Hilde Radusch Geboren am in Altdamm bei Stettin Gestorben am in Berlin

Über Hilde Radusch

Lesbisch - kommunistisch - frauenbewegt. Hilde Radusch war eine der wenigen politisch engagierten Frauen, die den Brückenschlag zwischen den Frauengenerationen vor und nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglichte.

 Hilde Radusch glaubte daran, dass eine Frau Politik machen könnte „wie ein Mann unter Männern“1. Für die kommunistische Partei riskierte sie im Berlin der 1920er- und 30er-Jahre ihr Leben in Freiheit, von den Nazis wurde sie schließlich in den Untergrund getrieben. Hilde Radusch war eine der wenigen politisch engagierten Frauen, die den Brückenschlag zwischen den Frauengenerationen vor und nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglichte.

Kinder- und Jugendtage

Hildegard Auguste Adelaide Marie Radusch, kurz Hilde Radusch, kam am 6. November 1903 in Dąbie (deutsch: Altdamm), einem Stadtteil von Szczecin (deutsch: Stettin), zur Welt. Dort wuchs sie im preußischen bürgerlich-konservativen Haushalt ihrer Eltern auf. Ihre Mutter Gertrud Radusch (1896–1944), geborene Brucks, war Hausfrau, während ihr Vater Adolf Radusch (1875–1915) als Beamter im mittleren Dienst bei der Post tätig war. Hilde Radusch pflegte eine enge Beziehung zu ihrem Vater, der sie unter anderem im Umgang mit Schusswaffen schulte.2  Ab 1913 schickten die Eltern ihre Tochter auf das Lyzeum, eine höhere Schule für Mädchen, im rund 600 Kilometer entfernten Aschersleben. Nachdem der Vater 1915 im Ersten Weltkrieg gefallen war, zog Hilde Radusch mit ihrer Mutter in das nahegelegene Weimar, wo sie ihre Schullaufbahn auf dem örtlichen Lyzeum fortsetzte. Nach ihrem Schulabschluss besuchte sie, auf Wunsch ihrer Mutter, ein Jahr lang das Pensionat, um auf ihre künftige Rolle als Haus- und Ehefrau vorbereitet zu werden.3  Mit dieser Rolle konnte sich Hilde Radusch jedoch nie identifizieren, wodurch sie gegen die Konventionen ihrer Zeit verstieß. Anders als es von ihr als junger Frau erwartet wurde, suchte sie geistige Herausforderung und interessierte sich für Kunst, Philosophie und Religion. Überhaupt fühlte sie sich nie als Frau, „[…] aber frag mich nicht als was sonst“4, wie sie es in späteren Jahren über sich selbst sagen würde.

Aufbruch nach Berlin und Beginn der kommunistischen Laufbahn

Da das Verhältnis zur Mutter schlecht war, entschied sich Hilde Radusch bald für ein Leben möglichst weit entfernt von ihr, wovon sie sich mehr Freiheit versprach.5  So zog sie 1921 nach Berlin, wo sie eine Ausbildung zur Kinderhortnerin am Pestalozzi-Fröbel-Haus aufnahm. Noch im selben Jahr wurde sie Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes. Da sie nach dem Ende ihrer Hortnerinnenausbildung, abgesehen von einigen kurzen Tätigkeiten als Kindermädchen, keine dauerhafte Anstellung fand, nahm sie 1923 eine Arbeit als Telefonistin bei der Post an. Dort waren viele junge, ausschließlich ledige Frauen beschäftigt. An ihrem Arbeitsplatz lernte sie ihre erste Freundin Maria kennen. Die beiden verliebten sich und zogen bald darauf in eine gemeinsame Wohnung.6
In der Kommunistischen Partei engagierte sich Hilde Radusch ab 1925 für den Roten Frauen- und Mädchenbund, eine Nebenorganisation des Roten Frontkämpferbundes. Sie liebte Demonstrationen und bildete Frauen im Aufmarschieren aus, schrieb für die Zeitung Frauenwacht und hielt Reden auf den Veranstaltungen des Bundes. Und auch in der Post ließ sie sich nichts gefallen; deshalb wurde sie von ihren Kolleginnen 1927 in den Betriebsrat in Berlin-Mitte gewählt. Von dort begann sie ihre Karriere – erst stieg sie auf in den Betriebsbeirat für ganz Berlin und später in den Zentralbetriebsrat für das Gebiet der Deutschen Reichspost. Zudem bekleidete sie in den Jahren von 1929 bis 1932 das Amt der Stadtverordneten für die KPD in Berlin-Mitte.7 Die Entwicklung der Frauenbewegung verfolgte sie, ohne jedoch daran teilzunehmen.8

