Über Silvia Bovenschen
Silvia Bovenschen wurde am 5. März 1946 im oberbayerischen Waakirchen geboren und wuchs in Frankfurt auf. Der Vater war Direktor einer Aktiengesellschaft, die Mutter ausgebildete Sängerin. Sie gab ihre potenzielle Karriere als Sängerin mit der Heirat und der Geburt des ersten Kindes, Silvias 15 Jahre älterem Bruder, auf.
Die Tochter wuchs bei „sehr freundliche(n) Eltern“1 als „behütetes Kind“2 auf, froh darüber, dass die Mutter nicht berufstätig ist. „Aber mir war immer klar: Das ist nicht mein Weg. (…) Aber da hat mir auch niemand einen Stein in den Weg gelegt. Ich konnte auch studieren, was ich wollte.“3
Gerade weil sie mit so viel Unterstützung aufwuchs, stieß die junge Literaturwissenschaftlerin mit Faible für die frivole Literatur einer Colette sich an den Einschränkungen, die die Gesellschaft insbesondere Frauen auferlegte.
„Es war unglaublich verspießert.“
„Wenn ich als junge Frau in ein Café allein gegangen bin, dann hielt man mich für eine Prostituierte. (…) Die Frauen mussten ihren Mann fragen, damit sie einen Beruf ergreifen dürfen, arbeiten gehen konnten. Man konnte als unverheiratetes Paar keine Wohnung mieten. (…) Das war unglaublich verspießert und stickig, und das brach alles auf. (…) Deshalb ist es ja auch in verschiedenen Ländern ganz unabhängig voneinander passiert. Sowohl diese Studentenbewegung, diese 68er-Bewegung wie sie in Deutschland hieß, als auch die Frauenbewegung.“4
„Es sprachen hauptsächlich Männer.“
Silvia Bovenschen studierte an der Frankfurter Universität Literaturwissenschaften, Soziologie und Philosophie. An der Universität kam die Adorno-Schülerin in Kontakt mit dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) und engagierte sich dort. „Aber auch da waren die Verhältnisse mehr oder weniger so, wie sie überall waren: Es sprachen hauptsächlich Männer, es meldeten sich ausschließlich Männer zu Wort. Was geschehen soll oder was nicht geschehen soll, das sagten die. (…) Man war in dieser Bewegung, die sich nun die Fortschrittlichkeit auf ihre Fahnen geschrieben hatte und die Aufhebung der Unterdrückungsverhältnisse und dann war es ja kein weiter Weg dahin festzustellen, dass in diesen Versammlungen und Aktionen die Frauen auch eine untergeordnete Rolle spielten.“5
Treffen ohne die „SDS-Häuptlinge“
Auf der 23. Delegiertenkonferenz des SDS in Frankfurt am 13. September 1968 hielt Helke Sander, die eine der Gründerinnen des Aktionsrates zur Befreiung der Frauen in Berlin gewesen war, eine wegweisende Rede. Sie forderte ihre Genossinnen auf, den „Klassenkampf auch in die Ehe zu tragen. Dabei übernimmt der Mann die objektive Rolle des Ausbeuters oder Klassenfeindes“.6 Als die Genossen Sanders Rede augenscheinlich ignorieren wollten, warf Sigrid Rüger die berühmte Tomate auf die Bühne, die dort den SDS-Wortführer Hans-Jürgen Krahl traf.
Silvia Bovenschen war auf der 23. Delegiertenkonferenz, bei der Sigrid Rüger die Tomaten warf, nicht dabei. Aber auch sie gehörte zu den Studentinnen, die gegen die Männer-Vormacht im SDS aufbegehrten. In der Folge des Tomatenwurfs initiierte sie, gemeinsam mit weiteren Studentinnen, den Frankfurter Weiberrat. Bald gründeten sich an anderen deutschen Universitäten weitere Weiberräte. Doch die Entscheidung der Frauen, sich unter sich zu treffen, „ohne dauernd die Einsprüche von irgendwelchen SDS-Häuptlingen fürchten zu müssen“7, wurde von den SDS-Männern torpediert.
