Über Rita ‚Tommy‘ Thomas
Ungebundenes Aufwachsen in Berlin-Weißensee
Rita Thomas wurde am 19. Oktober 1931 in Berlin-Weißensee geboren, wo sie aufwuchs und zur Schule ging. Sie war die Jüngste in der Familie und hatte eine Schwester und einen Bruder. Der Vater arbeitete als Autogenschweißer bei der Firma Krupp und hatte eine eigene Autowerkstatt, wo Rita sich oft aufhielt. Er ließ sich nach Kriegsende 1945 wegen einer anderen Frau scheiden und zog zu ihr in den Westsektor nach Berlin-Kreuzberg. Die Mutter musste die Kinder mit Aushilfsarbeiten alleine durchbringen und war oft abwesend. Rita Thomas berichtete, dass sie mit dem Schlüssel an einem Band um den Hals in die Wohnung kommen und gehen konnte, wann sie wollte. So führte sie gezwungenermaßen schon früh das ungebundene Leben, das sie bis zu ihrem Lebensende lebte. Spätestens ab dem 15. Lebensjahr nannte sich Rita Thomas ‚Tommy‘, wie zuvor schon der Vater und der Bruder genannt wurden. Trotz Verwunderung, Gespött und Anfeindungen in der Nachbarschaft und auf der Straße zog sie nur noch Hosen an. Später zeigte sie sich zusätzlich mit Elvis-Tolle, Krawatte/Binder und Trenchcoat als ‚Bubi‘, wie sich männlich gebende Frauen damals genannt wurden und selbst bezeichneten.
Hundefriseurin mit eigenem Salon
Selbstbestimmt und von eigenen Interessen geleitet war der berufliche Werdegang von Tommy. Seit ihrem 17. Lebensjahr verdiente sie ihr eigenes Geld auf vielfältige Weise, ohne dabei auf soziale Absicherung zu achten: Wegen einer Frau, die sie gut fand, arbeitete sie im Schaustellergewerbe und baute auf Rummelplätzen rund um Berlin Rundschaukeln auf. Danach war sie Aushilfe in einem Hundesalon in Berlin-Friedrichshain und machte eine Ausbildung zur Tierfriseurin. Obwohl in der DDR eine Bewilligung für einen privaten Betrieb nur schwer zu bekommen war, konnte sie sich durchsetzen und übernahm ab 1962 das Geschäft in Eigenregie. Nebenbei dressierte sie Hunde für Theater und Film und trainierte Tiere in der Schutzhunde-Staffel in Berlin-Buch, mit denen sie auch auf Hundeschauen ging. Im Zuge von Wende und Wiedervereinigung 1990 musste Tommy ihren Hundesalon aufgeben. Noch bis zu ihrem Tod 2018 pflegte sie die Tiere ihrer früheren Kund*innen und verdiente sich im Trödelhandel etwas zu ihrer spärlichen Rente hinzu.
Ungezwungenheit in der Liebe
Ihre Liebe zu Frauen hat Tommy immer offen ausgelebt. 1950 lernte sie die zwei Jahre jüngere Helli D. aus der Weißenseer Nachbarschaft kennen, die zu ihrer Lebenspartnerin wurde. Die beiden Frauen blieben zusammen bis zu Tommys Tod. In ihrer langen gemeinsamen Zeit waren sie nicht immer ein Paar und hatten andere Partner*innen.
Der Schrebergarten von Tommy in Berlin-Weißensee war ein wichtiger Rückzugsort, wo sie ihre Liebe ungestört ausleben konnten. In dieser Laube feierte das Paar gemeinsam auch Weihnachten. Zusammengezogen sind Tommy und Helli nie, sie wohnten in getrennten Wohnungen, die allerdings immer nahe beieinander lagen.
