§ 218 in der Schweiz

In der Schweiz ist das Thema Schwangerschaftsabbruch in den letzten Jahrzehnten unter dem Begriff der Fristenregelung bekannt. Ein Überblick mit Fundstücken zur Schweizer Geschichte des Schwangerschaftsabbruch von Sibylle Dorn.

Die Fristenregelung bezieht sich auf die 1973 von einer vom Schweizer Bundesrat eingesetzten Expertenkommission gemachten drei Vorschläge zur Regelung der Abtreibung im Schweizer Strafgesetzbuch: zur chronologischen Geschichte des Schwangerschaftsabbruches in der Schweiz.

Die Frauenbefreiungsbewegung FBB trat in der Schweiz 1969 erstmals öffentlich auf. In der Zürcher FBB ist die frauenlesbenbibliothek, später schema f, entstanden. Die Bibliothek sammelte seit 1976 Bücher, Flugschriften, Plakate, Zeitschriften und vieles mehr, und wurde die größte Frauenbibliothek der Schweiz (13.000 Titel). 1999 verloren das Frauenzentrum Zürich und die Bibliothek die staatlichen Subventionen. Die Bibliothek wurde integral eingelagert, die umfangreiche Plakatsammlung und sämtliche Zeitschriften wurden dem Schweizerischen Sozialarchiv in Zürich übergeben.

2018 wurde der bücherraum f eröffnet, in dem auch die Bestände von schema f Platz gefunden haben. 

Fundstücke aus schema f

Ein frühes 6-seitiges Typoskript von 1975 beschreibt die damals bekannten Verhütungsmittel und Abtreibungsmethoden. Schön an dem Dokument ist die sichtbare Verbindung zum Zürcher Frauenzentrum mit der Adresse des ersten Standorts in Zürich an der Lavaterstraße 4. Das Haus dort wurde längst abgerissen, lebt aber in den Archivalien zur Zürcher FBB fort. Weiter findet sich auf dem Titelblatt der zweite Standort des Frauenzentrums an der Mattengasse. Und schließlich wird mit dem Barcode der Übergang ins digitale Zeitalter deutlich. Am Schluss des Typoskripts wird auf zwei weiterführende Publikationen verwiesen, beide sind auch im Bestand von schema f. Hexengeflüster. Frauen greifen zur Selbsthilfe (Signatur K 240:1) und Frauenhandbuch Nr. 1. Abtreibung und Verhütungsmittel (Signatur K 232).

„Information über Verhütungsmittel und Abtreibungsmittel“
Quelle
schema f, Signatur K 240:1
Typoskript 'Information über Verhütungsmittel und Abtreibungsmethoden' des FBB-Zürich, 1975
„Frauenhandbuch Nr. 1. Abtreibung und Verhütungsmittel“
Quelle
schema f, Signatur K 232
Frauenhandbuch Nr. 1. Abtreibung und Verhütungsmittel aus dem Bestand des schema f.

1973 wurde die Schweizerische Vereinigung für Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs (SVSS) gegründet. Mit eher bürgerlichen Frauen steht die SVSS  in der Tradition der Jahrzehnte dauernden Engagements für das Frauenstimmrecht in der Schweiz. Die SVSS wurde gegründet, um die 1971 lancierte Eidgenössische Volksinitiative für den straffreien Schwangerschaftsabbruch zu unterstützen. Der Verein löste sich 2003 nach der erfolgreichen Abstimmung 2002 auf, in der die Schweiz die Fristenregelung mit 72,2 Prozent der Stimmen angenommen hatte.

1977 erschien im Selbstverlag Weil Strafe niemandem nützt ... Auszüge aus der Literaturgeschichte der unerwünschten Schwangerschaft. Mit Karikaturen zum Thema. Idee und Realisation: Susi Berger und Margrit Graf. 

Die 132-seitige Broschüre versammelt Textauszüge von Frauen und Männern verschiedenster Herkunft; aus Oriana Fallacis Brief an ein nie geborenes Kind (1977) oder aus Anne Cuneos Dinge, bedeckt mit Schatten (1969, dt. 1975), einer bekannten Schweizer Autorin, bis hin zu Madeleine Kurts Babygeschrei ist nicht gleich Babygeschrei (1977), aus einem Manuskript der Werkstatt schreibender Frauen Bern.  

