Grenzenloses Unbehagen
Die deutsche Einheit wurde von einem enormen Anstieg rassistischer Gewalt begleitet. Dies ließ öffentliche Räume für Schwarze und People of Color (PoC) immer gewaltbesetzter und ausschließender werden. Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda, Mölln und Solingen stehen synonym für rassistische Verbrechen in den 1990er Jahren – in Ost und West. Nicht zuletzt jedoch auch für politisches und juristisches Versagen und eine Kultur des Gedenkens ohne Konsequenzen.
In Rostock-Lichtenhagen begannen am 22. August 1992 die bis dahin massivsten rassistisch motivierten Ausschreitungen in Deutschland nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Hunderte Gewalttäter griffen die Gebäude mit Steinen und Brandflaschen an, enthemmt und nahezu ungehindert. Filmteams übertrugen die Szenen weltweit. Auch die Polizei schaute weitgehend zu. Ziel der Angriffe war neben der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber das Sonnenblumenhaus, ein Wohnheim für ehemalige Vertragsarbeiter*innen. Tausende Anwohnende unterstützten und bejubelten die Angriffe – sie dauerten fünf Tage an und kamen nicht überraschend.
Wie sich die rassistische Stimmung im Zuge der Wiedervereinigung entwickelte und auf das Leben von Migrantinnen* auswirkte, war Thema des Zeitzeuginnen-Gesprächs am 17. Juli 2020 in Leipzig, organisiert von DaMigra. Die Podiumsrunde schließt an das Gespräch mit West-Berliner Zeitzeuginnen von Juni an und teilt ihre Erfahrungen aus ostdeutscher, feministisch-migrantischer Perspektive. Die Moderatorin Dr. Delal Atmaca fragt zum Auftakt nach der Zeit vor der Wende.
Unterdrückter Rassismus in der DDR
Solidarität mit den ,Völkern der Welt‘ gehörte in der DDR zur Staatsraison. ,Im Sozialismus gibt es keinen Rassismus‘: Das hatte Dr. Aria Noorjahan wie viele andere gelernt, die als Vertragsstudent*innen in die DDR kamen. Daher ist es für sie ein Schock, als sie hier zum ersten Mal rassistisch angefeindet wird. Beim Anstehen in der Schlange vor der Kaufhalle fordert ein Mann sie auf zu verschwinden.
Maria Stinner kommt bereits 1974 aus Honduras in die DDR und studiert Lebensmitteltechnik. Als ihr Sohn rassistisch gemobbt wird, beschwert sie sich bei der Lehrerin – mit Erfolg: Die Beschimpfungen hören auf. Auch wenn sie selbst solche Beleidigungen nicht erlebt, erfährt sie doch eine andere Benachteiligung im Rahmen ihrer Arbeit nach dem Studium: „Ich konnte keine höhere Stelle ausüben, weil ich Ausländerin war aus einem kapitalistischen Land.“
Ha Vu, die 1978 zum Studium aus Vietnam nach Leipzig kommt und bis 1984 hier Germanistik studiert, betreut als Übersetzerin für Betriebe Vertragsarbeiternehmer*innen aus Vietnam, die ab 1981 nach Leipzig kommen. Einerseits erlebt sie die Vertragsarbeit als Chance: „Wir konnten Geld verdienen und nach Hause schicken.“ Dies bedeutet jedoch Entbehrungen. „Für die Frauen war es ein großer Verlust. Man hat einen Vertrag gemacht für 5 Jahre zum Arbeiten – ohne Mann und Kinder.“
In der Bevölkerung grassierte das Vorurteil, Vertragsarbeiter*innen seien privilegiert, meint Ha Vu. „Wir arbeiteten unter strengen Bedingungen, im Dreischichtsystem und lebten isoliert in einem Wohnheim“, berichtet sie. „Die Pässe von uns vietnamesischen Student*innen wurden von der Botschaft einbehalten. Es gab Kontrollen durch die Gruppenleiter der Partei. Wer dreimal die Note 4 hatte, musste nach Berlin, wenn es keine Besserung gab, musste man nach Hause. Wenn man schwanger wurde, musste man ebenfalls nach Hause.“
Durch ihre Arbeit bekommt sie mit, dass es latenten Rassismus gibt, auch wenn er verboten war. „Wir wurden nie als Bürger*innen des Landes betrachtet, unser Aufenthalt war nur vorübergehend.“ Mit der Wende verändert sich die Situation, sagt sie: „Rassismus wurde unterdrückt – dieser Druck kam bei der Wende heraus.“
Jeden Tag Rostock
Ha Vu geht nach dem Ende des Studiums 1984 zunächst nach Vietnam, kehrt dann aber zur Arbeit in die DDR zurück. Mit der Wende laufen auch die Regierungsabkommen aus, viele Betriebe schließen, Massenarbeitslosigkeit ist die Folge. Von insgesamt circa 94.000 Vertragsarbeiter*innen arbeiteten über 60.000 Vietnames*innen zu dieser Zeit in rund 700 Betrieben der DDR. Nur wenigen war es möglich, legal in Deutschland zu bleiben.
Auch Ha Vu erlebt die massiven Folgen der deutschen Einheit für Vertragsarbeiter*innen: „Wir haben alle sofort die Kündigung bekommen. Uns wurde gesagt: Du musst dich alleine zurechtfinden, du musst sofort raus aus dem Wohnheim.“ In den Monaten vor der Kündigung nimmt die körperliche Bedrohung auf der Straße zu: „Dann kamen diese Angriffe, diese Beschimpfungen.“ Ha Vu erzählt, dass das Wohnheim 1990 von Rechten umzingelt wird. Der Betrieb bestellt sogar Taxis, um die Arbeiter*innen sicher zur Arbeit fahren.
