Fürsorgepraxis 1933 bis 1945
Welche Bestände zum Thema ‚§ 218 und die Frauenbewegung‘ sind im ASA für den Zeitraum 1933 bis 1945 vorhanden?
Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten erfuhr das Thema Schwangerschaftsabbruch eine klare Verknüpfung mit der Umsetzung der NS-Rassen- und Bevölkerungspolitik und der Selektion von Menschen, unter dem Deckmantel des Schutzes von Ehe, Familie und Mutterschaft. Die Einführung des ‚Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses‘ , in dem die rassenhygienische Sterilisation geregelt wurde und dem die Legalisierung von Zwangssterilisationen 1935 folgte, spiegelt sich auch in den Archivalien des Alice Salomon Archivs. Was Bestände und Quellentypen zum Thema ‚§ 218 und die Frauenbewegung‘ im ASA für den Zeitraum 1933 bis 1945 betrifft, so sind hier im Bestand der Sozialen Frauenschule besonders die Praktikumsberichte, aber auch die Prüfungsklausuren von Schülerinnen interessant.
Die Praktikumsberichte der Schülerinnen, die nicht selten in ihren Berufspraktika in besetzten Gebieten eingesetzt wurden, weil es der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) an qualifizierten Mitarbeiterinnen fehlte, geben einen Überblick über die Organisation und Aufgabenstellung der Praxisstelle und oft auch über die jeweilige Bevölkerung, besonders in ländlichen Gebieten. Es finden sich zahlreiche Berichte von Schülerinnen über Praktika in Gesundheitsämtern oder auch in der ‚Erbbiologischen Landeszentrale für die Provinz Brandenburg an der Landesanstalt Potsdam‛.
So beschrieb die Schülerin Hildegard M. des Jahrgangs 1936/38 der Sozialen Frauenschule Berlin, zu dem Zeitpunkt offiziell ,Soziale Frauenschule des Pestalozzi-Fröbel-Hauses, staatlich anerkannte Schule für Volkspflege‛, in ihrem Praktikumsbericht, wie sie in der Erbbiologischen Landeszentrale die „praktische Beobachtungstätigkeit an den Anstaltskindern selbst“ kennenlernte, aber „auch Gutachtenfälle für Erbgesundheitsgerichte zur Beobachtung auf ihren Geisteszustand in Bezug auf das Sterilisationsgesetz. Regelmäßig wöchentlich fanden sehr eingehende Besprechungen über jeden einzelnen Fall statt, unter Umständen verbunden mit nochmaliger persönlicher Vorstellung und Untersuchung, in Konferenzen des Anstaltsleiters mit den Erzieherinnen und dem Arzt der Abteilung. So hielt Hildegard M. fest: „An diesen Besprechungen habe ich, soweit möglich, während meiner gesamten Praktikumszeit teilgenommen.“
Gertrud R., Jahrgang 1939/41 der Sozialen Frauenschule, absolvierte ein Praktikum im Gesundheitsamt der Stadt Schleiz und wurde hier laut Praktikumsbescheinigung der Schulleitung mit erbbiologischen Ermittlungen beauftragt, die sie sorgfältig durchführte, sowie mit schriftlichen Arbeiten in der Rassenpflege beschäftigt. Sie schrieb dazu in ihrem Praktikumsbericht: „Auch in Erbgesundheitssachen arbeite ich mit. So habe ich z.B. selbst Intelligenzprüfungen mit Schwachsinnigen durchgeführt, nachdem ich mehrmals bei Prüfungen, die meine Fürsorgerin vornahm, dabei war. Die zu jedem Antrag auf Unfruchtbarmachung erforderlichen Sippschaftstafeln prüfe ich nach und habe sie auch schon mehrmals selbst aufgestellt.“
Ein anderer Quellentyp und besonderes Dokument aus dieser Zeit ist ein Grundsatzreferat, das die damalige Direktorin der Sozialen Frauenschule, die Psychologin und Pädagogin Charlotte Dietrich 1943 über die Aufgaben der Sozialarbeiterin – resp. der Volkspflegerin – im Rahmen des NS-Staates gehalten hat und das als Schulungsbrief publiziert worden ist. Der Text mit dem Titel ‚Die Volkspflegerin als Volkserzieherin. Schulungsbrief für die Volkspflegerinnen im öffentlichen Dienst‘ vermittelt einen konkreten Eindruck über theoretische Annahmen, Zielsetzungen und Methoden von Ausbildung und Praxis der Sozialen Arbeit im Nationalsozialismus. Themen sind auch hier die Aufgaben der Volkspflegerin im Bereich der Gesundheitsführung, „die Volkspflegerin muss hier sehr viel wissen, von den grundlegenden Aufgaben der Erb- und Rassenpflege mit all ihren Teilproblemen“.
Und letztendlich soll hier auch auf die Lehrpläne aus dieser Zeit als Quellendokumente verwiesen werden. Sie spiegeln nicht nur Inhalte, sondern auch Disziplinierungen und Ausgrenzungen wider. Margarete Sommer, seit 1927 Dozentin in für Wohlfahrtspflege, Volkswirtschaft und Rechtskunde an der Sozialen Frauenschule, wurde 1934 vom Leiter des Pestalozzi-Fröbel-Hauses, zu dem die Soziale Frauenschule gehörte, gezwungen, ihre Kündigung einzureichen. Sie hatte sich geweigert, das neue Sterilisationsgesetz zu unterrichten.
