Der § 144 und die Frauenbewegung in Österreich

In Österreich wirkten bis 1974 Bestimmungen aus dem 18. Jahrhundert fort und kriminalisierten abtreibende Frauen. Die Historikerin Dr. Maria Mesner über Geschichte und Debatten um den Schwangerschaftsabbruch in Österreich.

Wie war um die Jahrhundertwende der Schwangerschaftsabbruch in Österreich rechtlich geregelt?

Um die Jahrhundertwende war in Österreich das Strafgesetzbuch aus dem Jahr 1852 in Kraft, das – in den §§ 144 bis 148 – das absolut formulierte Abtreibungsverbot aus dem Theresianischen Strafgesetzbuch von 1768 weiterschrieb. Auch die Juristen des 18. Jahrhunderts hatten das Abtreibungsverbot nicht erfunden, sondern – im Zuge der Staatsbildung (im Sinn der Aufklärung) – ältere Bestimmungen in einem einheitlichen Strafgesetzbuch zusammengefasst. An der Wende zum 20. Jahrhundert waren daher deutlich über 100 Jahre alte Regelungen in Kraft, die bestimmten, dass Abtreibung ein Verbrechen war. Die abtreibende Frau war demnach mit schwerem Kerker in der Dauer von einem bis fünf Jahren zu bestrafen. Dieselbe Strafandrohung galt für ‚Abtreibung einer fremden Leibesfrucht‘, außer wenn dadurch Leben oder Gesundheit der Schwangeren gefährdet worden war. In dem Fall stieg die Strafandrohung auf fünf bis zehn Jahre. Auch der ‚Vater‘ des Fötus sollte bestraft werden: Es galt dasselbe Strafmaß wie für die Schwangere, ‚jedoch mit Verschärfung‘. Diese Regelungen sollten im Übrigen mit einer Unterbrechung durch die Okkupation Österreichs durch NS-Deutschland bis 1974 in Kraft bleiben.

Ab wann setzte eine Auseinandersetzung innerhalb der Frauenbewegung mit dem § 144 ein und wer war hier maßgeblich beteiligt? 

Vor dem Ersten Weltkrieg ist aus den Quellen wenig ‚Auseinandersetzung‘ innerhalb der Frauenbewegung nachzuvollziehen. Kolleg:innen – Romana Haslinger und Remigio Gazzari, es sei ihnen an dieser Stelle ausdrücklich gedankt – und ich haben für diesen Dossier-Beitrag recherchiert, weil zum Thema kaum Forschungsliteratur vorhanden ist. Wir haben einen Bericht darüber gefunden, dass 1911 die Generalversammlung des Bundes Österreichischer Frauenvereine die Vorschläge seiner Rechtskommission zur gerade diskutierten Reform des Strafgesetzes angenommen habe. Darin wurde auch eine Reform der Abtreibungsgesetze gefordert. Demnach sollte Abtreibung grundsätzlich strafbar bleiben. Es sollte aber in Ausnahmefällen von der Strafe abgesehen werden können, wenn die Schwangerschaft Gesundheit oder Leben der Schwangeren bedrohe; wenn die Schwangerschaft aus einer Vergewaltigung entstanden sei; wenn der prospektive ‚Vater‘ die Schwangere, ob mit ihm verheiratet oder nicht, verlassen und damit ‚der Not preisgegeben‘ hätte; wenn das Kind aufgrund einer Krankheit oder ‚Trunksucht‘ der Eltern ‚schwer belastet‘ zur Welt kommen würde; wenn die Frau gegen ihren Willen von jemandem, der ‚betrunken‘ oder ‚gänzlich erwerbsunfähig‘ wäre, schwanger geworden sei; oder wenn die Frau schon so viele Kinder hätte, dass für den Unterhalt eines weiteren keine Ressourcen vorhanden waren. Es waren also bereits jene ‚Indikationen‘ angelegt, die die Diskussion in Österreich bis in die 1970er Jahre und die internationale noch wesentlicher länger prägen sollten. Die diskutierte Strafrechtsreform fand allerdings nicht statt.