1998, über zwei Jahrzehnte später, erschien das von Bernadette Kurmann herausgegebene Buch der SVSS Schwangerschaftsabbruch. In Verantwortung entscheiden. Frauen berichten aus ihrer Erfahrung; der Kampf war noch nicht vorbei! Es berichten darin Frauen mit Jahrgang 1914 bis 1958.

„Weil Strafe niemandem nützt ...“, erschienen im Selbstverlag
Quelle
schema f
Cover Weil Strafe niemandem nützt…. Auszüge aus der ‘Literaturgeschichte der unerwünschten Schwangerschaft’.
Cover „In Verantwortung entscheiden“
Quelle
schema f
Cover Schwangerschaftsabbruch. In Verantwortung entscheiden. Frauen berichten aus ihrer Erfahrung

Fundstücke aus dem Schweizerischen Sozialarchiv

Das Schweizerische Sozialarchiv ist eine Fundgrube für Bild- und Tonmaterial zur Frauenbewegung in der Schweiz. Folgende Bilder werden mit freundlicher Genehmigung des Sozialarchivs präsentiert.

Gertrud Vogler (1936–2018) gehört zu den herausragenden Fotografinnen sozialer Bewegungen in der Schweiz. 2013 hat sie ihr Negativarchiv mit rund 250.000 Aufnahmen dem Schweizerischen Sozialarchiv überlassen, darunter zahlreiche Fotografien zur Zürcher und Schweizer ,Frauenszene'.

1. Mai 1977, Zürich, Demonstrationsumzug
Fotografin: Gertrud Vogler
Quelle
Schweizerisches Sozialarchiv / Signatur F 5107-Na-07-048-035
Lizenz
Rechteangabe
  • Fotografin: Gertrud Vogler
  • Schweizerisches Sozialarchiv / Signatur F 5107-Na-07-048-035
  • CC0
1. Mai 1977, Zürich, Demonstrationsumzug

 

Die Progressiven Organisationen der Schweiz (POCH) entstand aus der 68er-Bewegung und wurde als kommunistische Partei in der Schweiz gegründet. 1977 spalteten sich viele Frauengruppen von den POCH ab und gründeten im Anschluss an die Zürcher Frauenwoche die Organisation für die Sache der Frau (OFRA), eine der wichtigsten Frauenorganisationen der Schweiz. Wie auch die FBB betrachtete die OFRA die Unterdrückung der Frauen nicht als Nebenwiderspruch. Die OFRA gab die Zeitschrift Emanzipation heraus.

Transparent der POCH-Frauen, «Recht auf Abtreibung», o.J. (70er Jahre)
Quelle
Schweizerisches Sozialarchiv / Signatur F Oa-0034-01
Lizenz
Rechteangabe
  • Schweizerisches Sozialarchiv / Signatur F Oa-0034-01
  • CC0
Transparent der POCH-Frauen, „Recht auf Abtreibung“, o.J. (70er Jahre)

Die Fotografin Helga Leibundgut dokumentierte ab Mitte der 1970er Jahre die Berner Frauenbewegung, der sie als Mitglied der FBB nahestand.

Nationale Demonstration zum 8. März 1978, Fribourg
Fotografin: Helga Leibundgut
Quelle
Schweizerisches Sozialarchiv / Signatur F_5110-Fc-026
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  • Fotografin: Helga Leibundgut
  • Schweizerisches Sozialarchiv / Signatur F_5110-Fc-026
  • CC0
Nationale Demonstration zum 8. März 1978, Fribourg

Die SVSS hat in einer Pressemappe den internationalen Aktionstag 1979 dokumentiert, an dem sich auch in der Schweiz Feministinnen beteiligten. Weiterführende Informationen finden sich im Gosteli-Archiv, wie Frauen es liebevoll nennen. Die Gosteli-Stiftung führt mit dem Archiv zur Geschichte der Schweizerischen Frauenbewegung neben Archiven von Frauenorganisationen und Verbänden auch zahlreiche Privatarchive seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Seit 2021 wird das Archiv endlich von der öffentlichen Hand unterstützt und der Fortbestand ist somit gesichert.

