Zur Arbeit der Sexualberatungsstellen in der Weimarer Republik
„Öffentliche Präventivmittelstellen, Pessarkliniken schießen in allen Groß- und Mittelstädten wie Pilze aus der Erde. Als Ramschleistung gleichsam wie im Warenhausbetrieb werden, Schutzmittel an Frauen und Mädchen, ja Virgines verabfolgt. Ist das noch als ärztliche Tätigkeit zu bezeichnen?“1
Diese Polemik stammt vom prominenten Mediziner Ludwig Fraenkel, seit 1921 Professor für Gynäkologie an der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität Breslau, zu den in der Weimarer Republik entstandenen Sexualberatungsstellen. Ausgelöst und vorangetrieben durch die Sexualreformbewegung gegen Ende des Deutschen Kaiserreichs, als erste Verbände und Vereine gegründet wurden, die sich den Kampf gegen wilhelminische Sittenstrenge und Lustfeindlichkeit auf die Fahnen geschrieben hatten, nahmen mehr und mehr Sexualberatungsstellen ihre Arbeit auf. Bis 1932 wurden über vierhundert gezählt, davon rund vierzig in Berlin. Weitere Zentren waren Hamburg und Bremen, das Ruhrgebiet, Frankfurt am Main, Dresden und Leipzig. Im süddeutschen Raum gab es durch die Dominanz der katholischen Kirche wenige Sexualberatungsstellen.2 Ihr wichtigstes Anliegen: Empfängnisschutz im Sinne einer bewussten Geburtenregelung und damit zugleich Prävention gegen Abtreibungen, die nach § 218 StGB verboten waren und mit Zuchthaus und Gefängnis geahndet wurden.3 Für Mädchen und Frauen aus Arbeiterfamilien gehörten diese Themen zum ,normalen‘ Alltag, waren sie doch der meist rücksichtslosen männlichen Triebbefriedigung ausgeliefert – ob in der Ehe oder (erschreckend weit verbreitet) in abhängigen Arbeitsverhältnissen. Ärztinnen insbesondere aus dem Umfeld der Sexualreformbewegung und linken Parteien sahen in den Beratungsstellen wirkungsvolle Möglichkeiten, dem Unwissen in Sachen Empfängnisschutz durch Aufklärung entgegenzuwirken und kostenlos Verhütungsmittel auszugeben. Gerade in den Inflationsjahren ab 1920 und später nach der Weltwirtschaftskrise 1929 mit der rasant steigenden Massenarbeitslosigkeit gab es im Portemonnaie für derartigen ,Luxus‘ noch weniger finanzielle Reserven als ohnehin.
Erinnerungen von Zeitzeuginnen
Auf der Suche nach konkreten Beschreibungen der sozialen Hintergründe weiblicher Ratsuchender, über die in der zeitgenössischen Literatur nur vereinzelt ‚Fälle‘ zu finden sind, lernte ich ehemalige SPD- und KPD-Aktivistinnen kennen (vor allem aus Berlin und Hamburg), geboren zwischen 1897 und 1915. Einige von ihnen waren bereits gewohnt, Interviews zu geben. Denn im Zuge der aus den USA adaptierten neuen geschichtswissenschaftlichen Methode der Oral History, die in der historischen Frauenforschung auf begeisterte Resonanz stieß, sprachen sich Adressen auskunftsbereiter Zeitzeuginnen rasch herum. Und ständig kamen weitere hinzu. Was die von mir zwischen 1985 und 1987 im Rahmen meiner Dissertation Interviewten charakterisiert und für die heutige Forschung eine Quelle von seltenem Wert darstellt: offen, facettenreich und realitätsnah berichten sie über ihre Erfahrungen im proletarischen Milieu, in dem sie meist selbst auch aufwuchsen und später oft beruflich tätig waren, beispielsweise Thea A., Jahrgang 1898. Als Fürsorgerin4 in Hamburger Elendsbezirken hatte sie intimste Einblicke in die ‚Sexualnot‘ proletarischer Lebensverhältnisse gewonnen. An der Stimme und Sprechweise der damals 87-Jährigen ist zu spüren, wie bestürzend die von betroffenen Frauen mitgeteilten Details zum (häufig erzwungenen) ehelichen Geschlechtsverkehrs auf sie gewirkt haben.