Der Bund österreichischer Frauenvereine war ein Zusammenschluss bürgerlicher Frauenvereine aus dem Jahr 1902, aus dem allerdings bereits 1906 der Allgemeine Österreichische Frauenverein, der sich selbst als radikaler und ‚politischer‘ verstand, ausgetreten war. Die politische Positionierung des Bundes Österreichischer Frauenvereine war in der Tat breit und inklusiv angelegt. Es gab allerdings eine klare Abgrenzung zur christlich-sozialen bzw. katholischen Frauenbewegung einerseits und punktuelle Kooperationen mit dem sozialdemokratischen Reichsfrauenkomitee andererseits. Eine kontinuierliche Zusammenarbeit auch in zentralen gemeinsamen Anliegen, etwa der Einführung des Frauenwahlrechts, kam aber nie zustande. 

Welche Diskurse wurden innerhalb der Frauenbewegung in Österreich über den §144 geführt? Welche Forderungen und Positionen trafen hier aufeinander?  

Rosa Mayreder
Quelle: Wikimedia Commons, https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Rosa_Mayreder?uselang=de#/media/File:Rosa_Mayreder,_1905.jpg
Lizenz
Rechteangabe
  • Quelle: Wikimedia Commons, https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Rosa_Mayreder?uselang=de#/media/File:Rosa_Mayreder,_1905.jpg
  • Gemeinfrei
Rosa Mayreder (1858–1938) gilt als die bedeutendste Vertreterin der ersten österreichischen Frauenbewegung. Ihre feministischen Essays werden noch heute gelesen und neu aufgelegt.

Es finden sich keine Quellen über derlei ‚Diskurse‘ in der österreichischen Frauenbewegung vor 1914. Erst nach dem Ersten Weltkrieg und der Einführung des Frauenwahlrechts wurde die Abtreibung zum politisch heftig diskutierten Thema. 1907 wurde – nach deutschem Vorbild – der Österreichische Bund für Mutterschutz gegründet, der dem Bund österreichischer Frauenvereine angehörte und ab 1911 auch eine Vereinszeitschrift herausgab. Dem Gründungskomitee gehörten Rosa Mayreder, eher dem radikalen Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung zuzurechnen, aber auch Sigmund Freud an.

Olga Misař
Quelle: Österreichische Nationalbibliothek https://fraueninbewegung.onb.ac.at/node/18465
Olga Misař (1876–1950), Akteurin der Frauen- und Friedensbewegung sowie Redakteurin der Vereinszeitschrift des Österreichischen Bundes für Mutterschutz.

Als Redakteurin der Vereinszeitschrift fungierte Olga Misař, Aktivistin im radikalen Flügel der Frauenbewegung und in die bürgerliche Friedensbewegung involviert. Vereinsziel und zentrales Thema der Zeitschrift war die Verbesserung der Lage unehelicher Mütter und ihrer Kinder. Neben sozialpolitischen Forderungen und Aktivitäten wie der Gründung eines Heims für unehelich Gebärende war Kritik am strengen Abtreibungsverbot ein Aspekt der Stellungnahmen des ‚Bundes‘. In der Zeitschrift wurde zustimmend über die schon erwähnten gesetzlichen Vorschläge des Bundes österreichischer Frauenvereine berichtet. Auch in der übrigen Presse der bürgerlichen Frauenbewegung war die ‚Fruchtabtreibung‘ in einen sozialpolitischen Zusammenhang eingebettet, dessen zentrales Thema Maßnahmen für erwerbstätige Schwangere oder Mütter war.