Im Schweizerischen Sozialarchiv sind die Demonstrationen vom 8. März mit über 800 Fotografien über die ganze Schweiz hinweg dokumentiert, viele davon von Gertrud Vogler.

Das erste Foto zeigt Demonstrantinnen der 8. März-Demo in Luzern, mit Transparenten „Recht auf freie Entscheidung über unsern Körper – FBB/MLF“ und „Freie kostenlose Abtreibung für alle“.  MLF steht für Mouvement de libération des femmes, unter dieser Bezeichnung organisierten sich autonome Frauen in der Romandie (französische Schweiz).

Plakat zum Internationalen Aktionstag «Recht auf Abtreibung» am 31. März 1979 in Bern
Quelle
Schweizerisches Sozialarchiv / Signatur F Pb-0001-075
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  • Schweizerisches Sozialarchiv / Signatur F Pb-0001-075
  • CC0
Plakat zum Internationalen Aktionstag „Recht auf Abtreibung“ am 31. März 1979 in Bern.
 
 

Das zweite Foto stammt von einer 8. März-Demo in Zürich. Neben der Frau, die auf dem Bild ein Plakat mit der Aufschrift „Ich muss mir meine Abtreibung vom Psychiater bewilligen lassen“ am Rücken trägt, ist in der Foto-Sammlung eine andere Frau mit Plakat zu sehen: „Ich komme aus der Innerschweiz – ich darf nicht abtreiben.“ Dies spiegelt die unterschiedlichen Gesetze in den Schweizer Kantonen. Die Innerschweiz ist bekannt für ihre katholisch-konservative Haltung.

Frauendemo am 8. März 1980, Luzern,
Fotografin: Gertrud Vogler
Quelle
Schweizerisches Sozialarchiv / Signatur F_5107-Na-22-065-025
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  • Fotografin: Gertrud Vogler
  • Schweizerisches Sozialarchiv / Signatur F_5107-Na-22-065-025
  • CC0
Frauendemo am 8. März 1980, Luzern

 
Frauendemo am 8. März 1987, Zürich
Fotografin: Gertrud Vogler
Quelle
Schweizerisches Sozialarchiv / Signatur F_5107-Na-22-080-010
Lizenz
Rechteangabe
  • Fotografin: Gertrud Vogler
  • Schweizerisches Sozialarchiv / Signatur F_5107-Na-22-080-010
  • CC0
Frauendemo am 8. März 1987, Zürich

 

Zur Geschichte des Schwangerschaftsabbruchs in der Schweiz: 
Seit 2002 ist der straffreie Schwangerschaftsabbruch in den ersten 12 Wochen erlaubt.

(Der Text folgt der ausführlichen Dokumentation der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen, EKF, https://www.ekf.admin.ch/ekf/de/home/dokumentation/geschichte-der-gleichstellung--frauen-macht-geschichte/frauen-macht-geschichte-18482000.html, Kapitel 3.8 Schwangerschaftsabbruch und Kapitel 2.9 Schwangerschaftsabbruch 2001-2017)

Im 19. Jahrhundert findet in der Schweiz eine verstärkte Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruches statt: In verschiedenen kantonalen Strafgesetzbüchern wird er als Delikt verankert. Ende des 19. Jahrhunderts bemühen sich sozialistische Frauenorganisationen um eine Reform des Abtreibungsparagraphen.

1914 fordert der Schweizerische Arbeiterinnenverband die Straffreiheit des Abbruchs in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft.

1918 verfasst die Schweizer Regierung, der Bundesrat, eine ‚Botschaft’ zum Gesetzesentwurf mit einem Abtreibungsverbot.

1919 fordert „die in der Arbeiterbewegung und für die Frauen engagierte Ärztin Minna Tobler­ Christinger […] in der Zeitschrift ,Die Vorkämpferin' vom 1. April das Selbstbestimmungsrecht für Frauen bei der Geburtenkontrolle und den straflosen Schwangerschaftsabbruch.“ (Quelle: o.g. PDF)

1921–1937 beschäftigen sich parlamentarische Kommissionen mit dem Thema. 1929/31 findet dazu die erste große Parlamentsdebatte statt. Die konservativ-bürgerliche Mehrheit im Parlament setzt sich durch.

