Über Miss Marples Schwestern (MMS)
Wie das Netz geknüpft wurde1
„Die Wurzeln des MMS-Netzwerks sind vielfältiger Art: die Frauensommeruniversitäten und die Historikerinnentreffen der 70er-Jahre, die ‚Geschichte von unten‘-Bewegung der Geschichtswerkstätten, die Frauenarchivebewegung, die Ausstellungs- und Museumsprojekte der 80er-Jahre und die Frauenprojekte vor Ort.“2
Aus der Spurensuche der neuen Frauenbewegung nach der vergessenen und verdrängten Geschichte von Frauen entstanden schon in den 1970er-Jahren erste Rundgänge zu Frauenorten. Seit Mitte der 1980er-Jahre wurden Maschen für ein Netzwerk geknüpft, das sich schließlich 1990 in Berlin im FrauenForschungs-, -Bildungs- und -Informationszentrum (FFBIZ) konstituierte.3 Dr. Gabriele Wohlauf, Mitinitiatorin und langjährige Impulsgeberin des MMS-Netzwerkes, hatte dort zusammen mit anderen einen frauenhistorischen Spaziergang unter dem Motto „Charlottenburg, du frauenfreundlichste unter den Städten ...?“ entwickelt.4
„In Westdeutschland gibt es mehr als 30 AGs, die zur örtlichen Frauengeschichte arbeiten. Am 23. und 24. Juni 90 trafen sich in Berlin in den Räumen des FFBIZ 32 Frauen aus 13 Städten der BRD, der Schweiz und aus Österreich, um ihre Vereinzelung aufzuheben, sich auszutauschen und gemeinsame Belange zu diskutieren. Die Themenpalette reichte von Theorie und Praxis und Präsentationsformen zu Anbindung und Finanzen bis hin zu Perspektiven. Dabei stellten wir den großen Bedarf an Infoaustausch und Zusammenarbeit fest; was lag da näher als ein Netzwerk zu gründen; wir nennen uns: Miss Marples Schwestern.“5
Mit Miss Marple und Lupe auf Spurensuche
Das Frauengeschichtsnetzwerk nach Agatha Christies berühmter Detektivin zu benennen, schlugen Hamburgerinnen vor. Sie hatten sich bereits 1985 bei der Ausstellung ‚Hammonias Töchter‘ im Museum für Hamburgische Geschichte als Miss Marples Schwestern bezeichnet.6
Die Namensgeberin steht für Scharfsinn, Schlitzohrigkeit und Hartnäckigkeit, ohne die Frauen und ihr Wirken in der Geschichte nicht aufzuspüren, alternative Herangehensweisen und Sichtweisen nicht durchzusetzen sind. Und die Exkursionen sollen spannend wie ein Krimi sein.
Im MMS-Logo wird das Venuszeichen zur Lupe, die von Frauen hinterlassene Spuren in Form von Fuß- und Schuhabdrücken sichtbar macht. Von Miss Marples Schwestern aus dem Schwarzwald 1996 auf ein Geschirrtuch gedruckt, verweist das transportable Erkennungszeichen bei Rundgängen gleichzeitig auf unsichtbare Frauenarbeit.
Wer sind die Schwestern von Miss Marple?
Zu MMS gehören Frauengeschichtskooperationen sowie Einzelfrauen aus Frauenorganisationen, -projekten und -institutionen, aus Universitäten, Museen und Archiven. Das Spektrum reicht von der Historikerin bis zur engagierten Laiin.
1994 präsentierte MMS 24 Orte mit Frauengeschichtsrundgängen
in einer Broschüre,7 1996 waren es 47.8 Seit 1999 informiert die MMS-Homepage über die lokalen Angebote.9
Wie arbeitet das Netzwerk?
„Das Netzwerk ist dezentral organisiert und arbeitet ohne Geschäftsstelle oder bezahlte Mitarbeiterinnen. Es wird getragen vom Engagement der Frauen, die sich den Netzwerkzielen und -methoden verpflichtet fühlen und denen es ein Anliegen ist, ihre inhaltliche wie auch methodische Arbeit im Netzwerk-Kreis zu reflektieren, auszuwerten und weiter zu diskutieren.“10
Zentrales Forum von MMS sind dreitägige Treffen, die von der Gründung 1990 bis 2011 jährlich, seitdem alle zwei Jahre an wechselnden Orten stattfanden. Von 1992 bis 1994 gab es einen Rundbrief.11 2005 wurde eine Mailing-Liste eingerichtet.
