- Quelle: AddF – Archiv der deutschen Frauenbewegung, Kassel, Sign.: AddF-D1/00054; Foto: Ernst Sandau
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Über Lily Braun
Familiärer Hintergrund
Lily Braun wurde am 2. Juli 1865 geboren als Amalia Jenny Emilie Klothilde Johanna von Kretschmann1 und entstammte dem gutsituierten preußischen Adel. Ihr Vater Hermann von Kretschmann war Offizier, ihre Mutter eine geborene von Gustedt und ihre Großmutter Jenny von Gustedt eine uneheliche Tochter Jerome Bonapartes und Diana von Pappenheims. Die Beziehung zwischen Enkelin und Großmutter war eng und für beide bedeutungsvoll. Jenny von Gustedt fühlte sich ihrer rebellischen Enkelin wesensverwandt und hinterließ ihr als geistiges Erbe ihre Briefe und Tagebücher.2 Lily Braun stellte daraus ihre erste Publikation zusammen.3
1890 fiel der Vater in Ungnade und wurde aus der Armee entlassen, was die Familie vor existenzielle Probleme stellte. Lily nutzte die Chance, dem für sie geplanten Lebensweg als Offiziersgattin zu entgehen und nach Möglichkeiten selbstbestimmter Lebensgestaltung zu suchen. Die Familie lebte inzwischen in Berlin und Lily hatte Kontakt zu politischen und sozialreformerischen Kreisen gefunden. Mit Georg von Gizycki, einem Sozialreformer und sogenannten ‚Kathedersozialisten‘, traf sie auf einen Menschen, der ihr einen neuen geistigen und moralischen Kosmos eröffnete. Sie engagierte sich mit ihm in der Gesellschaft für Ethische Kultur und schrieb in deren Zeitschrift erste Beiträge. Über Gizycki lernte sie die Frauenrechtlerin Minna Cauer kennen. Sie kam in Berührung mit der Sozialdemokratie und las August Bebels Grundlagenwerk Die Frau und der Sozialismus.
1893 heiratete Lily von Kretschmann Georg von Gizycki, das brachte sie in ernsthafte Konflikte mit ihrer Familie. Als sie nach Gizyckis frühem Tod (1895) den Sozialdemokraten Heinrich Braun heiratete, brach sie damit endgültig alle Brücken zu ihrer Herkunftsschicht ab.
Berlin hatte sich als Wendepunkt erwiesen und dem Leben von Lily Braun eine gänzlich neue Richtung gegeben. Sie wurde zur Sozialdemokratin des revisionistischen Flügels der Partei und zur Frauenrechtlerin der bürgerlich-radikalen Frauenbewegung – eine, wie sich zeigen sollte, keineswegs einfache Konstellation.
Wanderin zwischen den Welten
Führende Frauen des revolutionären Flügels wie Ottilie Baader und Clara Zetkin begrüßten Lily Brauns Eintritt in die SPD, sie wurde Autorin der Gleichheit. Doch besonders Zetkin sah in ihr bald schon eine Gegnerin. Die Gleichstellung von Frauen war für sie nicht in kleinen Schritten, sondern nur als Folge des Sieges der Arbeiterklasse zu verwirklichen. Zudem fühlte sie sich wohl von der ihr intellektuell ebenbürtigen Lily Braun in ihrer ansonsten unangefochtenen Führungsrolle bedroht. Lily Braun konnte dem als unerfahrene Genossin und ehemalige Aristokratin kaum etwas entgegensetzen und fand für ihre Ideen – wie zum Beispiel die Hauswirtschaftsgenossenschaften oder die Mutterschaftsversicherung – nur wenig Unterstützung in der Arbeiterinnenbewegung. Clara Zetkin hielt ihre Positionen und Vorschläge für nutzloses Stückwerk. Anna Blos stellte später bedauernd fest: „Dieser Kampf gegen Lily Braun, den Klara Zetkin mit ihrer Gefolgschaft führte, ist ein trauriges Kapitel. Wieviel Gutes hätten diese beiden bedeutenden Frauen mit- oder doch nebeneinander wirken können“.4
Zusammen mit Minna Cauer gab sie noch als Lily von Gizycki 1895 den ersten Jahrgang der Zeitschrift Die Frauenbewegung heraus und wurde Mitglied des Vereins Frauenwohl. Sie hatte große Sympathien für den radikalen Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung, kritisierte aber, dass dieser sich viel zu sehr auf die Belange der Frauen des Bürgertums beschränke. Am Internationalen Kongress für Frauenwerke und Frauenbestrebungen 1896 in Berlin beteiligte sie sich auf Einladung von Lina Morgenstern, nutzte ihren Beitrag aber dazu, die Unzulänglichkeit der bürgerlichen Frauenbewegung anzuprangern und zu zwei parallel stattfindenden Versammlungen der proletarischen Frauenbewegung einzuladen.5