1938 wird das heute gültige Strafgesetzbuch im Parlament verabschiedet und nach einer zusätzlichen Volksabstimmung (Referendum) 1942 in Kraft gesetzt. Nun ist der Schwangerschaftsabbruch gesamtschweizerisch mit §§ 118-121 verboten, die Schweiz hat eine der restriktivsten Regelungen in ganz Europa.

In den folgenden Jahrzehnten war es ruhig um den Schwangerschaftsabbruch.

„Als im Zuge der neuen Frauenbewegung Französinnen und Deutsche öffentlich bekennen: ,Ich habe abgetrieben', kommt auch in der Schweiz die Diskussion in Gang. In Demonstrationen fordern die Frauen die Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs. Am 19. Juni 1971 lanciert ein überparteiliches Komitee – der SVSS – eine ,Volksinitiative für die Straflosigkeit der Schwangerschaftsunterbrechung'. Bereits anfangs Dezember wird das Volksbegehren mit 59 000 Unterschriften deponiert.“ (o.g. PDF)

In der Folge schlug 1973 eine Expertenkommission des Bundesrates drei Varianten vor: 1. die Indikatorenlösung, die Straffreiheit bei ernster Gefahr für Leben oder Gesundheit der Mutter vorschlug, 2. die Lösung mit sozialer Indikation und 3. die ,Fristenlösung', straffreier Abbruch in den ersten 12 Wochen der Schwangerschaft. Der Bundesrat unterstützt in der Folge 1974 die eingereichte Initiative ohne Gegenvorschlag, hingegen spricht sich 1975 die parlamentarische Kommission gegen die Initiative aus und unterstützt die ‚Fristenlösung’. Im Oktober 1975 riefen die Aktivistinnen der FBB einen nationalen Skandal hervor, als sie aus Protest gegen das Nichteintretensvotum des Nationalrats zum Thema Fristenlösung im Nationalratssaal nasse Windeln auf die Ratsherren warfen.

In der Folge lanciert der SVSS eine 2. Initiative und zieht die erste von 1971 zurück. 1976 wird die Initiative bei der Bundesverwaltung eingereicht.

1978 wird die Initiative zur ‚Fristenlösung’ an der Urne mit 68.8 Prozent der Stimmen abgelehnt.

1985 wird nach einem sehr heftigen Abstimmungskampf eine Abstimmung der Volksinitiative Recht auf Leben, die von Gegner:innen des Schwangerschaftsabbruchs eingereicht worden war, mit 69 Prozent abgelehnt. 

1993 wird im Parlament der nächste Vorstoss lanciert. Barbara Haering Binder (SP, Zürich) fordert – in Übereinstimmung mit mehreren Frauenorganisationen – am 29. April die Fristenlösung. Die Mühlen mahlen langsam: 1995 stimmt die grosse Kammer, der Nationalrat, der Initiative mit 91 zu 85 Stimmen zu. 1996 stimmt die Kommission dem Gesetzesentwurf zu. 1997 geht der Entwurf in die Vernehmlassung, auch bürgerliche Frauen der grossen Parteien und der Schweizerische Evangelische Kirchenbund sprechen sich für die Fristenlösung aus.

2001 spricht sich das Schweizer Parlament und 2002 das Volk mit 72 Prozent Ja für die ‚Fristenlösung’ für einen straffreien Schwangerschaftsabbruch in den ersten 12 Wochen aus. 

schema f  wurde 1976 als Frauenbibliothek im Züricher Frauenzentrum gegründet. 2018 gründet schema f zusammen mit der Politisch-philosophischen Bibliothek den bücherraum f, gemeinsam machen sie die Bücherschätze der Zürcher Frauenbewegung wieder zugänglich. schema f ist Mitglied im i.d.a.-Dachverband. 

Stand: 17. Mai 2021
Lizenz (Text)
Verfasst von
Sibylle Dorn

Mitarbeiterin bei schema f von 1989–1999 und Präsidentin des Frauenzentrums Zürich 1995–1997.

Empfohlene Zitierweise
Sibylle Dorn (2021): § 218 in der Schweiz, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/angebote/dossiers/218-und-die-frauenbewegung/218-in-der-schweiz
Zuletzt besucht am: 06.05.2024
Lizenz: CC BY 4.0
Rechteangabe
  • Sibylle Dorn
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