Neue Frauenbewegung: Gemeinsam gegen patriarchale Machtansprüche und Gewalt im Namen der Ehre

verfasst von
  • TERRE DES FEMMES e.V.
veröffentlicht 13. September 2018
Im Namen der Familienehre werden Mädchen und Frauen in konservativ-patriarchalen Gesellschaften rigide wegen ihrer ‚Jungfräulichkeit‘ kontrolliert, und – oft noch minderjährig – zur Heirat gezwungen. Bereits das vermutete oder von Dritten als ehrlos empfundene Verhalten kann gravierende Folgen haben, bis hin zum sogenannten Ehrenmord.

Spätestens seit dem Mord an der 23-jährigen Hatun Sürücü, die 2005 von ihrem jüngeren Bruder auf offener Straße in Berlin-Tempelhof mit drei Kopfschüssen regelrecht hingerichtet wurde, beschäftigt sich die deutsche Öffentlichkeit mit dem Phänomen Ehrverbrechen.1 Die getrennt lebende, alleinerziehende und berufstätige Frau mit kurdischen Wurzeln habe, so der Täter einen „westlichen Lebensstil“ gelebt und damit die „Familienehre mit Füßen getreten“2 .
Die UN stufen Ehrverbrechen als Menschenrechtsverletzung ein und zählen sie zu den harmful traditional practices3 , zu den schädigenden traditionsbedingten Praktiken. Vor allem Mädchen und heranwachsende Frauen werden im Namen der Familienehre in ihrem Recht auf sexuelle und körperliche Selbstbestimmung eingeschränkt; im Fall einer Zwangsverheiratung wird es ihnen sogar völlig abgesprochen. Mädchen und Frauen, die sich den gesellschaftlichen Vorgaben entziehen, müssen mit familiären Sanktionen rechnen. Im ‚Ehren‘-Mord manifestiert sich die grausamste Ausprägung ehrbezogener Gewalt.

Artikel über den Mord Hatun Sürücu

Soziokulturelle Hintergründe, Bedeutung in der Migrationsgesellschaft

Die soziokulturellen Wurzeln der Gewalt im Namen der Ehre sind in der überkommenen Tradition des patriarchal organisierten Familienverbandes mit seiner strukturell verankerten Väterautorität und der hierarchisch gegliederten Männervorherrschaft begründet.
„Dem Wert der Ehre unterliegt die Vorstellung einer klaren Grenze“, welche Mädchen und Frauen das als weiblich konnotierte ‚Innen‘, das heißt den Bereich der Familie, zuweist und es vom männlich konnotierten ‚Außen‘, der Öffentlichkeit, trennt.4
Weibliche Familienmitglieder verkörpern die Familienehre und sind zu sexueller ‚Reinheit‘ verpflichtet: Keuschheit vor einer Heirat sowie eine monogame Lebensführung innerhalb der Ehe werden durch umfassende soziale Kontrollen durch die Familie sichergestellt.5 Zu diesen gehören Formen innerfamiliärer Gewalt, von psychologischer Erpressung und sozialem Druck, sich den ehrbezogenen Normen zu unterwerfen, über sämtliche Formen physischer bis sexualisierter Gewalt.6

Mythos und Bürde: Jungfräulichkeit

Artikel "Nur ein Stückchen Haut?"

In Gesellschaften mit entsprechenden Ehrtraditionen kommt dem sozialen Konstrukt der Jungfräulichkeit eine gravierende Schlüsselbedeutung zu. Der weibliche Körper wird bereits im Mädchenalter zu einer vermeintlichen Tabu- und Gefahrenzone, an die sich ein sexual- und körperfeindlicher, autoritär-antiemanzipatorischer Erziehungsstil und eine restriktive Lebensführung insbesondere für Mädchen und Frauen anschließen.7
Ein intaktes – in der Hochzeitsnacht blutendes – Hymen (Jungfernhäutchen) gilt als ‚Beleg‘ für die voreheliche sexuelle Enthaltsamkeit. An dieser unterstellten Unberührtheit glaubt man, die Ehrbarkeit der Frau und die ihrer Familie festmachen zu können. Dabei ist wissenschaftlich erwiesen, dass nicht jede Frau Hymen hat und dieses nicht zwingend beim ersten Geschlechtsverkehr bluten muss.8
Manche der betroffenen Frauen lassen unter dem Druck dieser Beweislast vor ihrer Hochzeit sogar eine Hymen-Rekonstruktion durch einen medizinischen Eingriff vornehmen.