Widerstand gegen die Nazis und Leben im Untergrund

Ihr politisches Engagement in der kommunistischen Partei brachte Hilde Radusch bald in Schwierigkeiten. 1930 verlor sie ihre Anstellung bei der Post und musste sich fortan mit wechselnden Tätigkeiten über Wasser halten. Nach der Machtübertragung der Nationalsozialist*innen wurde Hilde Radusch am 6. April 1933 für sechs Monate in Schutzhaft genommen. Wieder auf freiem Fuß beschlossen sie und ihre Freundin Maria einvernehmlich, fortan getrennte Wege zu gehen, um sich vor der Verfolgung durch die Nationalsozialist*innen zu schützen, denn Radusch wurde aufgrund ihrer Parteizugehörigkeit fortan von der Gestapo überwacht.9 In den darauffolgenden Jahren, von 1934 bis 1936, war sie zunächst als Arbeiterin in verschiedenen Abteilungen bei Siemens beschäftigt und hatte später wechselnde Arbeitsverhältnisse als Büroangestellte inne, immer wieder musste Radusch ihren Wohnort ändern. Da so wechselnde Kriminaldirektoren für sie zuständig waren, konnte sie die Gestapo eine Zeitlang abhängen.

Das Jahr 1939 brachte eine große Veränderung für Hilde Radusch: In dieser Zeit lernte sie ihre Nachbarin Else Klopsch, genannt Eddy, näher kennen. Schon bald nachdem sie sich einander ihre Homosexualität offenbart hatten, verliebten sich die beiden Frauen und wurden zu lebenslangen Gefährtinnen. Um sich und ihre Freundin durch die harten Kriegsjahre zu bringen, eröffnete Else Klopsch entgegen aller Widerstände seitens der SA einen Privatmittagstisch. Da sie mit einem ehemaligen Schutzhäftling zusammen wohnte, wollte die SA Klopsch anfangs keine Erlaubnis dazu erteilen.10  Nachdem Klopsch durch Mut und einen erfolgreichen Gerichtsprozess schließlich doch die Erlaubnis zur Eröffnung der „Lothringer Küche“ erhielt, nutzte sie die Möglichkeit, um mithilfe von Essensspenden Jüdinnen und Juden sowie andere Verfolgte zu unterstützen. Kriminalisiert und überwacht durch die Nazis und mit einem Bein in der Illegalität erkannten die beiden Frauen die Zeichen der Zeit und bauten sich im Sommer 1943 eine kleine Laube in Prieros, einem Ort im Berliner Umland. Die Laube diente als Wochenenddomizil – und als zweiter „geheimer Wohnsitz“ für Notfälle.11

Im August 1944 wurden im Zuge einer Verhaftungswelle die letzten sich in Freiheit befindenden Funktionär*innen von SPD, Zentrumspartei und KPD festgenommen. Dank einer Warnung konnte Hilde Radusch ihrer Verhaftung durch die Nazis zuvorkommen und sich mit Else Klopsch nachts in einem Ruderboot heimlich nach Prieros absetzen. Dort, wo die beiden ohne Lebensmittelkarten fast verhungerten, entstand das wohl eindrucksvollste Schriftstück Hilde Raduschs: ihr Kriegstagebuch. Das außergewöhnliche Zeitdokument beschreibt sowohl den harten Alltag im Untergrund, wie zum Beispiel das Hungerdelirium Else Klopschs, als auch ihre persönliche Sicht auf die Kriegsereignisse.12

Schwere Jahre nach Kriegsende

Die beiden Frauen überlebten die Nazi-Diktatur knapp und beteiligten sich trotz ihrer schlechten körperlichen Verfassung sofort nach Kriegsende am Wiederaufbau. Hilde Radusch bekam über ihre politischen Kontakte eine Stelle im Bezirksamt Berlin-Schöneberg in der Abteilung Opfer des Faschismus. Jedoch wurde sie bereits ein Jahr später entlassen, wohl weil sie zuvor aufgrund persönlicher und politischer Konflikte mit KPD-Genossen aus der Partei ausgetreten war.13 Zudem hatten beide Frauen mit Erkrankungen als Folge der Hungerjahre zu kämpfen. So trat Hilde Radusch nur noch kurzfristige Beschäftigungen an und stockte ihre Rente als Autorin von Artikeln für verschiedene Zeitungen auf. Im Jahr 1960 starb Else „Eddy“ Klopsch.