Bei den Netzwerk-Treffen werden neue Projekte vorgestellt, Forschungs- und Vermittlungsmethoden, feministische Theorien und Schwerpunktthemen der Frauengeschichte erörtert. Und es gibt Anregungen für die eigene Praxis.
Durch wechselnde Tagungsorte lernten MMS die Frauengeschichtsrundgänge der MMS-Frauen vor Ort, aber auch andere dort aktive Frauenprojekte kennen. Das MMS-Treffen 1992 in Schwerin wurde für viele zur ersten Ost-West-Begegnung.
2009 bei der Jahrestagung im Wendland entdeckten MMS, welch maßgebliche Rolle Frauen im Widerstand gegen das Endlager für Atommüll in Gorleben spielen. Eine MMS-Arbeitsgruppe begann, Zeitzeuginnen zu interviewen. 2011 beim Netzwerktreffen in Freiburg besuchten Miss Marples Schwestern das Frauenradio von Radio Dreyeckland.
Bei einem bundesweiten MMS-Tag boten am 22. und 23. September 2007 die Netzwerkfrauen in ihren Orten gleichzeitig Stadtrundgänge an. In Berlin wurden die mit einer Quote für Straßenbenennungen durchgesetzten Namensgeberinnen rund um den neuen Hauptbahnhof vorgestellt und dieser symbolisch in Clara-Zetkin-Bahnhof umbenannt.
Seit 1995 wurden die meisten Jahrestreffen von MMS in Form einer Broschüre dokumentiert.
Zum Anspruch von MMS
Die MMS-Frauen bekennen sich zu einer parteilichen Geschichte von, über und für Frauen. Das unterscheidet sie von touristischen Angeboten. Sie wollen das Selbstwertgefühl von Frauen heben und sie ermutigen, sich aktiv einzumischen. Um der Gefahr der „Mystifikation der Ahnfrau“ 15 zu entgehen, thematisieren sie auch die Mitwirkung von Frauen an Gewalt und Diskriminierungen – zum Beispiel Täterinnen in der NS-Zeit.
Im Fokus stehen nicht nur berühmte Frauen, sondern die Alltags- und Sozialgeschichte aller Frauen. Monika Scholz (1930-2016) aus Wiesbaden machte schon zu Beginn der 1990er-Jahre Migrantinnen zum Thema. Inzwischen gibt es Rundgänge zu und von Migrantinnen zum Beispiel in Köln, Berlin und Freiburg. Ilona Scheidle engagiert sich seit Jahrzehnten für die Aufarbeitung der Geschichte von Lesben und entwickelte hierzu Rundgänge in Heidelberg und Mannheim.
Statt nur die Lücken in der patriarchalen Geschichtsschreibung zu schließen, geht es um eine andere Herangehensweise und einen anderen Umgang mit Geschichte. Sie wird in ihrer Vielfalt und ihren Widersprüchen aufgefächert,16 statt festgeschrieben und in Schubladen eingeordnet.
Wie vermitteln MMS Geschichte von Frauen?
Es gibt Publikationen, Ausstellungen, Erzählcafés, Lesungen, Inszenierungen und Drehbücher, Filme und Hörspiele, CDs und DVDs, Homepages usw. Aber die wichtigste Vermittlungsform sind Stadtrundgänge, Fahrrad-, Bus- und Schiffstouren.
Gemeinsam wird erkundet, was im Stadtbild an Frauen erinnert. Diskriminierung von Frauen und Sexismus werden sichtbar gemacht, Feminismus wird auf der Straße und dem Gehweg diskutiert. Frauengeschichte trifft auf Gegenwart, wird konkret und alltäglich.
Die Vielfalt der Stationen verhindert die frontale Vermittlung eines geschlossenen Geschichtsbildes. Teilnehmerinnen können sich mit eigenen Geschichten beteiligen. Das gemeinsame Erlaufen wird zum gruppenenergetischen Erlebnis. Frauengeschichte wird damit in Bewegung gebracht und gehalten.
Interaktionsformen zum spielerischen Einbezug der Teilnehmerinnen entwickelte die Berliner ‚Amanda‘-Rundgangsgruppe und deren Nachfolgerin ‚Zeitschritte‘.17 Unter dem Motto ‚Mit allen Sinnen‘ haben Bettina Blum und Kolleginnen in Münster eine Führung für Blinde mit Puppen und Bildern zum Ertasten entwickelt.