Das Abtreibungsverbot und die gesetzliche Beschränkung von Verhütungsmittel fördere das Elend, vor allen Dingen der armen Bevölkerung und sei daher inhuman. Das Argument hatte mancherorts durchaus einen eugenischen Unterton. Auch in der sozialdemokratischen Presse gab es immer wieder Berichte über das Elend und das Gesundheitsrisiko, das das Abtreibungsverbot vor allem für arme Frauen bedeute. Wohlhabende Frauen könnten sich im Fall einer Schwangerschaft mit Hebammen oder ihren Hausärzten beraten und bei ihnen Hilfe finden, Arbeiterinnen hätten diese Möglichkeiten nicht. In der sozialdemokratischen Presse wurde aber zum Beispiel über den Gesetzesvorschlag des Bundes österreichischer Frauenvereine nicht berichtet, wohl aber über die Diskussion, die im Deutschen Reich geführt wurde. Daraus wurden aber von der sozialdemokratischen Frauenbewegung keine politischen Forderungen in Bezug auf den Schwangerschaftsabbruch abgeleitet. Außer dem Vorstoß des Bundes Österreichischer Frauenvereine in Richtung einer Liberalisierung des geltenden Abtreibungsverbotes konnten wir keine ausgearbeitete Stellungnahme aus dem Bereich der österreichischen Frauenbewegungen finden.

Wie gestalten sich Forschungsstand und -bedarfe und wo finden sich Materialien zur Geschichte des § 144 und der Frauenbewegung in Österreich?

Für den österreichischen Zusammenhang gibt es kaum Forschung in Bezug auf Positionen, Stellungnahmen etc. zur gesetzlichen Regelung des Schwangerschaftsabbruchs vor dem Ersten Weltkrieg. Die Forschungsliteratur setzt erst 1918 ein. Vielleicht liegt das allerdings auch daran, dass die gesetzliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs in Österreich vor 1914 kein vordringliches Thema der verschiedenen Frauenbewegungen war. Ihr Fokus lag hauptsächlich auf dem Kampf für das Frauenwahlrecht und dem Zugang von Frauen zum Bildungssystem.

Das Stichwort . Archiv der Frauen- und Lesbenbewegung sammelt Material aus dem Umfeld der Frauenbewegungen ab den 1970er Jahren, das Johanna Dohnal Archiv ist auf die sozialdemokratische Frauenbewegung desselben Zeitraums spezialisiert. In Bezug auf die Frauenbewegungen vor 1914 gibt es leider keine spezialisierten Archive. Allerdings hat die Österreichische Nationalbibliothek unter dem Namen Ariadne einen Sammelschwerpunkt zu den Frauenbewegungen, in dessen Bereich auch umfangreiche Bestände digitalisiert wurden und daher online zugänglich sind. Unter dem Namen Frauen in Bewegung gibt es dazu auch eine eigene Datenbank. Auf anno, ebenfalls einer Initiative der Österreichischen Nationalbibliothek, finden sich Zeitschriften und Zeitungen in digitalisierter Form. Wichtig sind auch noch verstreute Einzelnachlässe, wie etwa jener Auguste Fickerts in der Wienbibliothek oder jene in der Sammlung Frauennachlässe an der Universität Wien.

Veröffentlicht: 17. Mai 2021
Lizenz (Text)
Verfasst von
Dr.in Maria Mesner

Dr.in Maria Mesner ist Studienprogrammleiterin für Geschichte und Gender Studies an der Universität Wien. Seit 2004 ist sie geschäftsführende Leiterin des Bruno-Kreisky-Archivs in Wien. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die Geschichte der politischen Kultur, Geschlechtergeschichte und Körpergeschichte.

Empfohlene Zitierweise
Dr.in Maria Mesner (2021): Der § 144 und die Frauenbewegung in Österreich, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/angebote/dossiers/218-und-die-frauenbewegung/144-und-die-frauenbewegung-in-oesterreich
Zuletzt besucht am: 14.10.2024
Lizenz: CC BY 4.0
Rechteangabe
  • Dr.in Maria Mesner
  • Digitales Deutsches Frauenarchiv
  • CC BY 4.0