Aria Noorjahan, die 1983 aus Afghanistan in die DDR kommt und bis 1989 Kunst- und Literaturwissenschaft studiert, erlebt Maueröffnung und Wiedervereinigung nicht direkt, sie arbeitet zu der Zeit in Afghanistan. Doch Ende 1990 kommt sie zur Promotion zurück. Wie sich die Zeiten geändert haben, wird ihr klar, als sie in Berlin aus dem Zug steigt: „Der Bahnhof war voller Nazis.“
Nach ihrer Rückkehr wohnt Aria Noorjahan wieder in Leipzig. Sie erlebt, wie Rechtsradikale mit Baseballschlägern auf Ausländer losgehen: „Solche Angriffe wie auf das Wohnheim in Rostock gab es in Leipzig jeden Tag.“ Ein einschneidendes Erlebnis wird für sie die Feier zur deutschen Einheit am 3. Oktober 1991. Sie besucht das Fest der Stadt mit ihrem Sohn, als sie merkt, „dass die Baseballschläger kommen“. Sie schafft es, den Ort rechtzeitig zu verlassen – andere nicht. „Die Polizei kam, hat die Baseballschläger laufen lassen und die blutenden ausländischen jungen Männer mitgenommen.“ Dieses Erlebnis prägt. Seitdem meidet sie große Veranstaltungen.
Für Maria Stinner war die Nachwendezeit von großer Unsicherheit geprägt. „Wenn ich mich beworben habe, kamen Absagen. ,Sie sind so hoch qualifiziert, wir können sie nicht bezahlen.‘ Dann hatte ich immer ABMs.“ Warum sie nicht in ihre Heimat gehe, wurde sie gefragt. Dabei lebte sie schon lange in Deutschland und fühlte sich wohl. Arbeitslosigkeit und rassistische Ressentiments prägten für sie diese Zeit.
Engagement als Empowermentstrategie
Die Zeitzeuginnen sind sich einig: Rassistische Gewalt muss benannt und verfolgt werden. Zudem sei es wichtig, sich selbst zu organisieren und solidarische Strukturen auf- und auszubauen. So sind in den 1990er Jahren zahlreiche demokratiefördernde Vereine entstanden, die sich für eine starke und vielfältige Zivilgesellschaft einsetzen. Nur zwei Monate nach den Anschlägen in Rostock-Lichtenhagen gründeten ehemalige Vertragsarbeiterinnen und -arbeiter in Rostock den Verein Diên Hông – Gemeinsam unter einem Dach, um der Gewalt und Ausgrenzung etwas entgegenzusetzen.
Bereits bestehende Organisationen wie ADEFRA e.V. – Schwarze Frauen in Deutschland, der Türkische Frauenverein Berlin e.V. oder der ISD Bund e.V. – Initiative Schwarze Menschen in Deutschland wurden zu bundesweiten Anknüpfungspunkten für Frauen aus Ost und West. Bis heute sind dies wichtige, auch feministische Zentren, in denen sich Frauen* kennenlernen, austauschen, stärken, organisieren und Vorbilder finden können.
Gedenken muss Folgen haben
Angesichts der antisemitischen und rassistischen Anschläge der jüngsten Vergangenheit in Halle und Hanau warnt die Amadeu Antonio Stiftung vor der weiteren Radikalisierung der rechtsextremen Szene. Und dies geschieht auch in Verbindung mit einem wachsenden Antifeminismus. Frauen*, die sich gesellschaftlich und in der Politik engagieren, sind zunehmend offenen Anfeindungen ausgesetzt.
Rassismus und Antisemitismus haben bis heute Kontinuität. „In letzter Zeit fühle ich mich nicht mehr so wohl“, sagt Maria Stinner. „Dann bekommt man Angst.“ Hoffnungen legen die antirassistischen Initiativen auch in die internationale Black Lives Matter-Bewegung, die sich gegen Gewalt gegen Schwarze und PoC einsetzt. Anders als in der gesellschaftlichen Debatte der 1990er Jahre werden heute die Gewalttaten und Morde auch auf den strukturellen Rassismus zurückgeführt.
Die Erfahrungen von Schwarzen und Frauen* of Color aus der DDR und Ostdeutschland sind damit ein wichtiger Teil deutscher Erinnerungskultur, der in die öffentliche Geschichts- und Gedenkpolitik einfließen muss. Eine intersektionale Aufarbeitung und die politische Beachtung dieser Stimmen wird lange schon von feministisch-migrantischen Initiativen gefordert.
Podiumsdiskussion: ,Einheit aus Vielfalt?‘ von DaMigra am 17.7. in Leipzig mit: Dr. Aria Noorjahan, Ha Vu, Maria Stinner, Jasmin Karg, moderiert von Dr. Delal Atmaca (Geschäftsführerin des Dachverbands der Migrantinnen*organisationen – DaMigra e.V.)
Mehr im DDF-Dossier zum Thema westdeutscher migrantischer Perspektiven auf Wende und Transformation in dem Beitrag Einheit aus Vielfalt. Eine Kooperation von DaMigra und DDF im Rahmen der Veranstaltungsreihe ,Einheit aus Vielfalt?‘.