„Mit der Pille war der Kapitalismus sehr schnell da“

Aufgewachsen und sozialisiert in der DDR betreibt sie seit 1996 eine gynäkologische Praxis in ihrer Herkunftsstadt. Wie erlebte sie den Systemwechsel im Ausbildungs- und Arbeitsalltag? Persönliche Einblicke aus der Perspektive einer ostdeutschen Gynäkologin.

DDF: Wie haben Sie als heranwachsende Frau die DDR der 1970er und 1980er Jahre erlebt – haben Sie sich als gleichberechtigt wahrgenommen?

Interviewpartnerin: Es war ja Grundtenor in der DDR, dass es Gleichberechtigung gab. Hier war es völlig selbstverständlich, mit einer gewissen Bildungs- und Chancengleichheit aufzuwachsen. Was darunter zu verstehen war, habe ich erst in der Nachwendezeit erkannt – oder vielleicht sogar erst heute. Heute sehe ich, was Frauen alles nicht mehr können oder wo es schwieriger ist, obwohl sie eigentlich mehr Möglichkeiten haben.

1989 war ich im fünften Studienjahr. Das Studium hatte 12 Semester und das wurde auch ganz streng durchgezogen, es sei denn, man hat ein Kind bekommen oder litt an einer schweren Erkrankung. Ich habe meine Diplomarbeit am 5. Oktober 1989 verteidigt. Zu diesem Zeitpunkt hätte ich mich in keinem Fall politisiert, auch oder gerade um meinen Studienabschluss nicht zu gefährden. Für mich war die DDR mit meinem 27. Lebensjahr vorbei. Und bis dahin habe ich dort ziemlich DDR-typisch gelebt.

Im Umbruch organisierte sich auch die Frauenbewegung der DDR. Der Unabhängigen Frauenverband stritt für die Beibehaltung der in der DDR geltenden Fristenlösung. Wie haben Sie diese Debatten erlebt? 

Zu dieser Zeit war ich in meiner Facharztausbildung. Ich habe in Leipzig Medizin studiert, 1996 habe ich meine Praxis eröffnet. Ich habe die Debatten schon mitbekommen, meine Arbeitspraxis betrafen sie kaum. Aus meiner Sicht interessiert das Rechtliche auch die Frauen gar nicht so. Für sie stellt sich eine simple Frage: Kriege ich den Abbruch oder kriege ich ihn nicht, wenn ich ihn brauche?

Ich habe mich in diesem Sinne nicht politisch engagiert, ich wollte einfach nur Frauenärztin werden. Das wusste ich, seitdem ich mit 17 das erste Mal im Kreissaal stand. Ich habe damals in der Klinik ein Praktikum gemacht und wollte unbedingt einmal eine Geburt sehen. Das durfte ich dann auch und von da stand für mich fest: Das ist mein späterer Arbeitsplatz.

In der Geschichte des § 218 wird immer wieder die unzureichende Einbindung des Themas Schwangerschaftsabbruch in das Medizinstudium kritisiert. Inwiefern war dies Teil Ihrer Ausbildung in der DDR? 

Das Thema Schwangerschaftsabbruch ist mir später in der Ausbildung höchstens über Bekannte begegnet, die selbst eine Abtreibung in Erwägung gezogen haben. Den § 218 gab es ja in der DDR als Rechtsgrundlage nicht. Das Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft wurde am 9. März 1972 von der Volkskammer der DDR beschlossen. Nach diesem erhielten Frauen das Recht, innerhalb von zwölf Wochen nach dem Beginn einer Schwangerschaft über deren Abbruch eigenverantwortlich zu entscheiden. Bestimmt war das Thema also Bestandteil des Studiums, das kann ich gar nicht mehr genau sagen.

Was in der DDR so anders war, war vielmehr, wie Schwangere oder Frauen insgesamt betreut wurden. Das war anders organisiert. Der Schwangerschaftsabbruch oder die Schwangerenbetreuung und jedwede ärztliche Tätigkeit wurden nicht zusätzlich vergütet. Alle Ärzt*innen erhielten ein Gehalt. Die medizinische Versorgung hatte daher mit Geldverdienen nichts zu tun.

Und wie gestaltete sich die Situation für Frauen, die abreiben wollten? 

