Über Aktion letzter Versuch

1974 erlebte das deutsche Fernsehen den größten Zensurskandal seiner Geschichte. Ein Beitrag der NDR-Sendung Panorama über eine Abtreibungsmethode wurde abgesetzt. Der Fernsehbeitrag war Teil eines ausgeklügelten Plans der Aktion letzter Versuch, mit dem autonome Frauengruppen bundesweit noch einmal gegen §218 protestierten.

Als sich im Januar 1974 eine Gruppe Frauen in einer Hinterhofwohnung in Berlin-Kreuzberg traf, stand die Bundestagsdebatte um eine mögliche Einführung der Fristenlösung unmittelbar bevor. Die Frauen, unter ihnen Ursula Scheu und Alice Schwarzer, kamen aus dem Umfeld des Berliner Frauenzentrums und hatten erkannt, dass die öffentliche Meinung zu §218 zu kippen drohte. Insbesondere die katholische Kirche machte massiv Stimmung gegen eine Abschaffung des Abtreibungsparagrafen.1  
Unter dem Namen ‚Initiativgruppe 218 letzter Versuch‘ mobilisierten sie noch einmal alle feministischen Kräfte. Sie koordinierten über Rundbriefe eine Aktionswoche, die vom 8. bis zum 16. März 1974 unter dem Namen ‚Aktion letzter Versuch‘ für Schlagzeilen sorgte. Zahlreiche Straßenaktionen, eine im Spiegel veröffentlichte Selbstbezichtigungskampagne von 329 ÄrztInnen – „Hiermit erkläre ich, daß ich ohne finanziellen Vorteil Abtreibungen vorgenommen oder Frauen zur Abtreibung verholfen habe und daß ich das weiterhin tun werde“2  – und der Zensurskandal um den abgesetzten Panorama-Beitrag von Alice Schwarzer hielten die Bundesrepublik in Atem.

Aufruf zum entscheidenden Kampf gegen §218

„Es ist spät, wir sind eilig und fassen uns kurz.“ Mit diesen Worten beginnt der erste Rundbrief3 , den die Initiativgruppe 218 letzter Versuch am 5. Januar 1974 an Frauen autonomer Frauengruppen diverser Städte herausschickte.
Wenige Wochen vor der Bundestagslesung zu § 218 wurden hier alle bewegten Frauen aufgefordert, Ideen und konkrete Vorschläge für dezentrale, politische Aktionen zu sammeln und an die Gruppe zurückzuschicken. Diese Aktionen sollten auch Frauen außerhalb der Frauenbewegung erreichen. Die Gruppe schlug den vorletzten Samstag vor der Bundestagslesung als Protesttag vor, um noch vor der Lesung ein breites Medienecho generieren zu können. 

Initiativgruppe "218 Letzter Versuch" : Rundbrief Nr. 1, 1974

Abgrenzung von linken Gruppen

Initiativgruppe "218 Letzter Versuch" : Rundbrief Nr. 2

Der Vorschlag der Initiativgruppe: alle Vorschläge und Ideen zu sammeln und wiederum an alle aktiven Gruppen weiterzuleiten. So geschah es. Im zweiten Rundbrief4  ging die Initiativgruppe auf den Vorschlag einer Dortmunder Frauengruppe ein, linke Gruppen in die Proteste miteinzubeziehen. Der Vorschlag wurde entschieden abgelehnt. Als männerdominierte Gruppen hätten diese noch keinen wesentlichen Beitrag zum Kampf gegen §218 geleistet. Die Aktion 218 sei von Frauen initiiert und getragen worden: „Für die Frauengruppen mit einem frauenspezifischen Ansatz steht die Aktion 218 klar in der Linie des FRAUENkampfes.“5
Ziel des Protests war es, die zu einem Großteil von Frauen gewählte Regierungskoalition aus SPD und FDP unter Druck zu setzen. Als Mittel der Wahl schlug die Initiativgruppe vor, zeitgleich und bundesweit direkt am Wohnort der Abgeordneten Aktionen zu starten. So sollten PolitikerInnen, die für die Indikationslösung zu stimmen beabsichtigten, umgestimmt und unentschlossene PolitikerInnen für die Fristenlösung gewonnen werden. 

 

Interessenkonflikt mit Brot und Rosen

Am 18. Januar 1974 verschickte die Aktionsgruppe den dritten Rundbrief6 und stellte darin zunächst noch einmal ihre Funktion klar heraus: Durch sie sollten alle Aktionen gebündelt und die Pressearbeit zentral koordiniert werden.
Die Gruppe Brot und Rosen hatte unterdessen eine eigene Großveranstaltung zu § 218 geplant.7 Die Frauen des Berliner Frauenzentrums kritisierten die Wahl der Veranstaltungsform, nämlich ein Teach-in: Ein Teach-in schließe diverse Frauen aus, da dabei nur geplante RednerInnen zu Wort kämen, es aber keine offenen Diskussionen gebe. Unorganisierte Kampfformen seien zum Erreichen der breiten Öffentlichkeit besser geeignet. 