Inmitten all dieser ideologischen und strategischen Flügelkämpfe analysierte sie die Lebenslage der Arbeiterinnen, prangerte in Vorträgen und Artikeln Missstände an und stellte dezidiert Forderungen auf. So war sie eine der ersten, die die Unzulänglichkeit des Mutterschutzes thematisierte und eine umfassende Mutterschaftsversicherung forderte.6
Auch entwickelte sie konkrete Vorschläge für die Umorganisation des Familienlebens, um es der zunehmenden Berufstätigkeit von Frauen aller Schichten besser anzupassen und um der Mehrfachbelastung von Frauen entgegenzuwirken. Ihre Idee der Hauswirtschaftsgenossenschaften war Teil der Debatte um Einküchenhäuser7, die aus den USA kam und seit den 1890er-Jahren auch in Deutschland aufgegriffen wurde. Dabei ging es um Bauprojekte in genossenschaftlicher Organisation, in denen für Kochen, Waschen und Putzen gemeinschaftliche Regelungen gefunden wurden. Das sollte – in verschiedenen Modellen – sowohl Arbeiterfamilien, in denen ja meist auch die Frauen in den Fabriken arbeiten mussten, als auch alleinlebenden berufstätigen Frauen zugutekommen. Lily Braun griff dieses Thema neben vielen anderen in Vorträgen8 und in ihrer Publikation Die Frauenfrage. Ihre geschichtliche Entwicklung und wirtschaftliche Seite9 auf.
Die Publizistin
Die Frauenfrage gilt als Lily Brauns Hauptwerk. Wie der von ihr sehr geschätzte Bebel in Die Frau und der Sozialismus begann sie mit einem Rückblick in die geschichtliche Entwicklung. Doch fokussierte sie weniger auf die Frau im Allgemeinen, sondern auf die ‚Frauenfrage‘, allerdings auch das nicht umfassend, sondern genau genommen auf die ‚Arbeiterinnenfrage‘, also die arbeitsmarkt- und sozialpolitische Lage der Arbeiterinnen. Dazu lieferte sie auf über 500 Seiten detaillierte Analysen und entwickelte Konzepte und Forderungen. Die Frauenfrage gilt bis heute als eines der zeitgenössischen Standardwerke zum Thema. Auffallend ist in diesem Buch, wie auch in vielen ihrer anderen Abhandlungen, dass sie ihre Themen historisch herleitete und in internationale Zusammenhänge stellte.
Lily Braun war nicht nur Autorin, sondern auch Herausgeberin. Mit Heinrich Braun zusammen publizierte sie 1901 bis 1907 die Zeitschrift Die Neue Gesellschaft.
Danach wurde sie literarisch tätig. 1909 und 1911 erschienen in zwei Bänden ihre Memoiren einer Sozialistin: Band 1 Lehrjahre und Band 2 Kampfjahre. Dabei handelt es sich um einen Schlüsselroman, in dem sie mit wenig verfremdeten Namen (Clara Zetkin = Wanda Orbin, Die Gleichheit = Die Freiheit usw.) ihre zwiespältige Geschichte in Sozialdemokratie und Frauenbewegung erzählte. Ob und in welchem Maße hier Autobiografie und Fiktion auseinanderzuhalten sind, ist unklar. Die Frauenfrage und die Memoiren einer Sozialistin waren zu ihrer Zeit erfolgreich, wenn auch umstritten, und erlebten mehrere Neuauflagen. Der Erfolg ihrer Bücher war für Lily Braun auch eine finanzielle Notwendigkeit. Sie hatte nicht nur ihr eigenes Leben zu finanzieren, sondern auch alte Schulden ihres Vaters abbezahlt und die Defizite beglichen, die durch den Misserfolg der Zeitschrift Die neue Gesellschaft entstanden waren.
Die ‚späte Lily Braun‘
Lily Braun hat in späteren Jahren ihre Positionen in mancherlei Hinsicht geändert. Aus dem Kampf für bessere Lebensbedingungen für Mütter und Kinder wurde eine Verherrlichung der Mutterschaft als „Gipfel des Frauentums“.10 Sie warf der Frauenbewegung vor, sich dafür nicht in gleichem Maße einzusetzen wie etwa für rechtliche Gleichstellung.11 Den Ersten Weltkrieg hat sie – so ihre Genossin Adele Schreiber – „mit einer Freudigkeit bejaht, die den meisten von uns fremd ist“.12
Lily Braun starb am 9. August 1916, nur 51-jährig, an einem Schlaganfall . Sie wurde im Garten ihres Hauses in Berlin-Zehlendorf (heute Kleinmachnow) beigesetzt, dort steht bis heute ein Gedenkstein.