MMS sorgen für die Verankerung von Frauengeschichte im öffentlichen Raum
MMS-Frauen haben sich von Anfang an für dauerhafte Erinnerungszeichen engagiert. Schon vor der Gründung des Netzwerkes konnte der Kölner Frauengeschichtsverein mit der Umbenennung der ‚Seidmacher‘ in ‚Seidmacherinnengässchen‘ die Geschichte richtigstellen. In Bad Waldsee trug Margit Hofmeister mit ihrer Initiative für eine Gedenktafel und einer ‚Sibylle-Schuler-Straße‘ zur Rehabilitierung von als ‚Hexen‘ hingerichteten Frauen bei.
Diese Beispiele stehen hier stellvertretend für zahlreiche Gedenktafeln und Straßenbenennungen, die auf MMS-Frauen zurückgehen. In Berlin wurde das erste offizielle Frauenviertel mit zwanzig Frauenstraßennamen durchgesetzt. In Hamburg wurde eine FrauenFreiluftGalerie18 in Kooperation mit Künstlerinnen geschaffen. Und die auf Elke Stolze zurückgehende Idee der ‚FrauenOrte‘ in Sachsen-Anhalt19 hat inzwischen in anderen Bundesländern Nachahmerinnen gefunden.
Rita Bake sorgte mit dem ‚Garten der Frauen‘ auf dem Hamburger Friedhof Ohlsdorf dafür, dass die historischen Grabsteine bedeutender Frauen nicht entsorgt, sondern hier museal mit Erläuterungstafeln aufgestellt werden.20
Seit 2012 gibt es die von Rita Bake erstellte und weiterhin ehrenamtlich gepflegte Datenbank Hamburger Frauenbiografien.21 Die Informationen über Wohn- und Wirkungsstätten von Frauen sind seit 2018 auch als App abrufbar.22
Für die als Lesbe verfolgte Aktivistin Hilde Radusch gelang es MMS 2012, einen Gedenkort durchzusetzen und ihre letzte Ruhestätte zum Ehrengrab des Berliner Senats erklären zu lassen.
MMS haben viel bewegt und erreicht. Aber Frauen sind nach wie vor weder in der Geschichte noch in der Gesellschaft gleichgestellt. Miss Marples Schwestern bleibt also noch viel zu tun.
Das Archiv von MMS wurde 2018 an das FFBIZ – das feministische Archiv e.V. in Berlin übergeben.
Netzwerk von Miss Marples Schwestern (MMS)
Biografie von Miss Marples Schwestern (MMS)
Fußnoten
- 1 Vgl. Miss Marples Schwestern – Netzwerk zur Frauengeschichte vor Ort, ca. 1990; 1994; 1996, BAF e.V., Bildungszentrum und Archiv zur Frauengeschichte Baden-Württembergs, Tübingen, A 2 - BAF Graue Literatur / GL 236; Frauenhistorische Stadtrundgänge, 1986-, FFBIZ – das feministische Archiv e.V., Berlin, A Rep. 400 BRD 20.18.21.
- 2 20 Jahre MMS. 1989–2009. Miss Marples Schwestern – Historische Spurensuche nach Frauen vor Ort. Netzwerk zu Frauenstadtrundgängen und -fahrten in Deutschland, Belgien, Österreich, Tschechien und der Schweiz, o.O. 2009, S. 169.
- 3 Einladung zum Gründungstreffen vom 15.5.1990, Bericht vom Treffen vom 23. bis 24. Juni im FFBIZ in Berlin, Pressemitteilung, in: Scheidle, Ilona / Miss Marples Schwestern: „Erinnern und Gedenken – Hat Gedenken ein Geschlecht?“ Dokumentation der 10. Jahrestagung von Miss Marples Schwestern – Netzwerk zur Frauengeschichte vor Ort, Wiesbaden 2000, S. 20–27.
- 4 Arbeitsgruppe Historischer Stadtrundgang im FFBIZ (Hg.): „O Charlottenburg, du frauenfreundlichste unter den Städten...?“, Wege zur Frauengeschichte Charlottenburgs 1850 – 1930, Berlin 1989.
- 5 Körner, Marianne / Miss Marples Schwestern: Zur Gründung des Netzwerkes zur Frauengeschichte am Ort, in: 20 Jahre MMS, S. 49.
- 6 Miss Marples Schwestern im Archiv, in: Hamburger Frauenzeitung, Nr. 11, 1985, S. 12.
