Über Cristina Perincioli
Cristina Perincioli wurde 1946 in Bern geboren. Der Vater war Bildhauer, die Mutter Kunsthandweberin. Sie ernährte mit ihrer Arbeit die Familie. Erste Einschränkungen aufgrund ihres Geschlechts wurden Cristina im Vergleich mit dem älteren Bruder deutlich, der nach Abschluss der Ausbildung weite Reisen machen durfte und diese auch finanziert bekam. „Und bei mir war’s: Ich kriegte kein Auto zum Verreisen, ich kriegte kein Geld zum Verreisen und ich kriegte verboten, mit dem Fahrrad meine Reisen zu machen oder mit Autostopp. Weil ich ja ein Mädchen bin. (...) Das war damals eben so. Ich durfte auch nicht allein in den Wald. Ich hab das alles trotzdem gemacht und bin dann schließlich von zu Hause abgehauen. Also, ich hab dann nicht mehr gefragt – ich war dann weg!“1
„Wie abfällig man da behandelt wurde!“
1968 ging Cristina nach West-Berlin, um an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Regie zu studieren. Sowohl im Studium als auch danach, als es um die Einwerbung von Fördergeldern geht, erfuhr sie als Filmemacherin massive Diskriminierung. „Ich hab da schreckliche Sachen erfahren. Also, wie (...) abfällig man behandelt wurde, wenn man vorstellig wurde.“2 Perincioli tat sich mit der Kamerafrau Gisela Tuchtenhagen zusammen, mit der sie mehrere Dokumentationen machte, zunächst über ‚linke‘ Themen wie eine Hausbesetzung. Sie selbst zählte sich zur anarchistischen ‚Sponti-Szene‘, die sie aber bald verließ. „Ich war bei den Anarchisten, hab dort so dies und das mitgemacht. Und ich für mich selber hab dann gesagt: Ich mag nicht in den Knast gehen für eine Sache, die eigentlich nicht meine ist, nämlich keine Frauensache. (…) Ich mach eigentlich an mir vorbei Dinge, von denen irgendwer gemeint hat: Das muss jetzt unbedingt sein. Da wurde sehr viel Symbolpolitik gemacht mit Angriffen auf irgendwelche Konsulate oder so Zeug, ja? (…) Das war für mich so ein Ding, wo ich sagte: Das ist eigentlich entfremdet.“3
1971: Der erste Frauenfilm
1971 machten Perincioli und Tuchtenhagen ihren ersten Frauenfilm: Für Frauen – 1. Kapitel.4 Darin schlugen sie den Bogen von der Unterdrückung der Frau in der Ehe - unter anderem durch die finanzielle Abhängigkeit vom Ehemann - zur Unterdrückung im Beruf durch Niedriglöhne und Diskriminierung. Erzählt wird die Geschichte eines Frauenstreiks in einem Supermarkt, die Perincioli und Tuchtenhagen gemeinsam mit realen Verkäuferinnen entwickelten, die sich im Film selbst spielen. Der Film gewann auf dem Oberhausener Kurzfilmfestival den 1. Preis der Filmjournalisten.
Das Projekt war das erste in einer Reihe von Filmen, mit denen Cristina Perincioli Themen der Frauenbewegung aufgriff und so in die Öffentlichkeit brachte.
