Über Leni (Helene) Alexander
Geburt – Kindheit – Exil
Am 8. Juni 1924 kam Helene Alexander im Niederschlesischen Breslau (polnisch Wrocław) zur Welt. ‚Leni‘ Alexander war ungefähr drei Jahre alt, als ihre Eltern, Mutter Ilse Marie und Vater Max Alexander, mit ihr nach Hamburg zogen. Lenis Mutter war jüdischer Herkunft und unter ihrem Künstlernamen Ilse Pola eine angesehene Opernsängerin in Breslau. Auch wenn ihr Mann sie in Hamburg daran hinderte, diesen Beruf weiter auszuüben, förderte sie früh die musikalische Begabung ihrer Tochter. So begann Leni Alexander früh mit dem Klavierspiel.1
Nach ihrer Scheidung heiratete Leni Alexanders Mutter 1932 den jüdischen Anwalt Dr. Siegfried Urias. In Leni Alexanders Nachlass im Archiv Frau und Musik findet sich die Geburtsurkunde, die sie am 6. April 1939, rund fünf Monate nach der Reichspogromnacht, von der nationalsozialistischen Regierung ausgestellt bekam. Zwangsweise erhielt sie den jüdischen Vornamen Sara. Grundlage dafür war die ‚Zweite Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen‘, erlassen am 17. August 1938. Deutsche jüdischer Herkunft sollten so erkannt werden. Noch im selben Jahr gelang der Familie die Flucht, per Schiff erreichten sie von Holland ihr Exil in Santiago de Chile.2
Leni Alexander lebte sich schnell in der neuen Umgebung ein und lernte problemlos spanisch. Bald traf sie den deutschen Architekten Ernst Bodenhöfer, den sie mit 17 Jahren heiratete. Sie bekamen drei Kinder, Tochter Beatrice (1943) sowie die Söhne Andreas (1945) und Bastián (1961). In Chile erhielt Leni Alexander Unterricht am Klavier und Violoncello und vervollständigte ihre musikalische Grundausbildung durch Kontrapunkt- und Harmonielehrestudien bei Lucila Césped. Neben ihrer musikalischen Ausbildung studierte sie Psychologie und legte einen Abschluss in Montessori-Pädagogik ab.3 1949 begann sie ein vierjähriges Kompositionsstudium bei dem holländischen Komponisten und Schüler Anton Weberns, Fré Focke. Durch ihn erhielt Leni Alexander breite Repertoirekenntnisse, unter anderem von in Deutschland verbotenen Komponisten wie Alban Berg. In einem Gespräch mit Wolfgang Hamm erläutert Leni Alexander: „Den größten Einfluß hatte am Anfang Alban Berg. Der ‚Wozzeck‘ war vielleicht das erste Werk Neuer Musik, das ich durch meinen Lehrer Free [sic] Focke kennenlernte. Jahre hindurch war Berg sehr, sehr wichtig für mich.“4 Bereits während ihres Studiums komponierte Leni Alexander. Ihre erste Komposition stammt aus dem Jahr 1949 und trägt den Titel Sechs Lieder für Bariton und Klavier. Bereits in den frühen 1950er-Jahren wurden erste Kammermusik- und Orchesterwerke in Santiago de Chile uraufgeführt. In ihren Studienjahren wirkte sie bei neun Uraufführungen ihrer Werke mit.
