Über Erika Riemer-Noltenius
In Bremen löst der Name Dr. Erika Riemer-Noltenius noch immer ein geteiltes Echo aus. Da ist zum einen die Achtung vor ihrem Wirken, ihrem steten Einsatz für Frauenbelange, auch weit über Bremen hinaus. Gleichsam aber fällt mit ihrem Lebenswerk, dem Beginenhof, ein finanzielles Debakel zusammen, was vielen noch präsent ist und Kopfschütteln, sogar Wut darüber hervorruft, dass viele Frauen immense finanzielle Verluste erleiden mussten. Doch ihr großes Engagement als Frauenlobbyisten wirkt versöhnlich. Denn nicht nur der Bau des Beginenhofes geht auf sie zurück, viele weitere Initiativen, Engagements und Projekte tragen ihre Handschrift.
„Männer sind etwas ganz Normales, Frauen etwas Besonderes, weil sie Leben weitergeben und weil sie flexibler und vielseitiger sind …“.1
Unter dieser Maxime, welche die Frauen in ihrer Familie über Generationen prägte, wurde Erika Noltenius am 15. November 1939 in Kiel als zweites Kind in die namhafte Bremer Familie Noltenius hineingeboren. Ihr Vater, Friedrich August, starb früh, 1940, im Zweiten Weltkrieg während des Frankreichfeldzuges. Fortan erlebte Erika Noltenius ihre Mutter als eine Frau, die Ausbildung, Promotion, Arbeit und die Versorgung der Familie allein bewerkstelligte, selbstständig sein wollte, die Protektion der Familie ausschlug. An vielen Orten lebte die Familie, die nun aus Erika, der Mutter, der Großmutter und dem 1938 geborenen Bruder Peter bestand, so zum Beispiel in Kiel, Würzburg, Schonderfeld und letztlich in Bremen, wo ihre Mutter eine kinderärztliche Praxis eröffnete und die Familie hier nach vielen Ortswechseln endlich ein festes Zuhause fand.
Start in die Freiheit – Studienjahre und Promotion
Die Schulzeit erlebte Erika Noltenius als eine Art Freiheitsberaubung, sie schwänzte den Unterricht und lernte schlecht. Dennoch schaffte sie es bis zum Abitur, das sie 1959 ablegte. Die Mutter hatte darauf bestanden, egal, wie lange ihre Tochter dafür brauchen sollte. Auch ein Studium galt der Mutter als selbstverständlich, Erika Noltenius fügte sich: Sie begann 1960 in Hamburg Französisch und Geschichte zu studieren. Bereits hier schloss sie sich der EFP an, der Europäischen Föderalistischen Partei. Weitere politische und soziale Engagements sollten folgen. Nach Hamburg schlossen sich Studienjahre in Paris und Berlin an, in Wien promovierte sie 1968 mit einem Stipendium zum Thema Die Entwicklung zur Unabhängigkeit von British Guyana zur Dr. rer. pol. im Fach Politikwissenschaften. Das Privileg der steten finanziellen Unterstützung und der weitreichenden Kontakte der Familie ermöglichte es Erika Noltenius, die Studienjahre komfortabel und unbeschwert zu verbringen. Ganz im Gegensatz zu manchen anderen Studienkolleginnen.
Die Karriere beginnt – Zeit in der Handelskammer Bremen
Der Onkel väterlicherseits, Jules Eberhard Noltenius, Senator in Bremen, ermöglichte Erika Noltenius 1968 den Berufseinstieg als Referentin für Außenwirtschaft in der Handelskammer Bremen, deren erster Syndikus er war. Sie war die erste Frau auf diesem Posten. Ihre Tätigkeit führte sie nach Brüssel und zu den deutsch-amerikanischen Handelskammern in den USA, wo sie jeweils ein halbes Jahr in Chicago und New York verbrachte. Als Personalratsvorsitzende erstritt sie gleiche Löhne für gleichwertige Tätigkeiten von Männern und Frauen, errang viele soziale Fortschritte – und eckte damit an. Doch 1976 kündigte sie: „Als ich feststellte, dass meine Putzfrau netto mehr verdiente als ich, dachte ich: ‚Was soll der Quatsch‘ und hörte auf zu arbeiten“2. Was hier so emanzipiert erscheint, war wohl nur durch die Tatsache möglich, dass die Rente ihres Mannes für beide reichen würde. Bereits hier endet im Wesentlichen das Kapitel Erwerbsarbeit, nach nur acht Jahren.