Homosexualität nicht als Krankheit
Kurz zuvor, ausgelöst durch die Reform des § 175 im Jahr 1969 und die gesellschaftliche Liberalisierung, die das mit sich brachte, hatte Perincioli ihr Coming-out. Im Spiegel erschien eine Titelgeschichte zum § 175, der in jenem Jahr entschärft wurde und homosexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Männern erstmalig straffrei stellte. „Und da hab ich das erste Mal über das Thema gelesen, ohne dass es eine Krankheitsbeschreibung war. (…) Ich hab also gesehen: Man kann da ganz normal drüber schreiben und debattieren. Das war neu.“5
Ein Filmprojekt, das sie nun über homosexuelle Frauen realisieren wollte, scheiterte aber zunächst daran, dass sie trotz intensiver Recherche „in Berlin keine Lesben gefunden“6 hat, die bereit gewesen wären, sich Perincioli gegenüber oder gar öffentlich in einem Film zu ‚bekennen‘. Das änderte sich, als Rosa von Praunheim 1971 seinen Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt herausbrachte. „Der war besser vernetzt, die Jungs waren nicht so versteckt wie die Lesben. Und der hat uns dann geholfen.“7 Bei einer Filmaufführung des Praunheim-Films in der Berliner Akademie der Künste „sind wir dort auf die Bühne gestiegen und haben gesagt: ,Frauen, kommt her, wir machen auch was!‘ Und dann kamen sie auch alle. Im Nu waren hundert Lesben zusammengekommen“.8
‚Schwule‘ Frauen stoßen zur Frauenbewegung
1972 fand in West-Berlin das erste bundesweite Lesbenpfingsttreffen statt.9 Immer mehr homosexuelle Frauen, die sich zuvor in der Homosexuellen Aktion Westberlin (HAW) gemeinsam mit den homosexuellen Männern organisiert und sich als ‚schwule Frauen‘ verstanden hatten, fühlten sich nun eher der Frauenbewegung zugehörig: „Als Lesben haben wir jetzt unser Ding gemacht, wir haben jetzt unseren Ort. Aber wir werden ja schließlich hauptsächlich als Frauen unterdrückt. Und deswegen sollten wir eigentlich mit allen Frauen zusammen was machen! Ein guter Teil fand das auch, und dann haben wir eben das Frauenzentrum initiiert.“10 Das Berliner Frauenzentrum in der Hornstraße 2 war ab März 1973 täglich geöffnet.
1975 lief im ZDF der Spielfilm Anna und Edith, zu dem Cristina Perincioli gemeinsam mit ihrer Lebensgefährtin Cillie Rentmeister das Drehbuch geschrieben hatte. Der Film erzählt die Geschichte zweier Kolleginnen bei einer Versicherung, die über einen Arbeitskampf auch als Paar zueinander finden. Der Film, den das ZDF als seinen Beitrag zum UNO-Jahr der Frau bei Perincioli in Auftrag gegeben hatte, erregte beachtliches Aufsehen.
Cristina Perincioli widmete sich nun verstärkt dem Thema häusliche Gewalt. Sie besuchte in London das Frauenhaus, das die Sozialarbeiterin Erin Pizzey11 schon 1971 gegründet hatte, führte Interviews und berichtete in deutschen Medien über dieses Pionierinnen-Projekt. Als sie ihre Recherchen in Westberlin fortsetzte, stellte sie fest, wie verbreitet das Problem selbst in ihrer nächsten Umgebung war: „Also hab ich im Frauenzentrum gesagt: ‚Ich möchte gern recherchieren zum Thema häusliche Gewalt, kennt jemand Fälle?’ Ich dachte so an die Sozialarbeiterinnen, die da auch dabei waren. Da kamen dann fünf verschiedene Frauen auf mich zu und haben gesagt: ‚Ja, ich bin ein Opfer. Ich werde geschlagen!‘ (...) Und das war die Frau eines Kameramanns vom SFB, die Frau eines IBM-Direktors, die Frau eines Bühnenbeleuchters. Das sind jetzt gerade die drei, die mir einfallen. (...) Da waren wir in Gruppen und haben uns schon ewig gekannt – und ich habe das nicht erfahren gehabt! Die Frauen sprachen also bis zu dem Punkt nicht darüber. Auch im Frauenzentrum nicht. Das heißt, es war wirklich höchste Eisenbahn, dass wir das aus dem Tabubereich herausholen und öffentlich diskutieren.“12
„Schreien nützt nichts“
Perincioli wirkte mit bei dem Dokumentarfilm Schreien nützt nichts – Brutalität in der Ehe von Sarah Haffner, der am 26. April 1976 im TV lief. Im November 1976 wurde in Berlin das erste Frauenhaus Deutschlands eröffnet.
1977 gründete Cristina Perincioli ihre eigene Produktionsfirma Sphinx Productions. 1978 lief im ZDF ihr Film Die Macht der Männer ist die Geduld der Frauen13, den Perincioli mit Bewohnerinnen des Berliner Frauenhauses gedreht hat. Auch diesmal hatte sie die Frauen die Geschichte selbst entwickeln und spielen lassen. „International erfolgreich verstärkte der Spielfilm die Frauenhausbewegung in Deutschland, Australien, Kanada, USA, Schweiz, Österreich, Schweden und Indien.“14
2015 erschien Cristina Perinciolis Buch Berlin wird feministisch, in dem sie auf den Aufbruch der Frauen zurückblickt.15
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Zitate von Cristina Perincioli
Biografie von Cristina Perincioli
Fußnoten
- 1 FMT, P15-Peri-01, Christina Perincioli, Transkript, S. 1.