„Kleinbürgerliche Schwänze, sozialistischer Bumszwang“
„Und dann haben wir das blaue Wunder erlebt. Unsere kleine Versammlung wurde regelrecht gestürmt. Einige der Herren fanden das unglaublich, dass wir die Frechheit hatten, uns da ohne sie zu versammeln.“8
Doch die Studentinnen ließen sich nicht einschüchtern und begehrten weiter gegen die Dominanz der SDS-Männer auf. Das galt sowohl für deren Wortführerschaft in den Versammlungen als auch für die selbstverständliche sexuelle Verfügbarkeit der Frauen, die als vermeintlich fortschrittliches Gegenmodell zur ‚bürgerlichen-spießigen‘ Sexualmoral verklärt wurde.
Bei der nächsten SDS-Delegiertenkonferenz im November 1968 verteilte der Weiberrat den Rechenschaftsbericht des Weiberrats der Gruppe Frankfurt: ein Flugblatt, auf dem eine nackte Frau mit einer Axt auf einem Diwan liegt. Über ihr, an der Wand als ‚Jagdtrophäen‘, sechs Penisse, unter denen die Namen von sechs „SDS-Häuptlingen“9 stehen. Dazu ein Text unter der Überschrift Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen! Und weiter: „Wir machen das Maul nicht auf! Wenn wir es doch aufmachen, kommt nichts raus! Wenn wir es auflassen, wird es uns gestopft: Mit kleinbürgerlichen Schwänzen, sozialistischem Bumszwang, sozialistischen Kindern, Liebe, sozialistischer Geworfenheit, Schwulst, sozialistischer potenter Geilheit, sozialistischem intellektuellem Pathos, sozialistischen Lebenshilfen, revolutionärem Gefummel, sexualrevolutionären Argumenten, gesamtgesellschaftlichem Orgasmus, sozialistischem Emanzipationsgeseich, Gelaber!“10
„Wir Frauen waren wütend!“
Silvia Bovenschen war eine der Verfasserinnen des Flugblatts und erklärt den Furor der Studentinnen: „Wir Frauen waren auch wütend! Ja? Denn als wir das dann machten mit diesem Weiberrat, da kriegten wir gesagt, dass das nicht ginge. Zunächst müsste der Hauptwiderspruch zwischen Arbeit und Kapital gelöst werden. Und das mit den Frauen sei allenfalls ein Nebenwiderspruch. Und dann kam noch die Psychoanalyse, der Penisneid und was weiß ich noch alles. Alles, was da gerade so im Schwange war, wurde auf uns eingeprügelt.“11
Bovenschen verließ den Frankfurter Weiberrat, auch aufgrund interner Konflikte. So übte ein Teil der Frauen scharfe Kritik an Bovenschen: „Da gab es dann einen Aufstand gegen Mona Steffen und mich und noch ein paar Frauen.“12 Die ‚Aufständischen‘ kritisierten, dass im Weiberrat nun „auch wieder nur bestimmte Frauen das große Wort“13 hätten und „die theoretischen Anführerinnen“14 seien. Sie erklärten, erinnert sich Bovenschen: „Wir wollen uns erstmal über unsere eigenen Erfahrungen verständigen.“15 An dieser Art „Selbsterfahrung“ war Silvia Bovenschen nicht interessiert und zog die Konsequenzen: „Ich bin an meinen Schreibtisch geflohen.“16
„Ich bin an meinen Schreibtisch geflohen.“
Zu dieser Flucht trug auch ihr Unbehagen über die Entwicklung des SDS bei. „Ich bin ja auch aus diesem SDS geflohen. Denn der hat sich dissoziiert in die RAF einerseits, das war meine Sache nun weiß Gott nicht, und diese Partei-Vorstellungen, Kader-Vorstellungen, maoistischen Vorstellungen andererseits. Und das war auch meine Sache nicht. Deswegen war es gewissermaßen eine doppelte Fluchtbewegung zu meinem Schreibtisch.“17
Silvia Bovenschen blieb als Dozentin für Literaturwissenschaften an der Frankfurter Goethe-Universität und schrieb für verschiedene Publikationen, unter anderem für die Schwarze Botin. Ihre Rolle – in der Frauenbewegung und in ihrem Leben – beschreibt Bovenschen, die mit Mitte 20 an Multipler Sklerose erkrankt war, so: Sie habe eine „Artistik“18 aus „bestimmten Gründen immer ganz gut beherrscht, nämlich: Man muss zugleich drinnen und draußen sein. Also, man muss das eine sehen, ohne das andere zu vernachlässigen. Man muss mit Widersprüchen, ja sogar Aporien auskommen können, muss das ertragen können. Ich hab das gelernt dadurch, dass ich krank war. Ich habe immer dazugehört, auch zur Frauenbewegung – und auch nicht. (…) Ich hab zu den Akademikern gehört – und auch nicht. Wegen meiner Krankheit wurde ich zum Beispiel nicht verbeamtet. Also, ich war dieses Drinnen und Draußen immer gewohnt.“19