Zwangsheirat versus arrangierte Ehe

Der ‚Schutz‘ der Familienehre, die sich an der Keuschheit bis zur Ehe bemisst, ist auch strukturell ein wichtiger Beweggrund für eine möglichst frühzeitige Verheiratung der Töchter – mit oder gegen deren Willen.
In diesem Kontext spielen auch in der Einwanderungsgesellschaft die Probleme um arrangierte Frühehen und Zwangsverheiratung zunehmend eine Rolle.
2011 erschien die erste und bislang einzige bundesweite Studie zum Thema. In dieser wird von einer Zwangsverheiratung ausgegangen, „wenn mindestens einer der Eheleute durch die Ausübung von Gewalt oder durch Drohungen zum Eingehen einer Ehe gezwungen wird. Eine mögliche Weigerung einer der Eheleute hat entweder kein Gehör gefunden oder der/die Betroffene hat es nicht gewagt, sich zu widersetzen“.9
Eine klare Abgrenzung zur arrangierten Ehe fällt oft schwer. Zwar wird die Heirat von Dritten – in der Regel von den Eltern oder auch weiteren Verwandten – initiiert, entscheidend ist aber das volle Einverständnis beider künftiger Eheleute für die Eheschließung.10
In der vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geförderten Studie wurden allein für das Jahr 2008 3.443 von Zwangsheirat Betroffene bzw. Bedrohte gezählt. Nahezu alle Personen hatten einen Migrationshintergrund, 93 Prozent waren weiblich. 52 Prozent der Ehen wurden im Ausland vollzogen.11 Da diese Erhebung sich auf Aussagen von Personen gründet, die sich von sich aus an Beratungseinrichtungen wandten und offensichtlich ein Gutteil der Zwangsehen im Ausland vollzogen werden und als solche in keiner Statistik auftauchen, kann nur von einem schwer erfassbaren Dunkelfeld ausgegangen werden.
FeministInnen und Frauenrechtsorganisationen wie TERRE DES FEMMES (TDF) forderten daher über mehrere Jahre mit unterschiedlichen Kampagnen und politischer Lobbyarbeit einen eigenen Straftatbestand Zwangsverheiratung im deutschen Strafrecht, der schließlich im Juli 2011 eingeführt wurde (§ 237 StGB).12

Porträt des Projektes ROSA
Artikel über Zwangsverheiratung in Deutschland
Vorstellung der Jahreskampagne "Nein, zu Verbrechen im Namen der Ehre"
Artikel über die "Meilensteine im Kampf gegen Zwangsheirat"

Kein Vergessen: ‚Ehren‘-Morde in Deutschland und weltweit

Die UN gehen davon aus, dass jährlich 5.000 ‚Ehren‘-Morde begangen werden.13 Da diese meistens in keine Statistik eingehen, in einigen Ländern nicht einmal strafrechtlich geahndet werden, ist die Dunkelziffer, auch hier erheblich höher anzusetzen.
Die 2011 vom Max-Planck-Institut veröffentlichte (bundesweit erste) Studie zählte 78 Fälle potentieller ‚Ehren‘-Morde in Deutschland zwischen 1996 und 2005. Die Täter waren zu 93 Prozent männlich, die Opfer zu 70 Prozent weiblich. Die Fallanalysen kamen zu dem Ergebnis, „dass das beherrschende Thema der Ehrenmorde die mangelnde Unterwerfung der weiblichen Sexualität unter die Kontrolle eines patriarchal geprägten Familienwillens“14 war, die häufigsten Tatanlässe „autonome Entscheidungen von Frauen über ihre Partnerschaften“ und damit über ihre Lebenssituation insgesamt.15
FeministInnen, Menschen- und Frauenrechtsorganisationen erinnern regelmäßig im Gedenken an die Ermordeten mit Mahnwachen und Aktionen, um das individuelle Leid der Verstorbenen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen – aber auch um die gesellschaftspolitische Dimension der Morde ins öffentliche Bewusstsein zu bringen und Maßnahmen gegen Ehrverbrechen von Politik und Gesellschaft einzufordern.

Rütteln am Patriarchat, um die Gewalt zu überwinden: Politisierung der Gewalt im Namen der Ehre, Aufklärung und Sensibilisierung