Trotzdem zeigte sich die Initiativgruppe solidarisch und wollte an der Veranstaltung teilnehmen. Gemeinsam mit einer Hamburger Frauengruppe unterbreiteten sie konkrete Vorschläge für den nationalen Aktionstag. So sollte es neben den Demonstrationen Infostände mit Informationen über Abtreibungskliniken geben, dazu Straßentheater, Luftballons und Kinderschminken. Einige der Ideen – beispielsweise Frauen, die gefesselt und geknebelt demonstrieren sollten – wurden in die Tat umgesetzt.

Dritter Rundbrief zu Aktionen gegen Paragraph 218, 18.01.1974

Nationaler Protesttag gegen §218

Vierter Rundbrief zu Aktionen gegen Paragraph 218, 29.01.1974

Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des vierten Rundbriefs8 vom 29. Januar 1974 wurde der Termin der Bundestagslesung zum §218 greifbarer. Als nationaler Protest- und Aktionstag wurde der 16. März 1974 vorgeschlagen. Die Autorinnen regten an, dass im Vorfeld und auch danach weiterhin viel debattiert und demonstriert werden solle, damit nicht dauerhaft die Position der katholischen Kirche die Schlagzeilen bestimmte.
Wichtig sei es, rasch möglichst viele Frauenverbände zu mobilisieren und Druck auf die noch unentschlossenen Abgeordneten auszuüben. Zu diesem Zweck wurden dem Brief Adresslisten der Frauenverbände und von 27 SPD-Abgeordneten beigelegt, die schriftlich informiert bzw. unter Druck gesetzt werden sollten. Genau diese Abgeordneten hatten 1973 einen Gesetzentwurf des SPD-Politikers Adolf Müller-Emmert für eine erweiterte Indikationsregelung unterzeichnet und galten deswegen als noch beeinflussbare potenzielle Stimmen pro Fristenlösung.

Koordinierte Pressearbeit

Am 20. Februar 1974 wurde von Berlin aus der fünfte Rundbrief9  verschickt. Er diente vor allem dazu, die Pressearbeit abzustimmen: Die Koordinationsgruppe schlug vor, bis zum 5. März eine bundesweite Pressemitteilung über die geplanten Aktionen am 16. März herauszugeben. Die autonomen Frauengruppen sollten zusätzlich die Lokalpresse informieren. Als Termin für die Lesung im Bundestag war inzwischen der 25. März 1974 angesetzt worden.
Am 21. März 1974 sollte außerdem in einer Bundestagsdebatte darüber entschieden werden, ob die Kosten für einen Schwangerschaftsabbruch zukünftig von den Krankenkassen übernommen werden müssten. Dies lieferte eine gute Argumentationsgrundlage für die Fristenlösung, denn je früher ein Abbruch erfolge, desto kostengünstiger sei er.

Fünfter Rundbrief zu Aktionen gegen Paragraph 218, 1974

„Eine Regierung, die man (frau) gewählt hat, kann frau (man) auch wieder abwählen.“

Rundbrief zu Aktion gegen Paragraph 218, 11.03.1974

Mit dem letzten Rundbrief10  der Initiativgruppe 218 letzter Versuch vom 11. März 1974 wurde die angekündigte Pressemitteilung verschickt. Daraus geht hervor, dass rund 80 Frauengruppen der autonomen Frauenbewegung und die Aktion 218 für den 16. März 1974 einen nationalen Protesttag gegen § 218 geplant hatten. Die Pressemitteilung machte noch einmal die Position der Aktivistinnen deutlich: Frauen seien die Leidtragenden des §218 und hätten ein Recht darauf, dass ihre Interessen durchgesetzt würden. Andernfalls drohten Konsequenzen: „Eine Regierung, die man (frau) gewählt hat, kann frau (man) auch wieder abwählen.“11  Das spielte darauf an, dass laut Wahlanalysen die ‚emanzipierten Frauen‘ der SPD in den Sattel geholfen hatten: Dank dieser Frauen war nun die SPD erstmals an der Regierung (zusammen mit der FDP). 