- 2 Ebenda, S. 2.
- 3 Ebenda, S. 5.
- 4 Perincioli, Cristina: Für Frauen – 1. Kapitel – Ein Film von Frauen für Frauen, Homepage, Filmarchiv, Zugriff am 12.11.2021 unter http://www.sphinxmedien.de/seiten/filmarchiv/fuerfrauen.html.
- 5 FMT, P15-Peri-01, Perincioli, Transkript, S. 3.
- 6 Ebenda.
- 7 Ebenda.
- 8 Ebenda, S. 4.
- 9 Heschling, Anne: Das Lesbenfrühlingstreffen. Von den Anfängen als internationales Pfingsttreffen 1972 zum Lesbenpfingtstreffen heute, in: Dennert, Gabriele et al. (Hg.): In Bewegung bleiben. 100 Jahre Politik, Kultur und Geschichte von Lesben, Berlin 2007, S. 241-243.
- 10 Ebenda.
- 11 Von Erin Pizzey erschien 1974 die deutsche Übersetzung ihres Buches Scream Quietly or the Neighbors Will Hear, 1971 unter dem Titel Schrei leise – Misshandlungen in der Familie über ihre Erfahrungen im Frauenhaus.
- 12 FMT, P15-Peri-01, Perincioli, Transkript, S. 10.
- 13 Perincioli, Cristina: Die Macht der Männer ist die Geduld der Frauen, Homepage, Filmarchiv, Zugriff am 12.11.2021 unter http://www.sphinxmedien.de/seiten/haus_gewalt/machtIdee.html.
- 14 Ebenda.
- 15 Perincioli, Cristina: Berlin wird feministisch. Das Beste, was von der 68er-Bewegung blieb, Berlin 2015.
Ausgewählte Publikationen
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Perincioli, Cristina: Berlin wird feministisch: das Beste, was von der 68er Bewegung blieb, Berlin 2015.
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Cristina Perincioli / Cillie Rentmeister: Computer und Kreativität. Ein Kompendium für Computer-Grafik, -Animation, -Musik und Video, Köln 1990.
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Cristina Perincioli: Die Frauen von Harrisburg oder "wir lassen uns die Angst nicht ausreden", Reinbek bei Hamburg 1980.
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Film: Striking my Eyes, Bern/Schweiz (1966)
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Film: Nixonbesuch und Hochschulkampf (Wochenschaugruppe) (1968)
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Film: Besetzung und Selbstverwaltung eines Studentenwohnheims (mit Gisela Tuchtenhagen) (1969)
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Film: Für Frauen 1. Kapitel, (Buch, Regie) Dokufiction (1971)
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Film: Kreuzberg gehört uns (Kamera) (1972)
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Film: Frauen hinter der Kamera (Co-Autorin) (1972)
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Film: Anna und Edith (Buch, zusammen mit Cäcilia Rentmeister), Spielfilm, ZDF (1975)
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Film: Die Macht der Männer ist die Geduld der Frauen (Buch, Regie, Produktion) Spielfilm/Dokufiction, ZDF (1978)
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Film: Population Explosion, KIMC Nairobi/Kenya (1985)
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Film: Mit den Waffen einer Frau (1986)
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Jutta Phillips, Marc Silberman: Wenn nicht andere ein bißchen Kraft rausziehen, ist der Film für den Papierkorb, in: Ästhetik und Kommunikation, 1979, H. 37, S.115‒127.
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Marc Silberman / Gretchen Elsner-Sommer: Two Interviews with Christina Perincioli, in: JUMP CUT. A REVIEW OF CONTEMPORARY MEDIA, February 1984, no. 29, S. 52–53.
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Cristina Perincioli, in: Julia Knight: Women and The New German Cinema, London 1992.
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Cristina Perincioli, in: Gwendolyn Ann Foster, Women Film Directors. An International Bio-Critical Dictionary. Westport/USA 1995, S. 305–306.
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Das Burlebübele mag i net, Dokumentarfilm über U. Sillge und C. Perincioli, Berlin 2008.