Neuanfang dank der Neuen Frauenbewegung

Die Neue Frauenbewegung motivierte Hilde Radusch wieder zu politischem Engagement, während sie die alte Frauenbewegung nur als Beobachterin wahrnahm. Die zumeist jüngeren Frauen schätzten Raduschs Erfahrungen, die diese in den 1920er-und 1930er-Jahren gemacht hatte.14 So geht aus dem von 1985 bis 1991 anhaltenden Briefwechsel zwischen Radusch und der 1950 geborenen Pieke Biermann hervor, dass Radusch den Jüngeren beispielsweise dabei half, sich eine differenziertere Meinung zur Komplexität des Nationalsozialismus zu bilden, während sie selbst wiederum vom direkten Kontakt zu den aktuellen feministischen Debatten profitierte und so trotz ihres hohen Alters stets informiert blieb. Häufige Gesprächsthemen waren zum Beispiel Diskriminierung und die Frage, wie man sich dagegen wehren könne.15 Durch die intensiven Debatten entstanden enge Freundschaften. Im November 1974 gründete Radusch gemeinsam mit anderen Frauen wie etwa Käthe Kuse, Tamara Streck und Gertrude Sandmann die Gruppe L74, welche auch die UKZ (Unsere Kleine Zeitung) herausgab, die erste Lesben-Zeitschrift nach dem Zweiten Weltkrieg.16 Die Gruppe wandte sich an Frauen, die älter waren als diejenigen Studentinnen, die sich im Lesbischen Aktionszentrum Westberlin (LAZ) organisierten, und wuchs schnell auf 30 Mitglieder an.17 Die Zeitschrift machte es sich zur Aufgabe, die Verbindung zwischen jungen lesbischen Frauen und ihren „historischen Schwestern aus den Zwanzigern“18 wiederherzustellen, da es – um es mit Käthe Kuses Worten zu sagen – „vielleicht für andere Frauen von Interesse und aufschlußreich [ist], von den Erfahrungen zu hören, die wir gemacht haben.“19 Zu den großen Erfolgen der Zeitung zählte, dass sie zudem auch Lesben in ländlichen Regionen außerhalb der Szenekreise in den großen Städten erreichte.20
Radusch fungierte im Jahr 1978 auch als eines der Gründungsmitglieder des Frauenforschungs-, -bildungs- und -informationszentrums (FFBIZ), das bis heute existiert.

Lebensende und Andenken

Bis zu ihrem Tod am 2. August 1994 wurde Hilde Radusch von Frauen aus der Lesben- und Frauenbewegungsszene – ihrem sogenannten Clübchen – zu Hause betreut.21 Begraben wurde sie in Berlin-Schöneberg auf dem Matthäus-Friedhof. Seit 2012 erinnern in diesem Berliner Bezirk drei Gedenktafeln an Hilde Radusch. An der Kreuzung Winterfeldtstraße/Eisenacher Straße entstand mit ihnen der erste Berliner Gedenkort für eine von den Nazis verfolgte lesbische Frau.22 Im Jahr 2016 wurde ihr Grab von der Stadt Berlin zum Ehrengrab erhoben.23 Eine wissenschaftlich fundierte Publikation über das Leben und Wirken von Hilde Radusch steht noch aus.

Veröffentlicht: 09. Juli 2018
Verfasst von
Annika Viebig B.A.

geb. 1988, Studium der Geschichte und Gender Studies mit Schwerpunkt Frauengeschichte, Projektmitarbeiterin beim DDF-Digitalisierungsprojekt im FFBIZ – das feministische Archiv.

Empfohlene Zitierweise
Annika Viebig B.A. (2024): Hilde Radusch, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/akteurinnen/hilde-radusch
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Zitate von Hilde Radusch

Biografie von Hilde Radusch

Geburt in Altdamm bei Stettin

bis 1913

Besuch des Lyzeums in Aschersleben und Weimar

1921

Eintritt in die KPD

1921 - 1923

Ausbildung zur Kinderhortnerin am Pestalozzi-Fröbel-Haus in Berlin

1933

Sechsmonatige „Schutzhaft“ unter der NSDAP wegen ihrer Tätigkeit bei der KPD

1939

lernt ihre Lebensgefährtin Else „Eddy“ Klopsch kennen

1944 - 1945

Leben in der Illegalität: Hilde Radusch und Else Klopsch verstecken sich in einer Laube im Ort Prieros bei Berlin