In den 1950er-Jahren gingen Tommy und Helli gemeinsam aus und genossen das Nachtleben. Eindeutige Lokale für Homosexuelle gab es nur im Westteil der Stadt. Meistens waren sie im Fürstenau in der Adalbertstraße 21 in Berlin-Kreuzberg. Die Lokalbesitzerin war Ida Fürstenau, und ab Mitte der 1950er-Jahre leitete eine Frau, die sich Rudi nannte, das Lokal. Zum Fürstenau im Hochparterre des Vorderhauses gelangte man von einer Durchfahrt aus. Es hatte einen direkten Zugang zu einem großen Tanzsaal im Hinterhaus, wo eine Tanzkapelle aufspielte. Das Lokal hatte Tage nur für Frauen, zu denen Tommy und Helli gingen. Mit dem Mauerbau und der Schließung der Grenzen war das nicht mehr möglich und auch alle Kontakte zu West-Berliner Frauen brachen ab. Den Bau der Mauer in den Morgenstunden von Samstag auf Sonntag, den 13. August 1961, haben Tommy und Helli direkt erlebt: Sie waren auf dem Heimweg vom Fürstenau und wollten über die Oberbaumbrücke Richtung Berlin-Friedrichshain. Ein West-Polizist warnte sie und riet zum Bleiben, doch beide wollten zurück in ihren Bezirk und Tommy zu ihren Hunden.
Schaffung und Aufrechterhaltung eines geschützten Freiraums
Nach dem Verlust der West-Berliner Ausgehszene und dem Wegfall von Treff- und Kennenlernmöglichkeiten stellte Tommy ihre eigene Wohnung als Treffpunkt zur Verfügung. Sie befand sich in der Thaerstraße 42 in Berlin-Friedrichshain im selben Haus wie ihr Hundesalon. Tommy baute einen Bartresen ein und räumte ein Zimmer zum Tanzen. Dank ihrer vielfältigen Tätigkeiten verfügte sie über ein großes Netzwerk ganz unterschiedlicher Menschen. Zu ihrem großen Kreis an Freund*innen und Bekannten gehörten Arbeiter*innen, Angestellte und Akademiker*innen, (Überlebens-)Künstler*innen und Selbstständige wie sie selbst, lesbische, schwule, bisexuelle, trans* und heterosexuelle Menschen und solche, die sich ihres Geschlechts/ihrer sexuellen Orientierung nicht sicher waren. Manche von ihnen, wie ein Zirkusakrobat aus Berlin-Köpenick, stellten ihre eigenen Wohnungen für Treffen zur Verfügung. Eine ganze Reihe von sogenannten ‚Partywohnungen‘ entstanden, in denen, je nach Motivation der Gastgeber*innen, auch kulturelle und politische Aspekte, beispielsweise Gründungen von Zusammenschlüssen, verhandelt wurden.
Für Tommy stand die Geselligkeit im Vordergrund, engeren Kontakt zu informellen Frauen- und Lesbengruppen der nichtstaatlichen Frauenbewegung in der DDR hatte sie nicht. Ihre Wohnung war für viele ein geschützter Freiraum, den sie anderswo nicht hatten. In Tommys Wohnung fanden Zusammenkünfte, Feiern und Parties in ganz unterschiedlichen Zusammensetzungen statt: gemischte Treffen mit vielen Gästen oder solche im ganz intimen Freund*innen-Kreis, bei denen nicht nur getanzt wurde. Ihre zahlreichen Fotos von den Zusammenkünften zeigen einen nur wenig bekannten privaten DDR-Alltag und sind rare Zeugnisse von Lebenswelten jenseits einer heteronormativen Norm.
Engagement in der Homosexuellen Interessengemeinschaft (HIB)
Im Laufe der 1970er-Jahre wurde Tommy aktives Mitglied der Homosexuellen Interessengemeinschaft Berlin (HIB). Die Gruppe hatte sich 1973 in Ost-Berlin als erster Zusammenschluss von größtenteils Schwulen und Lesben, aber auch Bisexuellen und Trans*Personen im ehemaligen Ostblock gegründet. Über die Gründungsaktivitäten der HIB war Tommy früh unterrichtet, da zu ihrem Netzwerk mit Peter Rausch und Michael Eggert auch Mitgründer der HIB gehörten. Zudem war Charlotte von Mahlsdorf (d.i. Lothar Berfelde, 1928–2002), die der HIB ihr Gründerzeitmuseum als Veranstaltungsort zur Verfügung stellte, ein häufiger Gast bei den Treffen in Tommys Wohnung.
