichnet wird. Das bedeutet für ungewollt schwangere Frauen nicht nur Schutz für Gesundheit und Leben, sondern auch vor dem Gefängnis. Der aus Argentinien stammende Papst Franziskus hatte sich noch kurz vor der entscheidenden Abstimmung gegen das Gesetz ausgesprochen – in diesem Fall ohne Erfolg.
Die fortschrittlichste Regelung findet sich in Kanada. Dort gibt es seit 1988 überhaupt kein Abtreibungsgesetz. Dennoch gebe es dort nicht mehr Abtreibungen als in anderen Ländern, wie Strafrechtsprofessorin Julia Hughes 2015 auf einer Tagung in Wien berichtete. Die Zahl der Abtreibungen habe, trotz anwachsender Bevölkerung, sogar abgenommen.
Es gibt weder historisch noch aktuell Anhaltspunkte dafür, dass Bestrafungen zu weniger Schwangerschaftsabbrüchen und damit zu mehr Geburten führen. Je restriktiver die Gesetze sind, desto eher wird der Schwangerschaftsabbruch zum sozialen, gesundheitlichen und ökonomischen Problem für die Frau. Unsachgemäße Schwangerschaftsabbrüche sind weltweit die Hauptursache für den Tod schwangerer Frauen. Daraus wird deutlich, wie notwendig ein Recht auf einen sicheren Schwangerschaftsabbruch ist. Zu seinem 150. Geburtstag sollte das Gesetz auch in der Bundesrepublik in seinen „wohlverdienten Ruhestand“ geschickt werden. Es hat schon viel zu viel Schaden angerichtet.
Der vorliegende aktualisierte Beitrag basiert auf bereits veröffentlichten Texten:
- Notz, Gisela: Der § 218 : immer noch ein umkämpftes Thema, in: Femina politica : Zeitschrift für feministische PolitikWissenschaft, Jg. 25 (2016) Nr. 2, 163-167. DOI: https://doi.org/10.25595/530.
- Notz, Gisela: Perspektiven sexueller Selbstbestimmung in der Familienplanung, 2015, unter: https://www.arbeitskreis-frauengesundheit.de/wp-content/uploads/2015/10/2010_Notz_Gisela_Selbstbestimmung.pdf
- Notz, Gisela: https://www.lunapark21.net/150-jahre-218-im-strafgesetzbuch/
- Dr. Gisela Notz
- Digitales Deutsches Frauenarchiv
- CC BY 4.0
Fußnoten
- 1 Vgl. https://www.bpb.de/apuz/290795/kurze-geschichte-des-paragrafen-218-strafgesetzbuch?p=2 letzter Zugriff 17.5.2021.
- 2 Vgl. tagesschau vor 20 Jahren, 16. Juni 1993: Bericht über die Übergangsregelung zum Schwangerschaftsabbruch, von Minute 6:55 bis 7:43 unter https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video1310660.html, letzter Zugriff 17.5.2021.