Gehörten die Themen Patriarchat und Gewalt gegen Frauen zu den Kernthemen, und insbesondere die Selbstbestimmung über Sexualität und Körper zu den Schlüsselfragen der Neuen Frauenbewegung16 , fehlte ihr beim Zugang zu ‚fremden‘ Phänomenen ‚anderer‘, wie Gewalt im Namen der Ehre, zunächst noch der entsprechend kritisch-analytische und begrifflich passende Zugang. Und doch beschäftigte sich die Neue Frauenbewegung von Anfang an auch international und im Kontext der Migrationsgesellschaft etwa mit Problemen ‚der‘ Araberinnen oder Türkinnen, deren Schicksale durch schriftliche Berichte aus den jeweiligen Ländern, aber auch durch Begegnung und Auseinandersetzung mit den Erfahrungen von Migrantinnen bewusstwurden. So tauchten bereits im TDF-Rundschreiben 1/1983 zwei individuelle ‚Schicksale‘ – „Nadja“ und „Gönül“ – auf. Die Begriffswahl freilich erscheint aus heutiger Sicht noch recht unbeholfen sind: So wird das „verkuppelt“-Werden Nadjas und ihre „nicht mehr vorhandene Jungfernschaft“ thematisiert. „Gönül“, so der kurze Bericht, sei vor dem Elternhaus geflohen, „weil sie sich den türkischen Sitten nicht mehr fügen wollte“.17 Mit der Broschüre Tod als Ehrensache. Frauenschicksale18 hat TDF das Thema Ehre bereits 1988 erneut in den Blick genommen.
Politische Kampagnen- und Lobbyarbeit für einen besseren Schutz betroffener Mädchen und Frauen sind seither an der Tagesordnung.

Stand: 13. September 2018
Verfasst von
TERRE DES FEMMES e.V.
Empfohlene Zitierweise
TERRE DES FEMMES e.V. (2021): Neue Frauenbewegung: Gemeinsam gegen patriarchale Machtansprüche und Gewalt im Namen der Ehre, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/gewalt-im-namen-der-ehre
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Fußnoten

  • 1Agel, Carina: (Ehren-)Mord in Deutschland. Eine empirische Untersuchung zu Phänomenologie und Ursachen von „Ehrenmorden“ sowie deren Erledigung durch die Justiz, Lengerich 2013, S. 1 f.
  • 2Deiß, Matthias; Goll, Jo: Ehrenmord. Ein deutsches Schicksal, Hamburg 2011, S. 30 f.
  • 3UN Women: Harmful practices, Zugriff am 09.02.2018 unter http://www.endvawnow.org/en/articles/1404-harmful-practices.html.
  • 4Cöster, Caroline Anna: Ehrenmord in Deutschland, Marburg 2009, S. 61 f.
  • 5Libisch, Moni: Das Konzept der Ehre in traditionellen Familien aus der Türkei und sein Wandel in der Diaspora, in: Scholz, Nina (Hg.): Gewalt im Namen der Ehre, Wien 2014, S. 25–27.
  • 6Böhmecke, Myria et al.: Stop harmful traditional practices. Patriarchale Gewalt verhindern, in: TERRE DES FEMMES (TDF) (Hg.): Eine Informations- und Präventionsbroschüre, Berlin 2017, S. 12 f; Cöster: Ehrenmord in Deutschland, S. 84–107.
  • 7Scholz, Nina: Der Zwang zur Jungfräulichkeit und seine Auswirkungen auf Entwicklung und Rechte von Mädchen und Frauen, in: Scholz, Nina (Hg.): Gewalt im Namen der Ehre, Wien 2014, S. 69–85; Antes, Peter: Verbrechen im Namen der Ehre – ein religiöses Phänomen? Ehre und Religion, in: Böhmecke, Myria: Tatmotiv Ehre, hrsg. v. TERRE DES FEMMES, Tübingen 2004, S. 16–22; Schneider, Irene: Der Islam und die Frauen, München 2011, S. 116–119; Arsel, İlhan: „Frauen sind eure Äcker“. Frauen im islamischen Recht, Aschaffenburg 2012, S. 199–205.
  • 8TERRE DES FEMMES. Menschenrechte für die Frau e.V. (Hg.): Das Jungfernhäutchen. Fakten und falsche Zahlen, Berlin 2017, S. 3.
  • 9Mirbach, Thomas et al.: Zwangsverheiratung in Deutschland. Anzahl und Analyse von Beratungsfällen, Berlin 2011, S. 36
  • 10Ebenda, S. 36.
  • 11Ebenda, S. 67 ff.
  • 12Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz: Strafgesetzbuch (StGB) § 237 Zwangsheirat, Zugriff am 13.02.2018 unter https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__237.html.
  • 13Deutsche Stiftung Weltbevölkerung; UNFPA: Weltbevölkerungsbericht 2000: Frauen und Männer – getrennte Welten? Stuttgart 2000, S. 39.
  • 14Oberwittler, Dietrich / Kasselt, Julia: Ehrenmorde in Deutschland 1996–2005, in: Polizei und Forschung, Bd. 42, 2011.
  • 15Ebenda
  • 16Holland-Cunz, Barbara: Die alte neue Frauenfrage, Frankfurt a. M. 2003; Lenz, Ilse (Hg.): Die Neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Eine Quellensammlung, Wiesbaden 2008, S. 99 ff.
  • 17TERRE DES FEMMES-Rundschreiben I/83, Hamburg 1983, S. 4 f.
  • 18TERRE DES FEMMES (Hg.): Tod als Ehrensache. Frauenschicksale. Berlin 1989

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