Aggressives männliches Gehabe und körperliche Gewalt waren typisch in Arbeiterfamilien (doch nicht allein dort), wobei sexuelle Übergriffe keineswegs nur nachts in den Wohnungen vorkamen.5
Auch mit Männern fanden Beratungsgespräche statt, in der Regel jedoch ohne nennenswerten Erfolg.
Als lauerte noch immer die Gefahr der Denunziation vor der Tür, sprachen manche meiner Gesprächspartnerinnen auffallend leise, flüsterten sogar, sobald von Vergewaltigungen die Rede war, wobei sich dieser Begriff einzig und allein auf derartige Misshandlungen außerhalb der Ehe bezog, was noch jahrzehntelange so bleiben sollte. Vergewaltigt worden zu sein, galt als ‚Schande‘, darüber wurde, wenn überhaupt, nur mit engsten Vertrauenspersonen gesprochen. Das erlebte auch die frühere Siemens-Arbeiterin Gerda P., Jahrgang 1905. In ihrer Kindheit hatte sie unfreiwillig mitbekommen, was zwischen dem „Dienstherrn“, für den ihre Eltern als „Hauswarte“ tätig waren, und dem angestellten „Dienstmädchen“ vorgefallen war.6
Nicht in jeder sexuellen Begegnung ging es rüde zu, wurde der Beischlaf zur Qual. Weibliche Lust interessierte allerdings kaum, fungierte doch der weibliche Körper aus männlicher Sicht primär als Sexualobjekt. Das bestätigt auch Hertha S., Jahrgang 1915 im Rückblick auf das Liebesleben mit ihrem Ehemann. In ihrer resoluten Art, gewürzt mit norddeutschem Humor, gerät die Hamburgerin lautstark in Rage über die geschlechtsspezifischen Ungleichheiten, insbesondere bezüglich Kinderbetreuung, gipfelnd in ihrer Empörung über das von Männern fabrizierte Abtreibungsverbot.7
Etliche andere Probleme, die das Geschlechterverhältnis belasteten und in den Erinnerungen eine Rolle spielen, ließen sich hier auflisten, etwa der Kummer vieler Arbeiterfrauen über den Alkoholismus ihrer Männer, die den Lohn gleich nach der Auszahlung am Monatsende in der Kneipe vertranken. Um die Familie ,durchzubringen‘, wie es allgemein hieß, trugen Frauen daher frühmorgens Zeitungen und Brötchen aus oder gingen putzen – neben ihren kräftezehrenden Haushaltspflichten und der Versorgung ihrer Kinderschar.
Seit 2022 stehen die auf Audiokassetten aufgenommenen 20 Zeitzeuginnen-Gespräche8 und 335 Seiten Transkriptionen im Archiv der deutschen Frauenbewegung (AddF) für Recherchen zur Verfügung – erhalten in bester Tonqualität. Beim Hören und zusätzlichen Lesen des umfangreichen Transkriptserschließen sich mannigfaltige Zugänge zur Arbeit der Sexualberatungsstellen und ihres gesellschaftlichen Kontextes. Das macht die Spezifik der Originaltöne aus. Außerdem: Wer hat schon solche Schätze fast vierzig Jahre lang aufbewahrt?
Praktische Hilfe: Sexualaufklärung und Verhütungsberatung
Für die Beratungsstellen gab es eine Menge zu tun: So mangelte es nicht nur am Wissen um Empfängnisschutz. Die Notwendigkeit, stets Kondome zu benutzen, die berühmten ,Fromms Act‘, wurde oft nicht sonderlich ernst genommen. Umfassende Aufklärungsarbeit war darum zu leisten, wobei aus heutiger Sicht unvorstellbar erscheint, wie stark nahezu alle Sexualfragen tabuisiert waren, auch das Thema Menstruation.