Ehe, Reisen und Neubeginn an der Universität Bremen
Ihren Ehemann Rudolf (Rudi) Riemer lernte Erika Noltenius bereits als Jugendliche beim Tennis kennen, einem Hobby, dem die ganze Familie leidenschaftlich nachging und das Riemer-Noltenius bis kurz vor Lebensende pflegte. 1974 heiratete sie den 28 Jahre älteren Betriebsarzt, eine glückliche Zeit des Reisens durch Europa und die USA begann. Die Ehe währte allerdings nur acht Jahre. 1982 starb Riemer an Lungenkrebs. Erika Riemer-Noltenius fand den Weg zurück an die Universität und schrieb sich im Studiengang Erwachsenenpädagogik/Weiterbildung ein. Zeitgleich fand dort die Bremer Frauenwoche statt; hier kam sie mit Feministinnen in Kontakt und ihr wurde bewusst, dass ihr bisheriges Wirken in eher klassischen Rollenmodellen stattgefunden hatte: „Eigentlich wurde ich überzeugt …dann erkannte ich, dass ich meist eine Alibifrau gewesen war, ein hübsches Aushängeschild [während der Zeit ihrer Tätigkeit in der Handelskammer Bremen, Anm. der Autorin]“3. Als Reaktion darauf begann sie, sich tiefergehend mit feministischen Theorien zu befassen, hörte Vorträge und nahm in Neuseeland an einer internationalen Frauenkonferenz teil. Hier prägte sich ihr zukünftiges Beschäftigungsfeld aus und bildete somit den Startschuss zu ihrem lebenslangen Engagement als Frauenlobbyistin. Das Studium ließ sie auslaufen, lebte weiter von der Witwenrente ihres verstorbenen Mannes.
„Umschwenken in Richtung Frauenpolitik“4– Deutscher Akademikerinnenbund (DAB) und Bremer Frauenausschuss
Schnell nahm die frauenpolitische Karriere von Erika Riemer-Noltenius Fahrt auf. Bereits seit 1968 Mitglied im DAB, die Mutter hatte auch hierauf bestanden, wurde Erika 1985 in den Vorstand gewählt. Im gleichen Jahr folgte die Wahl in den Vorstand des Bremer Frauenausschusses, andernorts als Landesfrauenrat bekannt, in dem etwa 40 Verbände organisiert sind. Zwölf Jahre lang wirkte sie im Vorstand, von 1991 bis 1997 als erste Vorsitzende. Hier gewann sie weiter an Profil, galt als zielstrebig, kämpferisch, motivierend, streitbar und unermüdlich im Engagement für frauenpolitische Belange.
Der 50. Geburtstag – Frauenräume gesucht! – Der Bremer Frauenclub e.V.
1988 nahm Riemer-Noltenius sich vor, einen „Frauenclub“ zu gründen,
um ihren 50. Geburtstag nach dem Vorbild der englischen Herrenclubs in eigenen Räumen zu feiern. Die Sparkasse Bremen leistete die Anschubhilfe, indem sie Räumlichkeiten zur Verfügung stellte.120 Frauen erschienen zum Gründungstreffen. Der Club, damals ein Novum, existiert auch heute noch. Nach wie vor bildet er einen Treffpunkt für Frauen, die sich zum Ziel gesetzt haben, die Lebensqualität von Frauen durch kulturelle Angebote und Unternehmungen zu erhöhen.
Bei den Mitfrauen des Frauenclubs hinterließ Erika Riemer-Noltenius nachhaltig Eindruck: „Erika war besonders, einzigartig! Ich kann auch heute noch nicht über sie sprechen, ohne in Tränen auszubrechen“5, erinnert sich eine Mitstreiterin aus dem Bremer Frauenclub. Streitbar sei sie gewesen, ideenreich und mitreißend, übersprudelnd vor Energie.
Der Traum von einer Frauenuniversität – Der Förderverein Virginia Woolf Frauenuniversität e.V.
1993 widmete sich Riemer-Noltenius einem neuen Projekt: der Gründung einer Frauenuniversität nach Vorbild der bereits in den USA bestehenden Colleges. Ziel war es, den Anteil von Frauen im Wissenschaftsbetrieb zu erhöhen und damit einen Beitrag zur Gleichberechtigung zu leisten. Zwar war sie nicht Urheberin dieser Idee, entdeckte dieses Projekt jedoch für sich. Drei erfolgreiche Tagungen veranstaltete der Förderverein, bis 1998 das Interesse der Mitfrauen erlosch und Erika Riemer-Noltenius ihn 2001 schweren Herzens auflösen musste.