In die Situation eines Schwangerschaftsabbruchs hätte eigentlich kaum eine Frau zu DDR-Zeiten kommen müssen, die nicht Opfer einer Gewalttat wurde. Die Empfängnisverhütung war kostenlos. Man bekam die Pille auf Rezept und musste dafür nichts bezahlen. Sicherlich wurden dennoch bestimmt häufiger als heute Abbrüche durchgeführt, vielleicht auch weil es kein Geld kostete. Es kostete die Frau die Entscheidung. Das ist vielleicht der größte Unterschied. Im Osten wurden Abtreibungen nicht weiter thematisiert, dieses Recht wurde in einer psychischen Notsituation einfach wahrgenommen. Das war ein großes Selbstbestimmungsrecht.

Eher befremdlich fand ich daher zum Beispiel Aktionen wie im Magazin Stern „Wir haben abgetrieben“. Im Osten wurde es eher mit einem „Mir ist das auch passiert“ begleitet. Charlotte Worgitzky war mit dem Buch „Meine ungeborenen Kinder“ wohl die erste, die den Schwangerschaftsabbruch thematisierte. Das fand ich interessant. Und in DDR und Ostdeutschland fehlte der staatliche religiöse Rückhalt: Die Kirche hatte nicht diesen Einfluss, den sie im Westen hat. Ich sage ja immer, jetzt haben wir wieder die 1950er Jahre – besonders jetzt während der Covid-19-Pandemie. Die Frauen müssen Kinder, Küche und Homeoffice bestreiten, was eine DDR-Frau so niemals musste.  

Pille
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Als erste CDU-geführtes Bundesland führt Mecklenburg-Vorpommern die kostenlose „Pille auf Krankenschein" ein. Die Landesregierung will damit die früher in der DDR geltende Regelung aus sozialen Gründen weiterführen. Zum "Nulltarif" soll es die Pille zunächst bis zum Jahresende 1991 geben.

Unmittelbar nach 1990 sank in den neuen Bundesländern die Geburtenrate sehr stark. Frauen ließen sich teilweise sterilisieren. Worin sehen Sie darin die Gründe? 

Die Frauen waren pillenmüde und wollten die Pille nicht mehr nehmen, deshalb haben sie sich mit 30 sterilisieren lassen, was der frühestmögliche Zeitpunkt für die Durchführung einer Sterilisation ist. Eine Frau mit 30 hatte in der DDR zwei bis drei Kinder – das Thema Kinderkriegen war sozusagen erledigt. Und die damals 20-Jährigen haben plötzlich keine Kinder mehr bekommen, weil sie mit der Ausbildung noch nicht fertig waren, das Leben im Staatssystem der Bundesrepublik ungewiss war und Unterstützungsstrukturen wegfielen. Zu DDR-Zeiten konnte eine Frau, wenn sie ein Kind bekommen hat, ein Jahr bezahlt zu Hause bleiben. Danach stand ihr selbstverständlich ein Kita-Platz zur Verfügung, natürlich wurde auch ihr Arbeitsplatz erhalten. Für ein Kind bekam man 1.000 DDR-Mark für nötige Anschaffungen. Andererseits wurde die Rolle der Frau ja in der DDR deswegen so hochgehalten, weil Arbeitskräfte fehlten. Diese Wendegeneration hatte also plötzlich keine Orientierung mehr. Das war der große Umbruch.  

1993 hatte ich in der Frauenklinik fast täglich drei bis vier Frauen, die ich über eine Sterilisation aufgeklärt habe. Hier spielte sicherlich auch eine Rolle, dass die Pille nun auch Geld kostete gegenüber der damals noch kostenfreien Sterilisation. Heute kostet dieser Eingriff bis zu 1.000 Euro. Mit der Pille war der Kapitalismus sehr schnell da. Heutzutage bekommen Frauen auch immer später Kinder, so zwischen 35 und 40 Jahren, und die Verhütungsmittel sind sehr gut geworden. Mit dem 40. Lebensjahr sinkt die Chance, eine Schwangerschaft zu erleben, auf zwei Prozent. Ein Schwangerschaftsabbruch wird daher nicht oft in meiner Praxis angefragt.

Das heißt die Anfragen für Abbrüche sind auch bei Ihnen sehr gering?

Ich habe in diesem Jahr zwei Mal einen Wunsch nach Schwangerschaftsabbruch gehabt und im ganzen letzten Jahr vielleicht fünf. Es ist in der täglichen Sprechstunde kein großes Thema, wenn man jetzt mal annimmt, dass ich 45 Wochen im Jahr arbeite. Es kommt also vor, aber beherrscht nicht meinen Alltag. Ich selbst informiere nicht öffentlich über Schwangerschaftsabbrüche. Dennoch bin ich darüber schockiert, dass unsere heutige Arbeit noch immer auf der Rechtsprechung von 1871 basiert. Die Frau wird ja kriminalisiert und die Ärzt*innen gleich mit.