Die Künstlerinnen-Ausstellung war ein Meilenstein
Im Zuge einer Sonderausgabe der Zeitschrift Frauen, Kunst, Kulturgeschichte für die Zeitschrift Ästhetik & Kommunikation, deren Redakteurin Bovenschen war, lernte sie die Malerin Sarah Schumann kennen, die ihre Lebensgefährtin wurde. So war Bovenschen flankierend beteiligt an der bahnbrechenden Ausstellung Künstlerinnen international 1877-1977, für die Schumann mit sechs weiteren Frauen im Charlottenburger Schloss Werke von fast 200 Künstlerinnen zusammentrug und präsentierte. Es war die erste Ausstellung in Deutschland, die ausschließlich Werke weiblicher Künstler zeigte und dabei sowohl frühere, einst bekannte und inzwischen vergessene Künstlerinnen wie Paula Modersohn-Becker oder Hannah Höch (wieder) ins Bewusstsein holte, als auch zeitgenössische Künstlerinnen präsentierte. Die Ausstellung war ein Meilenstein und wurde medial und im Kunstbetrieb breit wahrgenommen, allerdings auch heftig angefeindet.
„Was soll dieser Weiberkram?“
Silvia Bovenschen, die sich engagiert in die Auseinandersetzung einbrachte, sagt rückblickend: „Die öffentliche Meinung ging dahin, dass es sinnlos sei, einfach Kunst von Frauen auszustellen, nur weil es sich um Frauen handelt. Diese Frage kann man sich ja auch wirklich stellen. Die Empörung kam aber von zwei ganz unterschiedlichen Seiten. Die Fundamentalfeministinnen sagten: ‚Das ist doch die alte Kunstscheiße und alle Frauen sind Künstlerinnen!‘ Und dann stürmten sie rein und hängten Tampons auf und waren empört, dass überhaupt ausgewählt, selektiert worden war. Auf der anderen Seite hieß es höhnisch: ‚Was soll dieser Weiberkram!‘ Da war keine Ehrfurcht, auch nicht vor den Künstlerinnen, die bereits einen Namen hatten in der Kunstgeschichte oder der aktuellen Kunstszene. Dass Frauen wagten, so eine Ausstellung in dieser Fülle und Breite in diesem ehrwürdigen Schloss zu organisieren, empfand man als Frechheit.“20
Die imaginierte Weiblichkeit
1979 verfasste Silvia Bovenschen ihre Dissertation Die imaginierte Weiblichkeit. Darin beschäftigte sie sich mit dem Kontrast zwischen dem „imposanten Bilderreichtum, der uns in der Literatur, was die Frauengestalten betrifft, entgegenkommt, und der Tatsache, dass es ganz wenig Frauen nur gibt, die sich schriftstellerisch hervortun konnten“21.
Bovenschen interessierte die Geschichtlichkeit dieses Phänomens; perspektivisch forderte sie eine Geschichte der weiblichen Geschichtslosigkeit.22 Denn diese resultiere aus einem dreifachen Ausschluss, der systematisch untersucht werden müsse: erstens aus den geschichtsprägenden politischen und kulturellen Institutionen, zweitens – unter anderem aufgrund dieses ersten Ausschlusses – aus der historischen Überlieferung, was – drittens – noch nicht einmal bemerkt, geschweige denn diskutiert würde.23 Ihre These: Dieser Mangel an Stimmen realer Frauen ermögliche erst die phantasievollen aber realitätsarmen Schablonen der Weiblichkeit in der Kulturproduktion, die Bovenschen überwiegend als Männerphantasien über Weiblichkeit entlarvt. Frauen, die an der Kultur teilhaben wollten, kämen an diesen Projektionen ebenfalls nicht vorbei: „Ihr Kulturschicksal“, so formuliert sie es in Die imaginierte Weiblichkeit, „ist in der Geschichte vom Wettlauf zwischen Igel und Hase abgebildet. Der Igel – der vorgegebene Entwurf – ist immer schon da.“24
Die Ausbürgerung der Frauen aus der Realität
Bovenschen legte in ihrer stilistisch bestechenden Dissertation und ihrem Aufsatz zur Weiblichen Ästhetik, der bereits 1976 erschienen war25, das Fundament für eine neue Perspektive auf die deutsche Kulturgeschichte. Ihre Texte regten eine Auseinandersetzung mit den historischen Bedingungen an, unter denen sich für Frauen kulturelle Freiräume auftaten und wieder schlossen. Dabei interessierte Bovenschen sich besonders für die Mechanismen dieser wiederholten „Ausbürgerung aus der Realität“26 und der daraus ihrer Meinung nach resultierenden Geschichtslosigkeit von Frauen.