1945 - 1946

Verwaltungstätigkeit im Bezirksamt Berlin-Schöneberg, Abteilung „Opfer des Faschismus“

1946

Austritt aus der KPD

1974

Mitbegründerin der Gruppe „L74“ in Berlin, erste Gruppe älterer Lesben

1975

Mitbegründerin der „UKZ“ („Unsere Kleine Zeitung – Zeitschrift von und für Lesben“)

1978

Mitbegründerin des „Frauenforschungs-, -bildungs- und -informationszentrum (FFBIZ)“

Tod in Berlin

Fußnoten

  1. 1 Biermann, Pieke / Haffter, Petra: Muss es denn gleich beides sein? Aus dem Leben einer Aufsässigen, TV-Film, BRD 1985.
  2. 2 Schoppmann, Claudia: Nicht Opfer, sondern immer Kämpferin. Hilde Radusch (Jahrgang 1903), in: Schoppmann, Claudia: Zeit der Maskierung. Lebensgeschichten lesbischer Frauen im „Dritten Reich“, Berlin 1993, S. 32.
  3. 3 FFBIZ. Sammeln, Bewahren, Erinnern – das feministische Archiv e.V., „Nachlass Hilde Radusch“, B Rep. 500 Acc. 300–0, Vorwort.
  4. 4 Scheidle, Ilona: Hilde Radusch | Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, Zugriff am 12.9.2017 unter http://mh-stiftung.de/biografien/hilde-radusch/.
  5. 5 Biermann / Haffter: Muss es denn gleich beides sein?
  6. 6 FFBIZ, B Rep. 500 Acc. 300– 0, Vorwort.
  7. 7 Schoppmann: Nicht Opfer, sondern immer Kämpferin, S. 32.
  8. 8 Biermann / Haffter: Muss es denn gleich beides sein?
  9. 9 Scheidle, Ilona: Hilde Radusch | Bundesstiftung Magnus Hirschfeld.
  10. 10 FFBIZ, B Rep. 500 Acc. 300–0, Vorwort.
  11. 11 Biermann / Haffter: Muss es denn gleich beides sein?
  12. 12 Scheidle, Ilona: Hilde Radusch | Bundesstiftung Magnus Hirschfeld.
  13. 13 Biermann / Haffter: Muss es denn gleich beides sein?
  14. 14 Lenz, Ilse: Lesben werden sichtbar, in: Lenz, Ilse (Hrg.): Die Neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Eine Quellensammlung, Wiesbaden 2008, S. 232.
  15. 15 Veza Clute-Simon: Für mehr feministische Brieffreundschaften!, Zugriff am 08.11.2017 unter https://digitales-deutsches-frauenarchiv.de/blog/fuer-mehr-feministische-brieffreundschaften.
  16. 16 Scheidle, Ilona: Der Nachlass Hilde Radusch (1903 – 1994), in: Grünes Gedächtnis 2013, Berlin 2014, S. 56.
  17. 17 Bornemann, Eva / Trachsel, Helga: Gruppe L74 und die Zeitschrift UkZ (Unsere kleine Zeitung), in: Dennert, Gabriele / Leidinger, Christiane / Rauchut, Franziska: In Bewegung bleiben. 100 Jahre Politik, Kultur und Geschichte von Lesben, Berlin 2007, S. 77.
  18. 18 Biermann / Haffter: Muss es denn gleich beides sein?
  19. 19 Bornemann / Trachsel: Gruppe L74 und die Zeitschrift UkZ (Unsere kleine Zeitung), S. 77.
  20. 20 Bornemann / Trachsel: Gruppe L74 und die Zeitschrift UkZ (Unsere kleine Zeitung), S. 78.
  21. 21 Scheidle, Ilona: Ein Kleinod der Frauen-Lesbengeschichte, in: Grünes Gedächtnis 2013, Berlin 2014, S. 58.
  22. 22 Miss Marples Schwestern – Netzwerk zur Frauengeschichte vor Ort: Hilde Radusch (1903–1994), Erster Gedenkort für eine im NS verfolgten lesbisch lebenden Frau eingeweiht, Zugriff am 12.9.2017 unter www.miss-marples.net/cms/website.php?id=projekte/data2529.htm.
  23. 23 Scheidle, Ilona: Hilde Radusch | Bundesstiftung Magnus Hirschfeld.

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