1953 lernte Leni Alexander Pierre Boulez in Chile kennen. Von ihren Partituren war er derart begeistert, dass er ihr vorschlug, zu seinem Lehrer Olivier Messiaen zu gehen, um fortan von diesem im Fach Komposition unterrichtet zu werden. 1954 erhielt Alexander ein Stipendium des französischen Staates und studierte unter anderem bei René Leibowitz und Olivier Messiaen in Paris.5
Zwischen Chile, Europa und der Welt
Bereits 1955 verließ Leni Alexander Paris wieder, um nach Italien zu gehen. Über den Komponisten Luigi Nono lernte Alexander dessen Lehrer Bruno Maderna kennen, bei dem sie im Anschluss an ihren Frankreichaufenthalt einige Monate studierte. Zurück in Chile begann sie privaten Kompositionsunterricht sowie Kurse über zeitgenössische europäische und nordamerikanische Musik am Musikinstitut der Universidad de Chile zu geben. Dort standen die Möglichkeiten der graphischen Notation von Musik auf ihrem Lehrplan. Im Archiv Frau und Musik liegt die aus dem Jahr 1971 stammende Komposition Maramoh, ein eindrückliches Beispiel für graphische Notation. Ebenfalls 1955 wurde Alexander Mitglied der chilenischen Komponistenvereinigung (Asociación Nacional de Compositores), deren Vorstandsmitglied sie später wurde.6
Obwohl sie bis in das Jahr 1969 an der Universidad de Chile unterrichtete, zog es Leni Alexander immer wieder nach Europa, in die USA und andere Länder Lateinamerikas. Bei ihrem ersten Besuch in Köln im Jahr 1960 wurde ihre Kantate From Death to Morning uraufgeführt. Das Werk war als chilenischer Beitrag zum Weltmusikfest der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) komponiert worden. 1967 reiste sie auf Einladung der Casa de las Americas, ein kubanisches Kulturinstitut, nach Kuba, um ihre Kompositionen vorzustellen. Briefe aus ihrem Nachlass zeigen, dass der Kontakt nach Kuba noch lange Zeit anhielt. In Kuba lernte Leni Alexander den Gitarristen Leo Brouwer kennen, mit dem sie von da an in freundschaftlichem Austausch stand.
Frankreich und zweite Exilerfahrung
1969 erhielt Leni Alexander ein Guggenheim-Stipendium und zog mit ihrem jüngsten Sohn Bastián nach Paris. 1970 komponierte sie das Werk Par quoi? á quoi? pour quoi? für Mezzosporan, neun Instrumente, Kinderstimmen und elektronische Klänge, welches ein Jahr später in Paris uraufgeführt wurde. Dieses Werk zeigt sehr deutlich, wie sehr Alltagseindrücke, Erfahrungen und Empfindungen Einzug in ihre Kompositionen erhalten haben. Im Gespräch mit Wolfgang Hamm schildert Leni Alexander ihr Entsetzen über den repressiven Umgang an französischen Schulen. Ihr Sohn Bastián hatte mit dieser Schulform große Probleme.7 Als Alexander einen Kompositionsauftrag von domaine musical erhielt, entschied sie sich, ein Stück über dieses Thema zu schreiben. Leni Alexander begann sich mit Alltagsdialogen zu beschäftigen: „[Ich] habe mich in Cafés gesetzt und mir die Dialoge angehört, wie Leute um mich herum so sprechen.“8 Aus ihrer beruflichen Erfahrung mit Kindern lernte sie, wie Kinder sich unterhalten. „Und wie sich ein Gespräch entwickelt.“9 Für das Werk ließ sie Stimmen von Kindern aufzeichnen, die Fragen an die Lehrkraft richten. Die Lehrkraft vollendet die Wortfetzen, um so einen Dialog zu schaffen.
Leni Alexanders zweiter Aufenthalt in Paris wurde im Jahr 1973 zu einer erneuten Exilsituation, als ihre Tochter Beatrice und ihr älterer Sohn Andreas als politisch Verfolgte des Militärputsches in Chile nach Frankreich emigrierten. Daraufhin vertiefte sie ihr politisches Engagement, arbeitete für Amnesty International und andere Solidaritätsorganisationen, die sich mit der Situation in Chile beschäftigen.10
Zwischen Europa und Lateinamerika
Neben ihrer kompositorischen und pädagogischen Arbeit produzierte Leni Alexander immer wieder Radiosendungen. Dazu gehörten Sendungen, die auf Sprache basierten, aber auch Formate des Radiotheaters; hierbei wurden Radiosendungen mit Musik kombiniert. Bereits in Chile waren einige Sendungen, die sie im Auftrag des Goethe-Instituts produziert hatte, entstanden. Ab 1974 arbeitete Alexander als freie Mitarbeiterin für Radio France. In dieser Zeit war sie auch an der Aufführung eigener Werke im Rahmen verschiedener Konzertreihen von Radio France beteiligt.