Der Spiegel zitierte in seinem Artikel Aufstand der Schwestern zu der Aktionswoche vom 11. März 1974 wiederholt aus der Pressemitteilung und betonte die Besonderheit dieses erneuten Protestes gegen den §218: Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik gingen Frauen und ÄrztInnen gemeinsam gegen das Abtreibungsverbot vor.12

Selbstbezichtigungsaktion und der zensierte Panoramabeitrag

In derselben Ausgabe des Spiegel vom 11. März 1974 bekannten sich 329 ÄrztInnen öffentlich dazu, Frauen ohne finanziellen Profit zur Abtreibung verholfen zu haben.13  Ihre Unterschriften waren von Ursula Scheu und Alice Schwarzer in den Wochen davor gesammelt worden. Die ÄrztInnen solidarisierten sich mit Frauen und forderten „Mindestens die Fristenlösung!“ Denn: „Die Schwangerschaftsunterbrechung ist keine Gnade, sondern ein Recht!“14

Gleichzeitig sollte am 11. März 1974 in der NDR-Sendung Panorama ein Fernsehbeitrag von Alice Schwarzer15  über eine Abtreibung mit der schonenden und in der BRD noch nicht durchgeführten Absaugmethode gezeigt werden.16  Der Beitrag wurde kurz vor Sendebeginn abgesetzt und stellt bis heute einen der größten Zensurskandale des deutschen Fernsehens dar. Aus Protest gegen die Entscheidung des NDR-Intendanten sendete Panorama-Chef Peter Merseburger 45 Minuten lang ein leeres Studio. Alle anderen Autoren hatten ihre Beiträge zurückgezogen. 

Die Aktion letzter Versuch gipfelte in einem nationalen Aktionstag, an dem am 16. März 1974 bundesweit autonome Frauengruppen auf die Straße gingen, um gegen § 218 zu protestieren. Die Proteste wurden gehört: SPD und FDP stimmten am 26. April 1974 für die Fristenlösung.

Stand: 15. August 2019
Verfasst von
Ellen Hanisch, B.A.

geb. 1990, Studium der Vorderasiatischen Archäologie, Islamwissenschaft und Kulturanalysen, 2017–2019 Volontärin im FMT

Empfohlene Zitierweise
Ellen Hanisch, B.A. (2019): Aktion letzter Versuch, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/akteurinnen/aktion-letzter-versuch
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Fußnoten

  • 1FrauenMediaTurm (im Folgenden: FMT), FB.05.045 Akte zur Aktion Letzter Versuch, „Liebe Frauen“, 1974.
  • 2FMT, PD-FE.03.01 Pressedokumentation zu Chronik der Neuen Frauenbewegung, „Aufstand der Schwestern“ in: Der Spiegel, 11/1974 (Kapitel 3.2. Dokumente zur Chronologie der Ereignisse, Spiegel-Artikel zum Thema Abtreibung und Aktion Letzter Versuch), 1974.
  • 3FMT, FB.05.045 Akte zur Aktion Letzter Versuch, „Liebe Frauen“, 1974.
  • 4FMT, FB.05.040 Akte zur Aktion Letzter Versuch, „Initiativgruppe ‚218 letzter Versuch‘ im Frauenzentrum Berlin“, 1974.
  • 5FMT, FB.05.040 Akte zur Aktion Letzter Versuch, „Initiativgruppe ‚218 letzter Versuch‘ im Frauenzentrum Berlin“, 1974.
  • 6FMT, FB.05.042 Akte zur Aktion Letzter Versuch, „Initiativgruppe ‚218 letzter Versuch‘ im Frauenzentrum Berlin“, 1974.
  • 7FMT, FB.07.079 Akte Brot und Rosen, Brot und Rosen: Einladung, 1974.
  • 8FMT, FB.05.041 Akte zur Aktion Letzter Versuch, „Initiativgruppe ‚218 letzter Versuch‘ im Frauenzentrum Berlin“, 1974.
  • 9FMT, FB.05.039 Akte zur Aktion Letzter Versuch, „Rundbrief zu Aktionen gegen Paragraph 218, 20.02.1974“, 1974.
  • 10FMT, FB.05.044 Akte zur Aktion Letzter Versuch, „Initiativgruppe ‚218 letzter Versuch‘ im Frauenzentrum Berlin“, 1974.
  • 11FMT, FB.05.044 Akte zur Aktion Letzter Versuch, „Initiativgruppe ‚218 letzter Versuch‘ im Frauenzentrum Berlin“, 1974.
  • 12Der Spiegel, 1974: Aufstand der Schwestern, Zugriff am 15.08.2019 unter: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41739035.html.
  • 13Der Spiegel, 1974: „Hiermit erkläre ich …“, Zugriff am 15.08.2019 unter: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41739036.html.
  • 14Der Spiegel, 1974: „Hiermit erkläre ich …“, Zugriff am 15.08.2019 unter: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41739036.html.
  • 15FMT, Archivbox 4, Panorama-Spektakulum (1974). - In: FUNK-Korrespondenz Nr. 11, 11./13.03.1974, 1974.
  • 16Schwarzer, Alice (Hg.): § 218: Fristenlösung jetzt! EMMA-Sonderband 6, Köln 1990, S. 15 ff.