Von jetzt an – Politik! – Bremer Frauenliste (BFL)
Insgesamt gesehen, waren also die 90er-Jahre für ihr frauenpolitisches Engagement äußerst produktive Jahre. So kandidierte sie 1994 auch als parteilose Frauenrechtlerin mit der Bremer Frauenliste zur Bundestagswahl, da sie Frauen unterproportional in der Politik vertreten sah. 1995 ließ sie sich als Direktkandidatin zur Bürgerschaftswahl in Bremen aufstellen und war für die Medien eine begehrte und rhetorisch versierte Gesprächspartnerin. Zwar scheiterte sie beide Male an der 5 %-Hürde, doch sorgte allein schon der Name Noltenius für Aufmerksamkeit.
Ein Ort für Frauen: gegen Einsamkeit und Isolation – Der Bremer Beginenhof Modell e.V.
Die Renaissance der Beginenbewegung in den 90ern inspirierte Erika Riemer-Noltenius zu der Idee, eine Lebens-, Arbeits- und Wohngemeinschaft für Frauen ins Leben zu rufen: einen Beginenhof. Im Rahmen des UN-Projektes für nachhaltiges Handeln, der Agenda 21, stellte sie ihr Projekt in Bremen vor und gewann begeisterte Interessentinnen und Unterstützung aus der Politik.1997 gründete sie zusammen mit Elke Schmidt-Prestin einen Verein, 1998 wurde daraus eine Genossenschaft. Bald fand sich ein Grundstück, die Bauarbeiten begannen kurz darauf. 1999 wurde das Projekt als Beitrag zur EXPO 2000 anerkannt. 2001 stand ein Gebäudekomplex mit 85 Wohnungen und Gewerbeflächen in der Bremer Neustadt, von der UNO-Habitat Scroll of Honour ausgezeichnet, die Genossenschaft geriet jedoch in die Insolvenz, nachdem von der EU bereits zugesagte Fördermittel des Landes Bremen verweigert wurden. Daraufhin verloren viele Frauen ihre Geldeinlagen. Erika Riemer-Noltenius haftete mit ihrem Vermögen und musste infolgedessen ihr Elternhaus verkaufen.
Die Feministische Partei Die Frauen
Im Jahr 2002 nahm Erika Riemer-Noltenius ihr parteipolitisches Engagement wieder auf und etablierte einen Landesverband der Feministischen Partei in Bremen. Sie akquirierte 500 Unterschriften, schaffte es auf die Wahlliste und wurde schließlich in den Bundesvorstand gewählt. Unaufhörlich engagierte sie sich, veröffentlichte 2006 das Feministische Manifest, das ohne Änderungen der Partei tausendfach als Flugblatt verteilt wurde und als eines ihrer Vermächtnisse anzusehen ist.
Die 2000er-Jahre
In den 2000ern kritisierte Erika die weltweite Finanzordnung, das Zins-und Zinseszins-System und setzte sich für das Bedingungslose Grundeinkommen und für regionale Währungs- und Tauschsysteme ein.
Sie wurde Bundessprecherin der Feministischen Partei Die Frauen, Mitglied bei Attac und verfasste Statements zum Thema Feministische Ökonomie. Sie gründete etliche weitere Beginenvereine, unterstützte Gründungen in ganz Deutschland und erkundete Möglichkeiten der Reformierung des Bundeswahlgesetzes zugunsten von Frauen, um nur einige ihrer Aktivitäten zu nennen.
Eine Zäsur bedeutete zu dieser Zeit eine Anklage wegen Insolvenzverschleppung infolge der Beginenhof-Pleite. Zwar wurde sie freigesprochen, doch das finanzielle Desaster lastete massiv auf ihr. Bereits schwer erkrankt, wurde sie 2009 vom Bremer Frauenausschuss im Rahmen eines Festaktes im Bremer Rathaus zur ‚Bremerin des Jahres‘ gewählt. Dass diese Auszeichnung gerade an sie, die Umstrittene, ging, rief auch Kritik hervor, wenn auch verhaltene.
Knapp drei Monate später erlag sie einer Krebserkrankung. Sie starb am 13. Juni 2009 als Begine, begleitet von Beginen, in ihrem Beginenhof. So hatte sie es sich gewünscht.
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Zitate von Erika Riemer-Noltenius
Biografie von Erika Riemer-Noltenius
Ausgewählte Publikationen
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Schattauer, Christa: Biographie von Erika Riemer-Noltenius, o. O. 2008.