In den 1980er-Jahren mündete Leni Alexanders Rundfunk-Fokus in eine enge Zusammenarbeit mit dem Westdeutschen Rundfunk. In ihren Beiträgen stellte sie oftmals die Musik Lateinamerikas und insbesondere chilenische Protestlieder vor. Darunter waren Sendungen wie Was liest man heutzutage in Chile?, Schöpferisches Chile oder Chile - jetzt ohne Angst? Sie beschäftigte sich aber auch mit Siegmund Freuds Beziehung zur Musik, wie das sich im Nachlass befindende Manuskript der Sendung Musik die Freud nicht hörte, zeigt. Korrespondenzen, Verträge und Programmhefte dokumentieren, dass Leni Alexanders Sendungen und Hörspiele auch bei anderen Rundfunkanstalten in Deutschland, wie Radio Bremen, dem Bayerischen Rundfunk oder auch dem Deutschlandfunk, zur Ausstrahlung kamen.
Außerdem nahm Leni Alexander weiterhin an Konzerttourneen teil. So berichtet die Komponistin und Oboistin Cathy Milliken von einer Konzertreise des Ensemble Modern in den 1980er-Jahren nach Argentinien. Während dieser Tournee traf das Ensemble Leni Alexander,11 es führte ihr Werk Los Disparates (1980) am 7. Dezember 1984 beim Kölner Festival ‚Experimentierfeld: Frauen-Musik‘ auf.
Chile und Europa
1986 zog es Leni Alexander nach 17 Jahren in Frankreich nach Chile zurück. Trotz ihres Lebensmittelpunkts nun in Chile ging Leni Alexander auch in dieser Phase jährlich auf Europareise. Allein in den Jahren 1987 bis 1994 produzierte sie zehn Sendungen für deutsche Rundfunksender.12
In den letzten Jahrzehnten ihres Lebens beschäftigte sich Leni Alexander zunehmend mit ihrer jüdischen Identität, welche untrennbar mit ihren Erfahrungen von Emigration und Exil verknüpft war. Dazu zählt das 1989 für den Westdeutschen Rundfunk produzierte Hörspiel Das Leben ist kürzer als ein Wintertag. Dort setzt Leni Alexander sich mit jüdischen Autoren wie Gershom Scholem oder Elie Wiesel sowie ihren eigenen Erfahrungen während des Nationalsozialismus und der Pinochet-Diktatur auseinander.
Leni Alexander starb am 7. August 2005 im Alter von 83 Jahren in Chile. Beerdigt wurde sie auf dem jüdischen Friedhof in Santiago. Am 1. August 2013 wurde ein Großteil ihres Nachlasses an das Archiv Frau und Musik in Frankfurt übergeben. Bereits Ende 1980er-Jahre gaben ihre Kinder über 50 Kompositionen an die Bibliotheca Nacional in Santiago de Chile.
Zitate von Leni (Helene) Alexander
Biografie von Leni (Helene) Alexander
Fußnoten
- 1 Frankenbach, Bettina, 20.2.2009: Leni Alexander, in: Borchard, Beatrix (Hg.): Musikvermittlung und Genderforschung: Lexikon und multimediale Präsentationen, Zugriff am 15.03.2021 unter https://mugi.hfmt-hamburg.de/old/A_lexartikel/lexartikel.php%3Fid=alex1924.html.
- 2 Ebenda.