Werk und Wirkung
Lily Braun ist bis heute bekannt als eine bedeutende Frau der sozialdemokratischen Frauenbewegung, ihre Werke werden in der historischen Genderforschung rezipiert. Ihr Lebensweg zwischen Arbeiterklasse, Bürgertum und Adel hat verschiedentlich mehr oder weniger belletristische Bearbeitung erfahren, so etwa in der Biografie von Dieter Borkowski13, in dem Roman von Julia von Brencken14 und in dem Film Zerbrochene Brücken.15 Es gibt einige Kurzbiografien, aber eine wissenschaftlich fundierte kritische Biografie fehlt bis heute.
Lily Brauns Nachlass ist nicht erhalten geblieben. Es gibt einige überlieferte Briefe, unter anderem im Nachlass von Julie Braun-Vogelstein im Leo Baeck Institute in New York und auch im AddF liegen elf Briefe von ihr.
Netzwerk von Lily Braun
Zitate von Lily Braun
Biografie von Lily Braun
Fußnoten
- 1 Die Schreibweise variiert in den Quellen zwischen Kretschmann, Kretschman und Kretschmar. In den verfügbaren Originaldokumenten überwiegt Kretschmann.
- 2 Vgl. Schreiber, Adele: Lily Braun, in: Die Staatsbürgerin, 5. Jg., 1916, Heft 6, S. 86.
- 3 Braun, Lily: Aus Goethes Freundeskreis. Erinnerungen der Baronin Jenny von Gustedt, Braunschweig 1892, spätere Auflagen unter dem Titel Im Schatten der Titanen.
- 4 Blos, Anna: Die Frauenfrage im Lichte des Sozialismus, Dresden 1930, S. 37.
- 5 Vgl. Braun, Lily: Frauenbewegung und Sozialdemokratie, Berlin 1896.
- 6 Vgl. dies.: Die Mutterschaftsversicherung, Berlin 1906.
- 7 Vgl. Terlinden, Ulla / Oertzen, Susanne von: Die Wohnungsfrage ist Frauensache, Berlin 2006, S. 138‒158.
- 8 Braun, Lily: Frauenarbeit und Hauswirtschaft, Berlin 1901.
- 9 Dies.: Die Frauenfrage. Ihre geschichtliche Entwicklung und wirtschaftliche Seite, Leipzig 1901
- 10 Dies.: Mutterschaftsversicherung, S. 11.
- 11 Ebenda.
- 12 Schreiber, Adele: Lily Braun, S. 86.
- 13 Borkowski, Dieter: Rebellin gegen Preußen. Das Leben der Lily Braun, Frankfurt a.M. 1984.
- 14 Brencken Julia von (Ps. für Jetta Collignon): Anemonen pflückt man nicht, Heilbronn 1995.
- 15 Zerbrochene Brücken, BR Deutschland 1985/86, Spielfilm im Auftrag von ZDF und ORF.
Ausgewählte Publikationen
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Braun, Lily: Aus Goethes Freundeskreis. Erinnerungen der Baronin Jenny von Gustedt, Braunschweig 1892, spätere Auflagen unter dem Titel Im Schatten der Titanen.
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Braun, Lily: Frauenbewegung und Sozialdemokratie, Berlin 1896.
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Braun, Lily: Frauenarbeit und Hauswirtschaft, Berlin 1901
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Braun, Lily: Die Frauen und die Politik, Berlin 1903.
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Braun, Lily: Die Mutterschaftsversicherung, Berlin 1906.
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Braun, Lily: Memoiren einer Sozialistin, Band 1: Lehrjahre, München 1909.
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Braun, Lily: Memoiren einer Sozialistin, Band 2: Kampfjahre, München 1911.
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Braun, Lily: Gesammelte Werke, Berlin 1923.
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Blos, Anna: Die Frauenfrage im Lichte des Sozialismus, Dresden 1930, S. 37.
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Borkowski, Dieter: Rebellin gegen Preußen. Das Leben der Lily Braun, Frankfurt am Main 1984.
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Braun-Vogelstein, Julie: Lily Braun - Ein Lebensbild, Berlin 1920.
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Schreiber, Adele: Lily Braun, in: Die Staatsbürgerin, 5. Jg., 1916, Heft 6, S. 86.
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Terlinden, Ulla / Oertzen, Susanne von: Die Wohnungsfrage ist Frauensache, Berlin 2006, S. 138‒158.