Als Jugendliche habe ich den Film Cyankali nach dem Roman von Friedrich Wolf gesehen. Da habe ich mir geschworen, dass ich niemals in meinem Leben einen Abbruch haben möchte. Viele Frauen sind damals gestorben, weil Engelmacherinnen unsaubere Instrumente benutzen oder die Frauen selbst Stricknadeln für einen Abbruch benutzten. Und das spielt natürlich immer mit eine Rolle, dass Ärzt*innen einen Abbruch ohne gesundheitliche Risiken für die Frauen durchführen können, das muss grundlegend gewährt sein.

Und es gibt ja auch keinen Abbruch auf Wunsch, wie das manchmal dargestellt wird. Wenn eine Patientin sagt, sie möchte einen Schwangerschaftsabbruch, kann ich das zwar als Ärztin hören. Nach § 218 dürfte ich die Frau aber gar nicht weiter betreuen – nur, wenn ich ihr Leben rette. Wenn die Frau der Meinung ist, sie nimmt sie sich das Leben, weil sie das Kind auf keinen Fall kriegen möchte – darf ich das Leben der Frau retten. Es gibt noch die medizinische Indikation, wenn eine Frau durch oder mit ihrer Schwangerschaft sterben könnte – dann darf sie gerettet werden. Und es gibt auch noch die Möglichkeit nach kriminalistischer Indikation, sprich nach Vergewaltigung – auch hier könnte ein Abbruch durchgeführt werden. Und dies ist ja nur straffrei gesetzt, wird also nicht bestraft, aber gilt noch immer als verwerfliche Tat. Das empfinde ich im 21. Jahrhundert unvorstellbar, besonders deshalb, weil hier noch eine Rechtsprechung aus dem 19. Jahrhundert gilt.

Welche Haltung junger Frauen erleben Sie in der Praxis gegenüber Verhütung und Schwangerschaftsabbruch?

Im Moment finde ich es sehr schwierig, da sich gerade bei den jungen Frauen eine hohe Hormonskepsis zeigt, die sicherste Verhütung jedoch die mit Hormonen ist. Die jungen Frauen haben so viele Wahlmöglichkeiten, dass sie eben auch sagen, Hormone kommen für mich nicht in Frage. Wenn ich nachfrage, herrscht teilweise viel Halbwissen. Sie möchten keine Pille nehmen, weil es anstrengend sei, diese zu bestimmten Zeiten nehmen zu müssen oder sich ihr Körper durch Hormone fremdgesteuert anfühlt. Aber die Pille ist und bleibt tatsächlich eine sichere Verhütungsmethode.

Wie stehen Sie zur aktuell bestehende Beratungsverpflichtung für ungewollt schwangere Frauen? 

Ich finde das vertretbar. Sie ist eine Grundvoraussetzung, damit Ärzt*innen den Abbruch vornehmen können. Wenn man sich jetzt einfach sagt, die Frau muss sich das eben reiflich überlegt haben, heißt das ja mehr oder weniger, drei Mal darüber zu schlafen. Ich habe auch von den Frauen bisher nie Negatives über diese Beratung gehört. Im Gegenteil, sie erhalten manchmal noch Information über mögliche finanzielle Zuschüsse für den Schwangerschaftsabbruch. Ich habe nie das Gefühl, dass die Frauen dort schlecht behandelt werden, sondern eher vielleicht noch etwas erfahren oder eine Möglichkeit aufgezeigt wird, wie der Abbruch dann auch für die Frau reibungslos ablaufen kann.

Meine Erfahrung ist: Die, die den Abbruch wollen und dorthin gehen, bekommen ihn auch. Ich habe manchmal Frauen, die zu mir kommen und fragen: „Sind Sie dann enttäuscht, wenn ich zum Abbruch gehe?" Darauf antworte ich: „Nein, ich bin niemals enttäuscht. Ich lebe nicht ihr Leben und ich behandele sie danach auch nicht anders als vorher.“  Jede einzelne Frau weiß für sich am besten, warum und wann Sie einen Abbruch für nötig hält. 

Das Gespräch wurde zum Schutz der Privatsphäre der Interviewpartnerin anonymisiert.

Stand: 17. Mai 2021
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