- 3 Hamm, Wolfgang: Portrait der Komponistin Leni Alexander, in: Neuland. Ansätze zur Musik der Gegenwart. Jb., Bd. 4., Bergisch-Gladbach 1984, S. 133.
- 4 Ebenda.
- 5 Ebenda.
- 6 Frankenbach, Bettina, 29.3.2017: Leni Alexander, in: Maurer Zenk, Claudia und Petersen, Peter: Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit, Zugriff am 1.10.2020 unter https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00001603.
- 7 Hamm: Portrait der Komponistin Leni Alexander, S.134.
- 8 Ebenda.
- 9 Ebenda.
- 10 Frankenbach: Leni Alexander.
- 11 Milliken, Cathy: E-Mail an Autor vom 22.1.2020.
- 12 Frankenbach, Bettina, 20.2.2009: Leni Alexander, in: Borchard, Beatrix (Hg.): Musikvermittlung und Genderforschung: Lexikon und multimediale Präsentationen, Zugriff am 15.03.2021 unter https://mugi.hfmt-hamburg.de/old/A_lexartikel/lexartikel.php%3Fid=alex1924.html.
Ausgewählte Publikationen
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Hamm, Wolfgang: „Portrait der Komponistin Leni Alexander“, in: Neuland. Ansätze zur Musik der Gegenwart. Jb., Bd. 4. Bergisch-Gladbach 1984. S.133-138.
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Wojak, Irmtrud: „Leni Alexander“, in: Eisenbürger, Gert (Hg.): Lebenswege. 15 Biographien zwischen Europa und Lateinamerika, Hamburg 1995. S. 139-146.
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Sperber, Roswitha: „Auf der Suche nach Identität. Komponistinnen und die Frauenbewegung“, in: Sperber, Roswitha (Hg.): Komponistinnen in Deutschland, Bonn 1996. S. 85-86.
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Bustos Valderrama, Raquel: „Alexander Pollak, Leni”, in: Diccionario de la Música Española e Hispanoamericana, Madrid 1999. S. 257-258.
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Frankenbach, Bettina: „Leni Alexander“, in: Arbeitsgruppe Exilmusik am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Hamburg (Hg.). (= Musik im „Dritten Reich“ und im Exil, Bd. 8, Hanns-Werner Heister und Peter Petersen (Hg.)): Lebenswege von Musikerinnen im „Dritten Reich“ und im Exil, Hamburg 2000. S. 342-361.
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Fénélon, Philippe: „Desorganisierter Schicksalslauf. Letzte Gespräche mit Leni“, in: MusikTexte, H. 107, Nov. 2005, S. 35-37.
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Frankenbach, Bettina: „Die Erinnerungen wach halten. Zu Leni Alexanders Lebensweg und Werk“, in: MusikTexte, H. 107, Nov. 2005, S. 37-38.
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Hamm, Wolfgang: „,Das Leben ist kürzer als ein Wintertag’. Zum Tod der Komponistin Leni Alexander“, in: MusikTexte, H. 107, Nov. 2005, S. 33-34.
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Koch, Hans W: „Intensität. Erinnerung an Leni Alexander“, in: MusikTexte, H. 107, Nov. 2005, S. 39.
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Linke, Ulrich: „Musik gegen das Leid – Musik für eine menschenwürdige Welt. Anmerkungen zum Œuvre Leni Alexanders“, in: MusikTexte, H. 107, Nov. 2005, S. 39-46.
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Frankenbach, Bettina: Das Leben ist kürzer als ein Wintertag – oder Par Quoi? – A Quoi – Pour Quoi? Ein Hörspiel der Komponistin Leni Alexander, Magisterarbeit Universität Hamburg, unveröffentlichtes Manuskript, Hamburg 2005.
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Frankenbach, Bettina, 29.03.2017, Leni Alexander, in: Maurer Zenk, Claudia und Petersen, Peter, Lexikon verfolgter Mu-siker und Musikerinnen der NS-Zeit, Zugriff am 01.10.2020.