- 7 Autorinnenkollektiv: Miss Marples Schwestern – Historische Spurensuche nach Frauen vor Ort, Regensburg 1994.
- 8 Lila Archiv (Hg.): Miss Marples Schwestern – Historische Spurensuche nach Frauen vor Ort. Frauenstadtrundgänge und -fahrten in Deutschland, Belgien, Österreich, Tschechien und der Schweiz, Berlin 1996.
- 9 letzter Zugriff am 26.08.2019 unter http://www.miss-marples.net/cms/website.php?id=angebote.htm.
- 10 Miss Marples Schwestern, Frauengeschichte in Szene gesetzt: Personen. Orte. Ereignisse. Dokumentation der 16. Jahrestagung des MMS-Netzwerkes, 1.–4. Juli 2005 in Berlin, Berlin 2005, S. 8.
- 11 Miss Marples Schwestern-Rundbrief 1992-1994.
- 12 Landeszentrale für politische Bildung Hamburg (Hg.): Frauen im Rathaus. 7 Szenen zu einer thematischen Führung im Hamburger Rathaus, gespielt vom Ohnsorg-Theater. Konzeption, Vorlagen u. Einführung: Rita Bake u. Birgit Kiupel. Dramaturgie: Hartmut Cyriacks u. Peter Nissen, Hamburg 1998.
- 13 Wilsdorf, Luise: Theaterpädagogische Werkstatt: Miss Marples Schwestern inszenieren Frauengeschichte, in: Miss Marples Schwestern / Bildungszentrum und Archiv zur Frauengeschichte Baden-Württembergs BAF e.V. Tübingen (Hg.): FrauenGeschichteVermitteln – Analyse – Methoden – Praxis. Dokumentation der 15. Jahrestagung des Netzwerkes Miss Marples Schwestern, 30. Juli–1. August 2004, Bad Urach, Haus auf der Alb, Tübingen 2004, S. 34.
- 14 letzter Zugriff am 26.08.2019 unter http://www.frauenzimmergeschichten.de.
- 15 Kätzel, Ute: Geschichtsrundgänge als Mystifikation der Ahnfrau? Protokoll der Tagung Miss Marple’s Schwestern in Regensburg 1993, in: 20 Jahre Miss Marples Schwestern, S. 69 f.
- 16 Gélieu, Claudia v. / Dörr, Bea: Bericht Plenum: Miss-Marples-Fächer statt TÜV-Plakette – Wir fächern die Frauengeschichte auf, in: Miss Marples Schwestern / Bildungszentrum und Archiv zur Frauengeschichte Baden-Württembergs BAF e.V. Tübingen (Hg.): FrauenGeschichteVermitteln – Analyse – Methoden – Praxis. Dokumentation der 15. Jahrestagung des Netzwerkes Miss Marples Schwestern, 30. Juli–1. August 2004, Bad Urach, Haus auf der Alb, Tübingen 2004, S. 47 ff.
- 17 Miss Marples Schwestern in Leipzig. Protokoll. Jahrestagung 1995 des bundesweiten Netzwerkes Miß Marples Schwestern – Historische Spurensuche nach Frauen vor Ort, 9.–11. Juni 1995 in Leipzig, Leipzig 1995, S. 3 u. S. 23 f; Scheidle, Ilona / Miss Marples Schwestern (Hg.): Erinnern und Gedenken – Hat Gedenken ein Geschlecht? Dokumentation der 10. Jahrestagung von Miss Marples Schwestern – Netzwerk zur Frauengeschichte vor Ort, Wiesbaden 2000, S. 63–75; Miss Marples Schwestern Berlin (Hg.): Frauengeschichte in Szene gesetzt: Personen. Orte. Ereignisse. Dokumentation der 16. Jahrestagung 1.–4. Juli 2005 in Berlin, Berlin 2005, S. 7884 [PDF-Datei]; Jaiser, Constanze u.a.: Von Talkshows und Wäscheleinen. Ein anderer Weg in die Gedenkstätte Ravensbrück, Berlin 2009;
- 18 http://frauenfreiluftgalerie.de/
- 19 http://www.frauenorte.net/.
- 20 http://www.garten-der-frauen.de
- 21 http://www.hamburg.de/clp/frauenbiografien-suche/clp1/
- 22 https://play.google.com/store/apps/details?id=com.phimobile.hamburg.frauenbiografien