Gemeinsame Ausflüge, Kino- und Theaterbesuche, aber auch Feiern, Diskussionsveranstaltungen oder Vorträge in Privatwohnungen waren wichtige Gruppenaktivitäten der HIB. Diese Aktivitäten hatten eine politische Dimension, zumal in der DDR offizielle Treffpunkte, Zeitschriften und Vereine für Lesben, Schwule oder Trans* verboten waren. 1975 und 1976 organisierte die HIB mehrtägige Pfingsttreffen mit aufwendigem Programm: Ausflüge, Workshops, gemeinsame Essen und Tanz, zu denen Gäste aus der ganzen DDR kamen. Tommy war weniger an politischen Diskussionen, sondern an konkreten Aktivitäten interessiert und engagierte sich bei den Veranstaltungen und den Ausflügen. Dabei übernahm Tommy eine nicht zu unterschätzende Vermittlerinnen-Funktion, in dem über sie viele Frauen aus ihrem Freund*innenkreis teilnahmen, die ansonsten nicht erreicht worden wären. Tommy war auch Mitglied im Kabarett der Gruppe, das sich Hibaré nannte. Jedes Kabarett-Programm wurde extra neu geschrieben und einstudiert, Kostüme entworfen und geschneidert. Tommy war die einzige Frau, die mit Nummern auftrat, übernahm allerdings immer nur Männerrollen.
Die HIB versuchte, einen offiziellen Status als emanzipatorisch wirkende Gemeinschaft zuerkannt zu bekommen. Eine ihrer Forderungen war ein Kommunikationszentrum als eigener Ort. Beide Anliegen wurden von den DDR-Behörden zwar nicht offiziell abgelehnt, aber immer wieder hinausgezögert. Das kam einem Verbot gleich, weshalb die Gruppe Ende 1979 ihre politischen Aktivitäten einstellte und 1980 beschloss, ihre Arbeit vorerst ruhen zu lassen. Tommy und ihre Freund*innen organisierten weiterhin Zusammenkünfte in ihrer Wohnung, die sie bis weit in die 1990er-Jahre fortsetzten. Ob diese Aktivitäten behördlich auffielen und überwacht wurden, muss noch erforscht werden.
Rita Thomas als Zeugin lesbisch-schwulen Lebens in (Ost-)Berlin
Rita Thomas hat keine eigenen Texte veröffentlicht, jedoch konnte 2017/2018 mit ihr zusammen ein Teil ihrer großen Fotosammlung digitalisiert werden – eine einzigartige Dokumentation lesbischen und schwulen Lebens in (Ost-)Berlin. Die Fotos sind im feministischen Archiv FFBIZ zugänglich. Tommy hat in ungewöhnlicher Offenheit auch zuvor Auskunft über ihr Leben gegeben. Christina Karstädt und Anette von Zitzewitz porträtierten sie 1992 in ihrem Dokumentarfilm ...viel zu viel verschwiegen über lesbische Frauen in der DDR und 1996 in der gleichnamigen Buchpublikation.1 2003 wurde sie von Maika Leffers und Karl-Heinz Steinle in der Ausstellung mittenmang. Homosexuelle Männer und Frauen in Berlin 1945-1969 im Schwulen Museum vorgestellt.22016 gab sie dem Archiv der anderen Erinnerungen der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld ein lebensgeschichtliches Interview.3 Nachdem sie noch im November 2018 anlässlich einer Veranstaltung zur Sichtbarkeit lesbischer Lebenswelten in Berlin aus ihrem Leben berichtet hatte, starb Tommy im Dezember 2018 überraschend nach einer Operation. Ihre Urne ist beigesetzt auf dem Friedhof der Auferstehungsgemeinde in Berlin-Weißensee .
Netzwerk von Rita ‚Tommy‘ Thomas
Biografie von Rita ‚Tommy‘ Thomas
Fußnoten
- 1 Karstädt, Christina / von Zitzewitz, Anette (Hg.): … viel zu viel verschwiegen. Eine historische Dokumentation von Lebensgeschichten lesbischer Frauen in der DDR, Berlin 1996.
- 2 Leffers, Maika / Steinle, Karl-Heinz, September 2003 (Pressetext), Zugriff am 5.10.2021 unter https://www.schwulesmuseum.de/ausstellung/mittenmang-homosexuelle-frauen-und-maenner-in-berlin-1945-1969/.
- 3 Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, Interview mit Rita Thomas, durchgeführt am 19. November 2016 in Berlin von Karl-Heinz Steinle, Babette Reicherdt und Katharina Rivilis, 0032/BMH/0032.
Ausgewählte Publikationen
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Karstädt, Christina / von Zitzewitz, Anette (Hg.): … viel zu viel verschwiegen. Eine historischeDokumentation von Lebensgeschichten lesbischer Frauen in der DDR, Berlin 1996.