Lukrative Geschäfte witternd, pries die Pharmaindustrie ein buntes Sammelsurium aus Tabletten, Zäpfchen, Pulvern und Salben als Empfängnisschutz an, gekrönt von jener „Frauendusche“ namens „Optimax“9 , welche versprach, bei mehrmaliger Wiederholung direkt nach dem Koitus den männlichen Samen komplett „wegzuspülen“. In den Beratungsstellen wurden in erster Linie Präservative empfohlen. Doch auch diese ,Überzieher‘ garantierten keinen verlässlichen Schutz. Ein erster Lichtblick tat sich gegen Ende der Weimarer Republik auf, als das Pessar auf den Markt kam, auch ,Portio-Kappe‘ genannt, die über die Gebärmutter zu stülpen war. Breite Akzeptanz fand die Novität allerdings nicht. Viele empfanden die Handhabung als wenig praktikabel und lästig, auch Gerda P., die bei einem Vortrag von dieser neuen Errungenschaft erfahren hatte.
Eine bittere Konsequenz des Verhütungsdilemmas: Abtreibungen bei Kurpfuschern und „Engelmacherinnen“.10 Oder riskante Selbstabtreibungen.
Manchmal ging es auch gut. Beispielsweise beim Griff zur ,Mutterspritze‘, mit der Hertha S. mehrfach Glück hatte, was aber natürlich keine Dauerlösung war.11 Vor dem Hintergrund dieser alarmierenden Zustände mit zigtausenden irreversiblen Gesundheitsschäden und Todesfolgen verfasste die Ärztin Dr. Martha Ruben-Wolf, Inhaberin einer eigenen gynäkologischen Praxis in Berlin, 1929 eine Schrift mit dem programmatischen Titel: Abtreibung oder Verhütung?12 – ein Leitfaden für die Arbeit der Sexualberatungsstellen und Ergänzung zum Aufklärungsklassiker Bub und Mädel. Gespräche unter Kameraden über die Geschlechterfrage, 1924 von Max Hodann verfasst. Der Arzt und Sexualpädagoge hielt deutschlandweit Vorträge und war wegen seiner lockeren Art unter proletarischen Jugendlichen extrem beliebt.13
Aus ihrer Tätigkeit in einer Düsseldorfer Buchhandlung ergänzt Clara Sch., Jahrgang 1903, dass das Interesse an Publikationen wie jenen von Ruben-Wolf und Hodann sehr groß war – nicht zuletzt dank der Aufklärung in den Sexualberatungsstellen.
Die Zerstörung der Sexualberatungsstellen 1933
Die nationalsozialistische Machtübernahme bedeutete das abrupte Aus für die Sexualberatungsstellen. Einrichtungen wurden verwüstet, zerstört, Patientinnen-Karteien konfisziert, Verhütungsmittel geraubt. Die politisch missliebigen und vielfach jüdischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wurden verfolgt, in Konzentrationslager verschleppt. Einigen gelang es, noch rechtzeitig zu emigrieren, unter ihnen Dr. Charlotte Wolff14, Dr. Lilly Ehrenfried15 und Dr. Käthe Frankenthall16. Anknüpfend an die vorhandenen Biografien wäre es lohnenswert, ihre Lebens- und Berufswege in der Fremde neu nachzuzeichnen und unter Einbeziehung jüngster Forschungen über weitere Sexualreformerinnen zu aktualisieren.17
- von Soden, Kristine
- Digitales Deutsches Frauenarchiv
- CC BY-SA 4.0
Fußnoten
- 1 Fraenkel, Ludwig: Einführungsreferat zur 22. Versammlung der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie vom 27.–30. Mai 1930 in Frankfurt am Main, in: Archiv für Gynäkologie, 144. Band, Berlin 1931, S. 308.
- 2 Ausführlich hierzu Soden, Kristine von: Die Sexualberatungsstellen der Weimarer Republik, Berlin 1988.