Mit Die imaginierte Weiblichkeit leistete sie einen materialreichen, sehr differenzierten Beitrag zur feministischen Debatte um Differenz und Gleichheit und der damit zusammenhängenden Frage nach einer spezifischen weiblichen Ästhetik und Geschichte.27
Mit ihren klugen Texten und ihrer Lehrtätigkeit prägte Bovenschen mehrere Generationen von Feministinnen und regte in zahlreichen kulturwissenschaftlichen Fächern Diskussionen und neue Forschungen an. Ihre Dissertation zählt nach wie vor zum Kanon feministischer Referenzliteratur.
Nach Beendigung ihrer Lehrtätigkeit in Frankfurt wurde sie als Autorin von Essays und Romanen in den folgenden Jahren mit mehreren Preisen ausgezeichnet, unter anderem dem Johann-Heinrich-Merck-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. 2003 zog sie nach Berlin, wo sie am 25. Oktober 2017 starb.
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Zitate von Silvia Bovenschen
Biografie von Silvia Bovenschen
Fußnoten
- 1 FMT, P12-Bove-01, Interview mit Silvia Bovenschen, Transkript, S. 5.
- 2 Ebenda.
- 3 Ebenda.
- 4 Ebenda.
- 5 Ebenda, S. 2.
- 6 Rede von Sander, Helke, Zugriff am 6.5.2022 unter https://frauenmediaturm.de/neue-frauenbewegung/rede-von-helke-sander/.
- 7 FMT, P12-Bove-01, Interview mit Silvia Bovenschen, Transkript, S. 2.
- 8 Ebenda, S. 2 f.
- 9 Ebenda, S. 4.
- 10 Flugblatt in: EMMA 3/18, S. 87, Zugriff am 6.5.2022 unter https://www.emma.de/lesesaal/62340#pages/87.
- 11 Bovenschen, a.a.O., S. 4.
- 12 Ebenda, S. 3.
- 13 Ebenda.
- 14 Ebenda.
- 15 Ebenda.
- 16 Ebenda.
- 17 Ebenda, S. 4.
- 18 Ebenda, S. 9.
- 19 Ebenda.
- 20 Melian, Michaela: Interview mit Sarah Schumann und Silvia Bovenschen, in: frieze, Ausgabe 9, April 2013, Zugriff am 6.5.2022 unter https://www.frieze.com/article/künstlerinnen-international.
- 21 Bovenschen, a.a.O., S. 6.
- 22 Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit, S. 15.
- 23 Ebenda.
- 24 Ebenda, S. 139.
- 25 Bovenschen, Über die Frage: gibt es eine weibliche Ästhetik?, in: Ästhetik und Kommunikation, Nr. 25, September, 7. Jg.,1976, S. 60‒76.
- 26 Bovenschen, Weiblichkeit, S. 264.
- 27 Ebenda, S. 60, S. 257‒265.
Ausgewählte Publikationen
-
Bovenschen, Silvia: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt am Main 1979.
-
Bovenschen, Silvia: Über die Frage: Gibt es eine weibliche Ästhetik, in: Ästhetik und Kommunikation Jg. 7, 1976, H. 25, S. 60–75.
-
Bovenschen, Silvia: Älter werden. Notizen, Frankfurt a. M. 2010.
-
Bovenschen, Silvia: Schlimmer machen – schlimmer lachen. Aufsätze und Streitschriften, Frankfurt a. M. 1998.
-
Bovenschen, Silvia: Über-Empfindlichkeit. Spielformen der Idiosynkrasie, Frankfurt a. M. 2000.