Welche Quellen sind besonders hervorzuheben?
Die Praktikumsberichte der Schülerinnen beeindrucken, erschüttern und überraschen in ihrer Gesamtheit mit ihren individuellen, professionsbezogenen wie zum Teil auch biografisch geprägten, auf jeden Fall die Zeitgeschichte spiegelnden Aussagen. Eindrückliches Beispiel ist hier der Umgang mit dem „aufgabenreichen Gebiet“ der ,Erb- und Rassenpflege‛ sowie dem ‚Sterilisationsgesetz‛ in den Gesundheitsämtern und weiteren Einrichtungen, der eine zentrale Aufgabe der Berufspraktikantinnen der Sozialen Frauenschule war, die darüber ihre Berichte verfassen mussten und so Rückschlüsse auf Körperpolitiken und reproduktive Rechte in der Zeit ermöglichen. Ein eindringliches Beispiel ist hier der Praxisbericht einer Schülerin aus dem Jahrgang 1940/42 der Sozialen Frauenschule. Sie schrieb über ihr Praktikum im staatlichen Gesundheitsamt Angermünde 1942: „Bedeutend mehr Arbeit fällt uns bei der Durchführung des ‚Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses‛ zu. Hier ist es einmal unsere wichtigste Aufgabe, bei der Aufklärung der Bevölkerung mitzuwirken. Gilt es doch in erster Linie, die sittlichen und religiösen Bedenken richtig zu stellen. Es wird größter Wert im Kreis darauf gelegt, das die Anträge auf Unfruchtbarmachung freiwillig gestellt werden. Zu 98% ist dies der Fall. Unsere Aufgabe besteht nun neben der Aufklärungsarbeit darin, alle nötigen Unterlagen […] zu beschaffen. Das ist oft nicht ganz einfach. […] Wichtig sind ferner die Hausbesuche, denn nur durch diese kann man einen gewissen Einblick in die Verhältnisse gewinnen. Im Kriege wird nun die Antragstellung auf Unfruchtbarmachung auf die dringendsten Fälle beschränkt.“
Die Schülerinnen waren im Rahmen ihrer Praktika an der Selektion von Menschen als Teil ihrer professionellen Tätigkeit unter dem Deckmantel des Schutzes von Nation, Ehe, Familie und Religion beteiligt. Hier Prozesse, Mechanismen, Unterstützungs- ebenso wie Ablehnungshandeln zu verdeutlichen, aufzuarbeiten und in einer reflexiven Perspektive zu sichern sowie die Rolle von Fürsorger*innen in der Umsetzung der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik auf der Grundlage solcher Dokumente nachzuvollziehen, ist ein weiterer wichtiger Baustein bei der Aufarbeitung einer professions- wie auch frauenbewegungsbezogenen Geschichte des Nationalsozialismus.
Wie sind diese Bestände erfasst und wo bestehen Forschungspotenziale?
Der Kernbestand des ASA ist zum großen Teil erschlossen und in einer elektronischen Datenbank erfasst. Erschlossen und zugänglich gemacht wurde ein Großteil der Biografie und des Werkes Alice Salomons, weiter sind hier auf der Basis der Archivalien grundlegende Beiträge zu den regionalen und internationalen Verflechtungen der Frauenbewegungen und zur Organisations- und Professionalisierungsgeschichte der Sozialen Arbeit entstanden. Im Rahmen von Digitalisierungsprojekten des DDF wurden die Akten der Sozialen Frauenschule und der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit zum Teil digitalisiert, zentrale Personen und institutionelle Schwerpunkte wurden in Form von Essays erarbeitet.
Die Machtergreifung der Nationalsozialisten und der damit einhergehende Monopolanspruch stellte die Frauenschulen vor große innere wie äußere Herausforderungen, die weiterhin vielfältige Forschungspotenziale für das ASA mit sich bringen. Nach dem Runderlass vom 27.1.1934 war es Aufgabe der Schulen „in ausgesprochen nationalsozialistischem Geiste zu arbeiten“ und „ausgesprochen nationalsozialistisch denkende und nationalsozialistisch fühlende Frauen für die Berufsarbeit in der Volkswohlfahrtspflege heranzubilden“. Im letzten und in diesem Jahr rückte der Zeitraum 1933 bis 1945 mit den Schwerpunkten jüdische Frauenbewegungsgeschichte bzw. die Bedeutung jüdischer Frauen beim Aufbau der Sozialen Arbeit, ihre Verdrängung im Zuge der Machtergreifung der Nationalsozialisten und die Rolle von (Mit-)Täterinnen in den Verfolgungsprozessen in einen spezifischen Fokus. Aktuell schließt sich das Thema nationale wie internationale Vernetzungen und Kooperationen der Sozialen Frauenschulen Deutschlands an.
Das Alice Salomon Archiv der Alice Salomon Hochschule Berlin (ASA) befindet sich seit 2001 in den historischen Räumen der 1908 von Alice Salomon gegründeten Sozialen Frauenschule in Berlin-Schöneberg und verfügt über Archivalien aus dem Zeitraum von 1893 bis 1971. Dazu zählen Materialien zu den Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit, zur Sozialen Frauenschule Berlin und ihren Ausbildungs-, Forschungs- und Nachfolgeeinrichtungen, wie die Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit. Das ASA ist Mitglied im i.d.a.-Dachverband.
- Sabine Toppe
- Digitales Deutsches Frauenarchiv
- CC BY 4.0