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3
Vgl. Dr. phil. Kristine von Soden (2021): Unter dem Druck der Öffentlichkeit, abgerufen am 08.08.2024 unter https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/angebote/dossiers/218-und-die-frauenbewegung/unter-dem-druck-der-oeffentlichkeit.
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4
Vgl. Zeller, Susanne: Volksmütter. Frauen im Wohlfahrtswesen der zwanziger Jahre, Düsseldorf 1987.
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5
Vgl. Interview mit Thea A., AddF, Kassel, Sign.: ST-49 ; 1-3.
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6
Vgl. Interview mit Gerda P., AddF, Kassel, Sign.: ST-49 ; 1-12.
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7
Vgl. Interview mit Hertha S., AddF, Kassel, Sign.: ST-49 ; 1-18.
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8
AddF, Kassel, Sign.: ST-49 ; 1.
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9
Vgl. dazu die Abbildung in: von Soden, Kristine: Die Sexualberatungsstellen, S. 134.
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10
Vgl. dies.: „Hilft uns denn niemand?“ Zum Kampf gegen die § 218, in: von Soden, Kristine / Schmidt, Maruta (Hg.): Neue Frauen. Die zwanziger Jahre, Berlin 1988, S. 103–11.
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11
Vgl. Interview mit Hertha S., AddF, Kassel, Sign. ST-49 ; 1-18.
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12
Ruben-Wolf, Martha: Abtreibung oder Verhütung? Berlin 1929, 6. Auflage 1931.
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13
Vgl. Interview mit Thea A., AddF, Kassel, Sign.: ST-49 ; 1-3 und Interview mit Klara S., AddF, Kassel, Sign.: ST-49 ; 1-16.
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14
Vgl. Wolff, Charlotte: Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit, Berlin 1984.
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15
Vgl. Ehrenfried, Lilly: Aus meinem Leben. Unveröffentlichte Memoiren, zitiert in: Christian Pross und Rolf Winau (Hg.): Nicht mißhandeln! Das Krankenhaus Moabit: 1920–1933. Ein Zentrum jüdischer Ärzte in Berlin, Berlin 1988.
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16
Vgl. Käthe Frankenthal. Der dreifache Fluch: Jüdin, Intellektuelle, Sozialistin. Lebenserinnerungen einer Ärztin in Deutschland und im Exil, Frankfurt/New York 1981.
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17
Vgl. hierzu allgemein Grossmann, Atina: „Neue Frauen im Exil“. Deutsche Ärztinnen und Emigration, in: Kirsten Heinsohn/Stefanie Schüler-Springorum; Deutsch-jüdische Geschichte als Geschlechtergeschichte. Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 133–156. Zum tragischen Freitod von Martha Ruben-Wolf 1939 im Moskauer Exil vgl. Schmidt, Birgit: Sexualreformerin Martha Ruben-Wolf. „Die Augen muss man sich aus dem Kopf schämen“, in: jungle.world, 28. Juli 2019, S. 8–11.
Ausgewählte Publikationen
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Grossmann, Atina / Bridenthal, Renate / Kaplan, Marion: When Biology became Destiny. Women in Weimar and Nazi-Germany, New York 1984.
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Grossmann, Atina: Reforming Sex: The German Movement for Birth Control and Abortion Reform, 1920-1950, New York 1995.
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Soden, Kristine von: Die Sexualberatungsstellen der Weimarer Republik. 1919-1933, Berlin 1988.
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Soden, Kristine von: „§218 streichen – nicht ändern!“ Abtreibung und Geburtenregelung in der Weimarer Republik, in: Unter anderen Umständen. Geschichte der Abtreibung. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Deutschen Hygiene-Museum Dresden (1. Juli-31. Dezember 1993), Berlin 1993.
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Usborne, Cornelie: Frauenkörper – Volkskörper. Geburtenkontrolle und Bevölkerungspolitik in der Weimarer Republik, Münster 1944.